Der gute Werner von Oberwesel - oder die hohe Kunst, einen Heiligen zu erschaffen

Matthias Schmandt (Bingen am Rhein)

Werner von Oberwesel, Gemälde eines unbekannten Künstlers, 1711, Original im Jüdischen Museum Berlin.

1. Zwei mittelalterliche „Heiligenschicksale“ vom Mittelrhein

Im­mer wie­der fragt man sich, wie­so die hei­li­ge Hil­de­gard von Bin­gen (1098-1179), die jüngst von Papst Be­ne­dikt XVI. (Pon­ti­fi­kat 2005-2013) als erst vier­te Frau der Ge­schich­te über­haupt zur Kir­chen­leh­re­rin er­ho­ben wor­den ist, nach ih­rem Tod über Jahr­hun­der­te hin­weg zu­nächst so weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten konn­te. Aus Sicht des Lan­des­his­to­ri­kers in­des ist die­se „Ver­spä­tun­g“ er­klär­bar: Es lag si­cher nicht (nur) an ihr, son­dern vor al­len Din­gen an Hil­de­gards Um- und Nach­welt, dass der rhei­ni­schen Pro­phe­tin die höchs­te An­er­ken­nung aus Rom so lan­ge ver­wehrt ge­blie­ben ist. Denn auch für Hei­li­ge gilt, dass sie nur so po­pu­lär wer­den kön­nen, wie ihr Ruf von den Nach­le­ben­den ver­brei­tet wird. Le­be hei­lig­mä­ßig, sieh’ aber zu, dass die nächs­te Ge­ne­ra­ti­on auch aus­rei­chend dar­über re­det – so lie­ße sich et­was über­spitzt ei­ne An­lei­tung zum Hei­lig­wer­den for­mu­lie­ren. Hil­de­gard war die­ses Glück nicht ver­gönnt. Zwar hat sie selbst in ih­ren letz­ten Le­bens­jah­ren äu­ßerst ge­schickt an ih­rem Nach­bild ge­ar­bei­tet. Nach ih­rem Tod aber hat­te man in Hil­de­gards Um­feld of­fen­sicht­lich kein ge­stei­ger­tes In­ter­es­se mehr an ei­nem neu­en Hei­li­gen­kult. Als im Jahr 1233 zwei Main­zer Prä­la­ten auf den Ru­perts­berg ka­men, um Zeu­gen­aus­sa­gen für den schlie­ß­lich nur müh­sam in Gang ge­ra­te­nen, letzt­lich aber doch er­folg­lo­sen Ka­no­ni­sa­ti­ons­pro­zess auf­zu­neh­men, frag­ten sie die Non­nen, war­um man in jüngs­ter Zeit so rein gar nichts mehr von Wun­dern am Grab der gro­ße Äb­tis­sin hö­re. Ant­wort der Schwes­tern: Als der Herr nach ih­rem Tod so vie­le Wun­der zeig­te und der Zu­strom der Leu­te zu ih­rem Grab so groß wur­de, da wur­den Kult und Got­tes­dienst durch den Lärm der Leu­te so sehr ge­stört, dass [wir] es dem Herrn Erz­bi­schof be­rich­te­ten. Des­halb kam er per­sön­lich zu dem Ort und be­fahl ihr, mit den Zei­chen auf­zu­hö­ren.[1]

Hei­li­ge wer­den al­so ge­macht – oder eben auch nicht. Dass letz­te­res zu­nächst auf Hil­de­gard zu­traf, je­ne eli­tä­re, un­be­que­me, zu­dem kaum ver­ständ­li­che Pro­phe­tin mit ge­rin­ger Aus­sicht auf ho­he Po­pu­la­ri­täts­wer­te, ist im Grun­de nicht wei­ter ver­wun­der­lich.

Ein völ­lig ent­ge­gen ge­setz­tes mit­tel­al­ter­li­ches „Hei­li­gen­schick­sal“ in­des lässt sich nur we­ni­ge Ki­lo­me­ter rhein­ab­wärts von Hil­de­gards Wir­kungs­stät­te stu­die­ren: Die Ge­schich­te der Kul­tent­ste­hung um den so­ge­nann­ten „gu­ten Wer­ner“ von Ober­we­sel (oder Ba­cha­rach) ist ge­ra­de­zu das Pa­ra­de­ex­em­pel da­für, wie im 13. Jahr­hun­dert am Mit­tel­rhein ein Hei­li­ger ganz ge­zielt kre­iert wer­den konn­te – ein Hei­li­ger zu­mal, der, an­ders als Hil­de­gard, kei­ner­lei be­son­de­ren per­sön­li­che Ver­diens­te auf­zu­wei­sen hat­te, son­dern als be­dau­erns­wer­tes Ver­bre­chens­op­fer le­dig­lich Ge­gen­stand ei­ner durch­aus un­hei­li­gen, aber sehr er­folg­rei­chen In­sze­nie­rung durch in­ter­es­sier­te Zeit­ge­nos­sen wur­de.

2. Ein angeblicher „Ritualmord“

Als im April 1287, wohl im Wald des ab­ge­le­ge­nen Winds­bach­tals bei Ba­cha­rach, die Lei­che ei­nes grau­sam zu­ge­rich­te­ten Kna­ben ge­fun­den wur­de, dau­er­te es nicht lan­ge, bis schlim­me Ge­rüch­te die Run­de mach­ten.[2]  Die Ju­den von Ober­we­sel, so hieß es, hät­ten den jun­gen Ta­ge­löh­ner Wer­ner aus Wom­rath im Huns­rück als Hilfs­ar­bei­ter an­ge­wor­ben, ihn so in ei­nes ih­rer Häu­ser ge­lockt und ihn dort ge­tö­tet. Noch wäh­rend das Mord­op­fer, wie es die Ge­richts­ord­nung er­for­der­te, drei Ta­ge lang in Ba­cha­rach zur öf­fent­li­chen Lei­chen­schau auf­ge­bahrt lag, mel­de­te sich ei­ne Zeu­gin, die ge­se­hen ha­ben woll­te, wie der Jun­ge in dem Haus ge­fol­tert und ge­kreu­zigt wor­den sei. Der von ihr be­nach­rich­tig­te Schult­heiß in­des ha­be, von Ju­den­geld be­sto­chen, die Tat ge­sche­hen las­sen. Au­ßer­dem wur­de be­rich­tet, vom Leich­nam gin­gen Wohl­ge­ruch und Licht­zei­chen aus, ein ty­pi­sches und un­trüg­li­ches Zei­chen von Hei­lig­keit. Al­les schien da­für zu spre­chen, dass der To­te ein Mär­ty­rer war, von den ver­stock­ten Ju­den am Kar­frei­tag wie ein zwei­ter Chris­tus hin­ge­rich­tet. Und sie­he da: Kaum war der To­te fei­er­lich ein­ge­klei­det in der al­ten Ku­ni­berts­ka­pel­le über der Stadt Ba­cha­rach in ei­nem Sar­ko­phag be­stat­tet wor­den, da setz­ten auch schon die Mi­ra­kel an sei­nem Gra­be ein. In­ner­halb von nur we­ni­gen Wo­chen, zwi­schen dem 30.4. und dem 3.6.1287, so konn­te man spä­ter auf ei­ner Ta­fel ne­ben dem neu­en Hei­li­gen le­sen, sei­en hier 90 Wun­der­hei­lun­gen von­stat­ten ge­gan­gen. Grau­sam al­ler­dings wa­ren die Be­gleit­um­stän­de der schnel­len Mär­ty­rer­po­pu­la­ri­tät: In­ner­halb kür­zes­ter Zeit ent­lud sich die Wut auf die Ju­den, die den Kna­ben er­mor­det ha­ben soll­ten, in ver­hee­ren­den Po­gro­men. In vie­len Or­ten an Rhein und Mo­sel fie­len die Ju­den die­sem Ge­walt­aus­bruch zum Op­fer, so in Ober­we­sel, Bop­pard, Brau­bach, Ober­lahn­stein und Ko­blenz, aber auch in Co­chem und Bern­kas­tel und wo­mög­lich im nie­der­rhei­ni­schen Kem­pen und in Bonn - die ers­te flä­chen­de­cken­de Ver­fol­gungs­wel­le des Mit­tel­al­ters, der lei­der in den fol­gen­den Jahr­zehn­ten wei­te­re fol­gen soll­ten, be­en­de­te ei­ne bis da­hin über fast zwei Jahr­hun­der­te wäh­ren­de Pha­se re­la­tiv fried­li­cher Ko­exis­tenz von Chris­ten und Ju­den am Rhein.

Zwar wa­ren Ju­den in Deutsch­land auch zu­vor schon ver­schie­dent­lich Ri­tu­al­mord­vor­wür­fen aus­ge­setzt ge­we­sen: zu­erst 1235 in Ful­da, dann 1243 in Kit­zin­gen, 1265 in Ko­blenz und Sin­zig, 1281 und 1283 in Mainz, Kreuz­nach und Ro­cken­hau­sen. Es kam da­bei zu schlim­men Er­schei­nun­gen, zu grau­sa­men Miss­hand­lun­gen und Mor­den an den Ju­den in ein­zel­nen Städ­ten als Ver­gel­tung für de­ren an­geb­li­che Un­ta­ten. Doch nir­gend­wo ent­fach­te der Auf­ruhr ei­nen ju­den­mör­de­ri­schen Flä­chen­brand und an kei­nem Ort eta­blier­te sich ein dau­er­haf­ter Kult um das ver­meint­li­che Ri­tu­al­mord­op­fer - bis zu den Er­eig­nis­sen vom April 1287. Mit dem in Ba­cha­rach er­ho­be­nen Vor­wurf er­lang­te die grau­sa­me Le­gen­de vom jü­di­schen Ri­tu­al­mord ei­ne nie da­ge­we­se­ne Qua­li­tät und Po­pu­la­ri­tät. Erst­mals mün­de­te hier der Vor­wurf in ei­nen Mär­ty­rer­kult, brach­te bald den be­kann­tes­ten rhei­ni­schen Hei­li­gen her­vor. In Ba­cha­rach ent­stand ein ers­ter to­po­gra­phisch ver­fes­tig­ter, stets ju­den­feind­li­che Ge­sin­nung an­sta­cheln­der Er­in­ne­rungs­ort, das äl­tes­te Denk­mal des An­ti­ju­da­is­mus in deut­schen Lan­den.

3. Das Vorbild: Norwich 1144

An­nä­hernd Ver­gleich­ba­res hat­te es zu­vor erst ein­mal in ganz Eu­ro­pa ge­ge­ben: An­no 1144 im eng­li­schen Nor­wich, wo Ju­den an­geb­lich ei­nen Kna­ben na­mens Wil­helm ge­kauft, ge­fol­tert und ihn - wie Chris­tus - an Kar­frei­tag ge­kreu­zigt und be­gra­ben hät­ten.[3]  Nach­dem ihn Gott je­doch als hei­li­gen Mär­ty­rer of­fen­bar­te, hät­ten Mön­che ihn fei­er­lich ins Klos­ter über­führt, wo er die ver­schie­dens­ten Wun­der ge­wirkt ha­be und als­bald zum Ziel zahl­rei­cher Wall­fahr­ten wur­de. Das war die Ge­burts­stun­de der in den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten in ganz Eu­ro­pa so ver­hee­rend wir­ken­den Ri­tu­al­mord­le­gen­de über­haupt - und zu­gleich ei­nes po­pu­lä­ren Mär­ty­rer­kul­tes, der durch ei­ne Schrift des Be­ne­dik­ti­ner­mön­ches Tho­mas von Mon­mouth (ge­stor­ben 1172) „Über Le­ben und Wun­der des hei­li­gen Mär­ty­rers Wil­helm von Nor­wich“ noch ma­ß­geb­lich ge­för­dert wor­den war. Die­ses Buch schil­dert in zahl­rei­chen phan­ta­sie­voll-grau­sa­men De­tails die Pas­si­on des Jun­gen un­ter den Hän­den sei­ner an­geb­lich jü­di­schen Pei­ni­ger, be­rich­tet von den Er­eig­nis­sen nach sei­nem Tod und schlie­ßt mit den zahl­rei­chen Wun­dern am Gra­be.

Schon mehr­fach ha­ben For­scher, die sich mit der Ent­ste­hung des Wern­er­kul­tes von Ba­cha­rach be­schäf­tigt ha­ben, dar­auf hin­ge­wie­sen, welch frap­pie­ren­de Ähn­lich­kei­ten man­ches in den Quel­len ge­schil­der­te De­tail der Ba­cha­ra­cher Er­eig­nis­se von 1287 mit dem Be­richt des Tho­mas von Mon­mouth aus dem Jahr­hun­dert zu­vor auf­weist. Die­ser bis­lang eher bei­läu­fig ge­äu­ßer­te Be­fund soll hier ein­mal aus­führ­li­cher ge­wür­digt wer­den, denn er ist im Grun­de ge­nom­men von fun­da­men­ta­ler Wich­tig­keit für ei­ne noch aus­ste­hen­de re­gio­nal- oder stadt­ge­schicht­lich ori­en­tier­te Ana­ly­se der Kul­tent­ste­hung um den „gu­ten Wer­ner“. Denn: Kann es wirk­lich Zu­fall oder gar gött­li­che Fü­gung sein, wenn die Lei­dens­ge­schich­te des ver­meint­li­chen Mär­ty­rers Wer­ner der­je­ni­gen des mehr als 100 Jah­re äl­te­ren Wil­liam so ver­blüf­fend ähn­lich sieht? Viel eher wird man hier doch wohl sehr ir­di­sches Wal­ten ver­mu­ten müs­sen. Die Fra­ge lau­tet al­so: Gab es in Ba­cha­rach An­no 1287 Kräf­te, die ge­zielt un­ter Rück­griff auf das Hei­li­gen­buch von Nor­wich ei­nen ganz ähn­li­chen und vor al­len Din­gen eben­so er­folg­rei­chen Hei­li­gen­kult eta­blie­ren woll­ten? Und ist es mög­lich, ein­zel­ne Ak­teu­re in die­sem Schau­spiel oder viel­leicht so­gar ei­nen mög­li­chen Re­gis­seur der gan­zen In­sze­nie­rung nam­haft zu ma­chen?

4. Die grausame Inszenierung von Bacharach und Oberwesel

Schau­en wir uns un­ter die­sem Ge­sichts­punkt die Ba­cha­ra­cher Er­eig­nis­se vom Früh­jahr 1287 noch ein­mal an. Ein ers­tes In­diz da­für, dass die Hei­li­gen­vi­ta aus Nor­wich tat­säch­lich als Re­gie­an­wei­sung am Rhein ge­nutzt wur­de, lie­fert schon der an­geb­li­che Ort der Auf­fin­dung von Wer­ners Lei­che: Sie lag nach Aus­weis der meis­ten Quel­len in­mit­ten von Ge­strüpp in ei­nem ein­sa­men Wald­stück am Winds­bach im Vier­tä­ler­ge­biet zwi­schen Rhein­die­bach und Ba­cha­rach. In eben­sol­cher Um­ge­bung aber war mehr als 100 Jah­re zu­vor auch schon der klei­ne Wil­liam von Nor­wich ge­fun­den wor­den. Mit die­sem wo­mög­lich al­so be­reits in­sze­nier­ten Fund­ort aber stell­te sich den Hei­li­gen­ma­chern von Ba­cha­rach zu­gleich auch schon das ers­te gro­ße Pro­blem, das es zur er­folg­rei­chen Eta­blie­rung ei­nes Mär­ty­rer­kul­tes zu lö­sen galt: Woll­te man den hier ent­deck­ten Leich­nam als jü­di­sches Ri­tu­al­mord­op­fer „ver­kau­fen“, war Krea­ti­vi­tät ge­fragt, denn im Vier­tä­ler­ge­biet leb­ten da­mals über­haupt kei­ne Ju­den mehr. Erst vier Jah­re zu­vor, 1283, war die da­mals be­reits statt­li­che Ge­mein­de von Ba­cha­rach ei­nem Po­grom zum Op­fer ge­fal­len, nach­dem in Mainz das Ge­rücht von ei­nem Ri­tu­al­mord die Run­de ge­macht hat­te. Man muss­te al­so auf die be­nach­bar­te Ober­we­seler Ju­den­schaft als Sün­den­bock zu­rück­grei­fen und das Mords­ge­sche­hen nach dort­hin ver­la­gern. So ließ sich denn be­rich­ten, Wer­ner ha­be als Ta­ge­löh­ner bei ei­nem jü­di­schen Auf­trag­ge­ber in Ober­we­sel an­ge­heu­ert, von dem er dann ge­fol­tert und er­mor­det wor­den sei. Da­mit wie­der­um be­fand man sich in der Tra­di­ti­on von Nor­wich: Auch hier soll der Kna­be als Aus­hilfs­hand­wer­ker von Ju­den ge­dun­gen wor­den sein und durch sie Mar­ty­ri­um und Mord er­lit­ten ha­ben. Zwar blieb nun noch zu er­klä­ren, wie die Lei­che da­nach an den Winds­bach ge­kom­men ist, doch das ließ sich ma­chen: An­geb­lich hät­ten die Tä­ter ver­sucht, die Lei­che auf dem Rhein von Ober­we­sel nach Mainz zu schaf­fen, sei­en je­doch – durch gött­li­che Fü­gung, ver­steht sich – rhein­auf­wärts nicht wei­ter als bis zur Winds­bach­mün­dung ge­langt, wo sie den To­ten dann kur­zer­hand im Wald ver­steckt hät­ten. Auch in der Hei­li­gen­vi­ta von Nor­wich steht ei­ne um­fang­rei­che Pas­sa­ge, in der die Mör­der den heim­li­chen Trans­port der Lei­che vom jü­di­schen Mör­der­haus an den spä­te­ren Fund­ort im Wald pla­nen, die­sen dann aber wie spä­ter am Rhein auf­grund stö­ren­der Um­stän­de nur not­dürf­tig aus­füh­ren kön­nen.

Mehr Schwie­rig­kei­ten konn­te den Ba­cha­ra­cher Hei­li­gen­ma­chern in­des ein an­de­rer As­pekt die­ser Trans­la­ti­ons-Les­art be­rei­ten. Wenn das Gan­ze sich nun in Ober­we­sel zu­ge­tra­gen hät­te, hät­te man doch dort auch al­len Grund ge­habt, den Hei­li­gen für sich selbst zu be­an­spru­chen an­statt ihn gro­ßzü­gig den Ba­cha­ra­chern zu über­las­sen. Dar­auf hat­te be­reits Fer­di­nand Pau­ly in sei­nem grund­le­gen­den Auf­satz zur Wer­ner-Le­gen­de von 1964 hin­ge­wie­sen, wäh­rend die nach­fol­gen­de For­schung die­ses ernst­haf­te Pro­blem der Ba­cha­ra­cher In­sze­nie­rung nicht mehr the­ma­ti­sier­te. Ein Streit zwi­schen Nach­barn um den Ver­bleib wert­vol­ler Re­li­qui­en wä­re aber durch­aus zu er­war­ten ge­we­sen und ist zum Bei­spiel aus Bin­gen über­lie­fert, wo die Bür­ger wohl schon vor 1200 mit den Eber­ba­cher Mön­chen über die Grab­stät­te ei­nes hoch­ver­ehr­ten Ein­sied­lers im Bin­ger Wald un­ei­nig wa­ren. Im Fall des Wer­ner­leich­nams hö­ren wir je­doch nichts von der­ar­ti­gen Un­stim­mig­kei­ten – ganz im Ge­gen­teil: die Quel­len er­we­cken den Ein­druck ei­nes sehr ein­träch­ti­gen Vor­ge­hens von Ak­teu­ren bei­der Or­te. Schon der Um­stand, dass sich un­ter den ers­ten 13 Wall­fah­rern, die am Wern­er­grab zu Ba­cha­rach von ih­ren Ge­bre­chen be­freit wur­den, be­reits fünf Ober­we­seler – dar­un­ter auch ein Mit­glied des füh­ren­den städ­ti­schen Rit­ter­ge­schlechts von Schön­burg – be­fan­den, lässt ver­mu­ten, dass man in Ober­we­sel mit dem Lauf der Din­ge durch­aus ein­ver­stan­den war. Tat­säch­lich wä­re es oh­ne vor­he­ri­ge Ab­stim­mung zwi­schen den Nach­barn wohl kaum denk­bar ge­we­sen, dass man auf der Ta­fel mit der deut­schen Wer­ner-Le­gen­de ne­ben dem Ba­cha­ra­cher Hei­li­gen­grab da­von le­sen konn­te, der Ober­we­seler Schult­heiß als Orts­rich­ter sei von den Ju­den be­sto­chen wor­den und hät­te so ei­ne Auf­klä­rung der Straf­tat ver­hin­dert. Denn ei­nen der­art kor­rup­ten Rich­ter am Ort des Ver­bre­chens ver­lang­te die Dra­ma­tur­gie der Hei­li­gen­in­sze­nie­rung, wie sie aus Nor­wich über­lie­fert ist – auch hier hat­te näm­lich an­geb­lich der durch Ju­den­geld ge­fü­gig ge­mach­te She­riff die grau­sa­me Tat ge­deckt. Woll­te man nun aber die­sen hoch­ran­gi­gen, in je­dem Fall rit­ter­li­chen Amts­trä­ger zur För­de­rung des Mär­ty­rer­kul­tes in Ba­cha­rach öf­fent­lich ei­nes schwe­ren Ver­ge­hens be­schul­di­gen, so muss­te das Aus­blei­ben hef­ti­ger Re­ak­tio­nen aus der Nach­bar­stadt doch wohl schon zu­vor si­cher­ge­stellt wor­den sein. Im­mer­hin war die dor­ti­ge Reichs­vog­tei und das mit ihr ver­bun­de­ne Schult­hei­ßen­amt um die Mit­te des 13. Jahr­hun­derts durch Er­werb an die Bür­ger­ge­mein­de ge­langt.

Ei­ni­gen Zeu­gen des „Wer­ner­pro­zes­ses“ der Jah­re 1426-1429[4]  ist der kor­rup­te Rich­ter so­gar noch na­ment­lich be­kannt: sie nen­nen ihn Eber­hard. Tat­säch­lich ist ein Ober­we­seler Schult­heiß na­mens Eberold an ers­ter Stel­le der In­ti­tu­la­tio zwei­er städ­ti­scher Ur­kun­den für das Klos­ter Eber­bach aus dem Jahr 1275 über­lie­fert. Auch von 1286, dem Vor­jahr der Wer­ner-Er­eig­nis­se, ist ei­ne vom Ober­we­seler Ge­richt un­ter Vor­sitz des Schult­hei­ßen be­sie­gel­te Ur­kun­de er­hal­ten. Lei­der wird der Rich­ter hier nicht na­ment­lich ge­nannt, doch un­ter den Aus­stel­lern be­fin­det sich er­neut ein Rit­ter Eberold, bei dem es sich wohl noch im­mer um den In­ha­ber des Schult­hei­ßen­am­tes han­deln dürf­te. Der nächs­te Be­leg, 1296, ver­zeich­net ei­nen Rit­ter Fried­rich Ryn­g­re­ve als Schult­heiß von Ober­we­sel – und da­mit erst­mals den Ver­tre­ter ei­ner Fa­mi­lie, die im 14. Jahr­hun­dert über meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen hin­weg die städ­ti­schen Füh­rungs­po­si­tio­nen do­mi­nie­ren soll­te. In den da­zwi­schen lie­gen­den zehn Jah­ren, wo­mög­lich al­so tat­säch­lich 1287, wird dem­nach der Amts­wech­sel und da­mit ver­bun­den viel­leicht auch ein Wan­del in der Struk­tur der Ober­we­seler Füh­rungs­schicht statt­ge­fun­den ha­ben. Die Um­stän­de die­ser Ab­lö­sung in­des wa­ren mys­te­ri­ös: Eber­hard soll, so er­in­ner­te sich 1427 ein Zeu­ge, sei­ner­zeit ein­fach ver­schwun­den sein und nie­mand wis­se, wo sei­ne Ge­bei­ne ruh­ten. Wa­ren et­wa in­ner­städ­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen der Grund da­für, dass man sich da­mals des bis­he­ri­gen Schult­hei­ßen ent­le­dig­te? Oder hat­te Eberold/Eber­hard sich tat­säch­lich et­was zu­schul­den kom­men las­sen und mit­hin gu­te Grün­de zur Flucht? Je­den­falls dürf­ten be­son­de­re Ge­scheh­nis­se mit sei­ner Per­son in Ver­bin­dung ge­stan­den ha­ben, die Zeit­ge­nos­sen und Nach­le­ben­de in Ober­we­sel of­fen­bar jeg­li­cher Be­den­ken ent­ho­ben, sei­nen Na­men für die Kon­stru­ie­rung der Ri­tu­al­mord-Le­gen­de zu miss­brau­chen.

Aber wie auch im­mer: Es steht fest, dass die Wer­ner-In­sze­nie­rung von Ba­cha­rach der Nach­bar­stadt Ei­ni­ges zu­mu­te­te – Ober­we­sel muss­te als Ver­bre­chens­ort her­hal­ten, auf die An­we­sen­heit ei­nes „Hei­li­gen“ ver­zich­ten und das städ­ti­sche Rich­ter­amt dis­kre­di­tie­ren las­sen. Da­mit aber hat­te man doch wohl zu­min­dest An­spruch auf ei­ne Ge­gen­leis­tung er­wor­ben. Die­se nun dürf­te dar­in be­stan­den ha­ben, dass die Ober­we­seler an­ge­mes­sen an der Hei­li­gen­in­sze­nie­rung und der an­ge­hen­den Wer­ner-Wall­fahrt be­tei­ligt wur­den: So konn­te Ba­cha­rach den Hei­li­gen­kor­pus be­hal­ten, und Ober­we­sel zeig­te sein Mar­ty­ri­um. Of­fen­bar wur­de mit dem Bau der Wern­er­ka­pel­le zu Ober­we­sel, die an Stel­le des jü­di­schen Mord­hau­ses an der Stadt­mau­er er­rich­tet wor­den sein soll und Wer­ners an­geb­li­che Mar­ter­säu­le (sta­tua ejus­dem pas­sio­nis) vor­wei­sen konn­te, näm­lich noch vor dem Jahr 1300 be­gon­nen. Hier ent­stand al­so schon früh ein Ort, wo die Wall­fah­rer auf ein­drucks­vol­le Wei­se Kon­takt zur Pas­si­on des „hei­li­gen“ Wer­ner auf­neh­men konn­ten, wie auch in den Zeu­gen­aus­sa­gen des 15. Jahr­hun­derts be­tont wird. Ver­mut­lich ver­fiel man auf die­se Form der in­ter­kom­mu­na­len Zu­sam­men­ar­beit, die ei­ne zwang­lo­se Ein­be­zie­hung Ober­we­sels in ei­ne mehr­tei­li­ge Wall­fahrts­to­po­gra­phie des neu zu schaf­fen­den Mär­ty­rer­kul­tes er­mög­lich­te, eben­falls auf­grund in­ten­si­ver Lek­tü­re des Hei­li­gen­buchs aus Nor­wich. Der Ver­fas­ser der Wil­liam-Le­gen­de be­rich­tet näm­lich, er ha­be nach lan­gem Su­chen end­lich doch das Haus iden­ti­fi­zie­ren kön­nen, in dem der Mord ge­sche­hen war, und dar­in noch deut­li­che Spu­ren des Ver­bre­chens ge­fun­den. So ha­be man dort auch ei­ne Bal­ken­kon­struk­ti­on ent­deckt, mit­tels de­rer der Jun­ge ge­pei­nigt und ge­kreu­zigt wor­den war. In Nor­wich An­no 1144 ist al­so das Fol­ter­haus und so­gar die dar­in be­find­li­che Mar­ter­säu­le be­reits vor­ge­bil­det, die fast 150 Jah­re spä­ter dann den Ober­we­selern ih­ren An­teil an der Wer­ner-Wall­fahrt si­chern soll­te - und so ei­nen Re­li­qui­enstreit zwi­schen Nach­barn ent­behr­lich mach­te.

5. … und ihr Regisseur

Nur ei­ne ein­zi­ge Au­gen­zeu­gin des Fol­ter­ge­sche­hens gab es in Nor­wich – und auch in Ober­we­sel. In bei­den Fäl­len soll ei­ne im Haus des Ju­den be­schäf­ti­ge christ­li­che Dienst­magd durch ei­nen Tür­spalt be­ob­ach­tet ha­ben, wie der Jun­ge ge­quält wur­de, und hier wie dort wur­de ih­re Aus­sa­ge spä­ter, nach Auf­fin­dung der Lei­che, zum Haupt­ar­gu­ment für die Be­schul­di­gung der Ju­den. Es liegt al­so auf der Hand, dass ei­ne ge­ziel­te Falsch­aus­sa­ge der Ober­we­seler Magd nach dem eng­li­schen Vor­bild Teil der Hei­li­gen­in­sze­nie­rung von Ba­cha­rach war, wie Gerd Mentgen in sei­nem wich­ti­gen Auf­satz zum The­ma von 1997 be­ton­te. Wer je­doch – so Mentgen wei­ter – „für die­se Ein­flüs­te­run­gen in ers­ter Li­nie ver­ant­wort­lich war und da­mit als ei­gent­li­cher Schöp­fer der Wer­ner­le­gen­de zu gel­ten hat: die­se zen­tra­le Fra­ge wird wohl für im­mer un­be­ant­wor­tet blei­ben müs­sen.“ Et­was op­ti­mis­ti­scher ist in die­ser Hin­sicht der His­to­ri­ker Tho­mas Wetz­stein (1999): Für ihn liegt es auf­grund der „frap­pie­ren­de[n] Ähn­lich­keit“ mit Nor­wich na­he, dass als Ur­he­ber des Ba­cha­ra­cher Wern­er­kults ein „mit den Ri­tu­al­mord­vor­wür­fen ver­trau­ter An­ge­hö­ri­ger des Kle­rus in Fra­ge kä­me“. Die­ser Ver­dacht nun lässt sich prä­zi­sie­ren, denn die Spur führt ein­deu­tig zum Orts­pfar­rer von Ba­cha­rach. Da­für spre­chen zu­nächst ganz prak­ti­sche Grün­de. Von grund­le­gen­der Be­deu­tung für die schnel­le Ver­brei­tung von Wer­ners Hei­li­gen­ruf war si­cher die Ent­schei­dung, den Leich­nam in der ex­po­niert ge­le­ge­nen Ku­ni­berts­ka­pel­le zu Fü­ßen der Burg Stah­leck zu be­stat­ten. Dies kam im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes und ganz au­gen­fäl­lig ei­ner „Er­he­bun­g“ der Ge­bei­ne des Mär­ty­rers gleich. Die enor­me Aus­strah­lung ei­nes sol­chen Stand­or­tes ober­halb der Ku­lis­se von Stadt- und Fluss­land­schaft wird man schwer­lich über­schät­zen kön­nen; mit ihr rech­ne­ten schon die Tem­pel­ar­chi­tek­ten der An­ti­ke bei der An­la­ge ih­rer Hö­hen­hei­lig­tü­mer, und noch Mo­nu­men­te des 19. Jahr­hun­derts, al­len vor­an das Na­tio­nal­denk­mal auf dem Nie­der­wald ge­gen­über von Bin­gen am Rhein, be­zie­hen ih­re sug­ges­ti­ve Kraft und Po­pu­la­ri­tät aus der er­ha­be­nen La­ge im Fluss­pan­ora­ma. Doch der Zu­griff auf die­se bald nach dem „hei­li­gen“ Wer­ner be­nann­te und spä­tes­tens ab 1289 in go­ti­schen For­men neu er­rich­te­ten Ka­pel­le, die ja in un­mit­tel­ba­rer räum­li­cher Nä­he von Pfarr­kir­che und Pfarr­hof lag, stand von An­fang an nie­mand an­de­rem zu als dem Pfarr­herrn von Ba­cha­rach: Sie be­fand sich in pro­pria do­te Pas­to­riae Ba­cher­a­cen­sis Eccle­sie, wie es ge­le­gent­lich hei­ßt, ge­hör­te al­so zum „Pfarr­gut der Ba­cha­ra­cher Kir­che“.

Und auch der nächs­te Re­gie-Coup ist auf­schluss­reich: So­fort nach der Be­stat­tung des an­ge­hen­den Hei­li­gen wur­de da­mit be­gon­nen, die am Grab er­folg­ten Wun­der­hei­lun­gen mus­ter­gül­tig zu do­ku­men­tie­ren und in ei­ner Kis­te ne­ben dem Grab zu ar­chi­vie­ren - wohl da­mit sie der­einst als Be­weis­mit­tel in ei­nem Hei­lig­spre­chungs­ver­fah­ren, zu­min­dest aber zur wer­be­wirk­sa­men Ver­öf­fent­li­chung auf Ta­feln Ver­wen­dung fin­den konn­ten. Es liegt na­he, bei der sorg­fäl­ti­gen Auf­zeich­nung der Wun­der am Wern­er­grab er­neut den Orts­pfar­rer am Werk zu se­hen – zu­mal der da­ma­li­ge Amts­in­ha­ber als Ur­kun­den­aus­stel­ler in Ba­cha­rach nach­weis­lich ei­ne ge­frag­te und er­fah­re­ne Per­son war: Schon im Jah­re 1279 hat­te Hein­rich von Crum­bach, so hieß da­mals der quel­len­mä­ßig über­ra­schend gut be­leg­te Pfar­rer zu Ba­cha­rach, ei­nen Wein­bergs­ver­kauf für die Ba­cha­ra­cher Ge­richts­vor­ste­her do­ku­men­tiert und be­sie­gelt. Tat­säch­lich ist das Sie­gel Hein­richs – wenn auch aus an­de­rem Zu­sam­men­hang – im Hes­si­schen Staats­ar­chiv Darm­stadt über­lie­fert. Es zeigt das Brust­bild des hei­li­gen Pe­trus und ei­nen kni­en­den, be­ten­den Geist­li­chen, zeugt al­so von ei­ner weit­rei­chen­den Iden­ti­fi­ka­ti­on des In­ha­bers mit sei­nem Pfarr­dienst an der Ba­cha­ra­cher Pe­ters­kir­che.

Erst­mals ist je­ner Hein­rich von Crum­bach seit 1273 als Pfar­rer von Ba­cha­rach nach­zu­wei­sen, und er blieb es wohl bis zu sei­nem Tod spä­tes­tens im Jah­re 1303. Doch das war nicht Hein­richs ein­zi­ges Tä­tig­keits­feld. Er war auch Stifts­herr im Worm­ser An­dre­as-Stift, be­saß dort ei­nen Hof und wirk­te 1279 als Schieds­rich­ter in ei­nem Kon­flikt zwi­schen geist­li­chen Ein­rich­tun­gen der Ka­the­dral­stadt, de­ren Bi­schof Eber­hard II. von Strah­len­berg (Epis­ko­pat 1291-1293) ein Ver­wand­ter Hein­richs ge­we­sen zu sein scheint. 1287 en­ga­gier­te sich der Ba­cha­ra­cher Pfarr­herr für das Frank­fur­ter Deut­schor­dens­haus in Die­burg, und schon 1277 hat­te er als Zeu­ge in Wies­loch fun­giert. Der viel­fäl­ti­ge und lang­jäh­ri­ge Ak­ti­ons­ra­di­us im Rhein-Ne­ckar-Oden­wald-Ge­biet par­al­lel zu den Ba­cha­ra­cher Pflich­ten ver­weist auf die Her­kunft Hein­richs: ver­mut­lich han­delt es sich bei ihm um ei­nen Spross der in Frän­kisch-Crum­bach an der Berg­stra­ße im Oden­wald be­gü­ter­ten alt­frei­en Her­ren glei­chen Na­mens mit Stamm­sitz (seit dem 13. Jahr­hun­dert) auf Burg Ro­den­stein. Auf­fäl­lig ist nun, dass auch ei­ni­ge der ers­ten 90 so wun­der­sam am Wern­er­grab zu Ba­cha­rach Ge­heil­ten auch aus die­ser doch im­mer­hin ei­ni­ge Ta­ges­rei­sen ent­fern­ten Re­gi­on ka­men – zum Bei­spiel aus Ger­mers­heim, Worms, La­den­burg, Bi­cken­bach und Breu­bach im Oden­wald. Auch die Toch­ter ei­nes Fried­rich von Stein (Fre­de­ri­cus de La­pi­de) war un­ter de­nen, die im Mai 1287 als Ge­lähm­te das Wern­er­grab auf­such­ten und es ge­sund wie­der ver­lie­ßen: Bei ihr nun han­del­te es sich wo­mög­lich um ei­ne Ver­wand­te des Ba­cha­ra­cher Pfar­rers, wie wir bei­läu­fig aus ei­ner an­de­ren Ur­kun­de er­fah­ren. Das Be­zie­hungs­netz­werk Hein­richs von Crum­bach könn­te da­her wohl auch in an­de­ren Fäl­len die Wall­fahrt nach Ba­cha­rach und ei­ne ge­wis­se Be­reit­schaft der Be­trof­fe­nen er­klä­ren, sich als Pro­ban­den für die me­di­zi­ni­sche „Wirk­sam­keit“ des neu­en Hei­li­gen zur Ver­fü­gung zu stel­len. Zu­sam­men­fas­send lässt sich al­so mit ho­her Wahr­schein­lich­keit der Pfar­rer von Ba­cha­rach als Ur­he­ber, zu­min­dest aber als ers­ter För­de­rer der Ri­tu­al­mord­le­gen­de um den jun­gen Wer­ner aus­ma­chen. Tat­säch­lich ist es ei­nem Mann mit den Am­bi­tio­nen, stan­des­mä­ßi­gen Vor­aus­set­zun­gen und Mög­lich­kei­ten Hein­richs von Crum­pach oh­ne wei­te­res zu­zu­trau­en, dass er den Lei­chen­fund schnell und ge­schickt in­stru­men­ta­li­sier­te, um ei­ne ge­ziel­te Auf­wer­tung sei­ner Pfar­rei und da­mit sei­ner ei­ge­nen Stel­lung durch ei­nen „ei­ge­nen“ Hei­li­gen vor Ort zu er­rei­chen. Ver­mut­lich wa­ren die Ak­ti­vi­tä­ten des Geist­li­chen für die In­stal­lie­rung des Wern­er­kul­tes aber auch durch ei­ne aus­ge­präg­te ju­den­feind­li­che Hal­tung mo­ti­viert. Denn es darf in die­sem Zu­sam­men­hang nicht über­se­hen wer­den, dass Hein­rich von Crum­bach schon im April 1283 in Ba­cha­rach am­tier­te, als der Mord an ei­nem Jun­gen in Mainz den Ju­den zur Last ge­legt und eben­falls be­reits die Ri­tu­al­mord­le­gen­de ver­brei­tet wor­den war. Da­mals kam es zu Aus­schrei­tun­gen in Mainz selbst, in Ro­cken­hau­sen und – be­son­ders ver­hee­rend - in Ba­cha­rach, wo 26 Ju­den, ver­mut­lich sämt­li­che Ge­mein­de­mit­glie­der, er­schla­gen wur­den. Sucht man nun nach ei­ner Er­klä­rung für das Phä­no­men, dass un­ter den zahl­rei­chen Ju­den­an­sied­lungs­or­ten am Mit­tel­rhein, wo seit der Jahr­hun­dert­mit­te zwar ins­ge­samt ei­ne ge­reiz­te an­ti­jü­di­sche At­mo­sphä­re herrsch­te, aus­ge­rech­net Ba­cha­rach in­ner­halb von nur vier Jah­ren gleich zwei Mal, 1283 und 1287, im Mit­tel­punkt ju­den­feind­li­cher Ak­ti­vi­tä­ten stand, so bö­te sich ein­schlä­gi­ges Wir­ken des nach­ge­wie­se­ner­ma­ßen ein­fluss­rei­chen Orts­pfar­rers als ein mög­li­ches Ver­bin­dungs­glied zwi­schen den Er­eig­nis­sen durch­aus an.

6. Ein Fürst mit schlechtem Gewissen: Pfalzgraf Ludwig II.

Doch die Per­so­na­lie Hein­rich von Crum­bach führt noch wei­ter. Die eben be­spro­che­ne räum­li­che Her­kunft des Pfar­rers von Ba­cha­rach ver­weist näm­lich auf ein Ge­biet, das im 13. Jahr­hun­dert stark im Mit­tel­punkt der ter­ri­to­ria­len Ri­va­li­tä­ten zwi­schen Kur­mainz und Kur­pfalz lag. Of­fen­sicht­lich war der Crum­ba­cher ein nicht ganz un­be­deu­ten­der Par­tei­gän­ger des Pfalz­gra­fen Lud­wig II. (Re­gie­rungs­zeit 1253/1255-1294), denn wir tref­fen ihn sehr re­gel­mä­ßig am be­zie­hungs­wei­se im Um­feld des Ho­fes zu Hei­del­berg an. Auf­grund die­ser Ver­bin­dung wird über­haupt erst die Über­nah­me des Ba­cha­ra­cher Pfarr­am­tes durch den orts­frem­den, Oden­wäl­der Ad­li­gen nach­voll­zieh­bar, die ja kaum an­ders als durch ei­ne In­ter­ven­ti­on des pfalz­gräf­li­chen Stadt­her­ren von Ba­cha­rach er­klärt wer­den kann.

Vor al­lem aber bie­tet die of­fen­kun­di­ge Nä­he des „Hei­li­gen­ma­cher­s“ Hein­rich von Crum­pach zum Pfalz­gra­fen An­lass, auch die Rol­le des Letz­te­ren bei der Eta­blie­rung des Wern­er­kul­tes ge­nau­er zu un­ter­su­chen. Und so ist es doch sehr auf­fäl­lig, dass in en­gem zeit­li­chen Zu­sam­men­hang zu den Er­eig­nis­sen von 1287 zwei be­deu­ten­de Stif­tun­gen des Pfalz­gra­fen für das Ba­cha­ra­cher Vier­tä­ler­ge­biet über­lie­fert sind. So rich­te­te Pfalz­graf Lud­wig II. ver­mut­lich 1288 in Ba­cha­rach an ver­kehrs­güns­tig ge­le­ge­nem Ort am Ko­blen­zer Tor das Hei­lig-Geist-Hos­pi­tal ein. Au­ßer­dem grün­de­te er wohl schon im Fe­bru­ar des­sel­ben Jah­res an je­ner Stel­le im Winds­bach­tal, wo der Leich­nam Wer­ners ent­deckt wor­den war, das Wil­he­mi­ten­klos­ter Fürs­ten­thal. Lo­ka­le Tra­di­tio­nen und die früh­neu­zeit­li­che kur­pfäl­zi­sche Ge­schichts­schrei­bung wis­sen über die­se Klos­ter­grün­dung zu be­rich­ten, sie sei er­folgt als Süh­neleis­tung des Pfalz­gra­fen Lud­wig II. für die von ihm selbst ver­schul­de­te un­ge­recht­fer­tig­te Hin­rich­tung sei­ner ers­ten Gat­tin Ma­ria von Bra­bant im Jah­re 1256. Tat­säch­lich hat­te Lud­wig, der die­se wohl aus un­be­grün­de­ter Ei­fer­sucht be­gan­ge­ne Un­tat of­fen­bar schwer be­reu­te und von Papst Alex­an­der IV. (Pon­ti­fi­kat 1254-1261) mit ei­ner Süh­neleis­tung be­auf­tragt wor­den war, zur Be­ru­hi­gung sei­nes ge­plag­ten Ge­wis­sens be­reits 1263 das Klos­ter Fürs­ten­feld(-bruck) bei Mün­chen ge­grün­det. Je­doch er­schien dem Fürs­ten und sei­nen Söh­nen mit die­sem ei­nen gott­ge­fäl­li­gen Werk die auf der Fa­mi­lie las­ten­de Schuld wohl noch nicht hin­rei­chend ab­ge­gol­ten, denn noch im Jah­re 1308 leis­te­te auch Lud­wigs Sohn, Pfalz­graf Ru­dolf I. (Re­gie­rungs­zeit 1294-1317), Wie­der­gut­ma­chungs­ar­beit im Na­men des Va­ters. Da­mals ge­lob­te er ge­gen­über Her­zog Jo­hann II. von Bra­bant (Re­gie­rungs­zeit 1294-1312), am Gra­be der Er­mor­de­ten – der Tan­te des am­tie­ren­den Bra­ban­ter Lan­des­her­ren – ei­ne ewi­ge Mes­se und ein ewi­ges Licht zu stif­ten. Als wei­te­re Süh­neleis­tung woll­te er ihm mit 200 Ge­pan­zer­ten ge­gen je­den Feind zu Hil­fe kom­men – und au­ßer­dem vier Rit­ter zur ge­plan­ten Kreuz­fahrt ins Hei­li­ge Land oder ge­gen die Un­gläu­bi­gen in Eu­ro­pa ent­sen­den. Es er­scheint an­ge­sichts der selbst noch über die Wen­de zum 14. Jahr­hun­dert hin­aus fort­be­ste­hen­den Exkul­pie­rungs­be­mü­hun­gen der Pfäl­zer al­so durch­aus denk­bar, dass auch die Stif­tung im Ba­cha­ra­cher Vier­tä­ler­ge­biet ein­ge­denk der Hin­rich­tung von 1256 er­folgt ist – zu­mal schon die Na­mens­ge­bung des neu­en Klos­ters im Tal un­ter­halb der Burg Fürs­ten­berg an das äl­te­re Süh­ne­klos­ter er­in­nert, das 1263 auf des „Fürs­ten Fel­d“ bei Bruck ge­grün­det wor­den war. Nach ei­ner im­pro­vi­sier­ten Start­pha­se in Be­helfs­hüt­ten wa­ren hier, im ober­bay­ri­schen Kern­land des wit­tels­ba­chi­schen Pfalz­gra­fen, seit 1270 „dau­er­haf­te Ge­bäu­de“ für die Mön­che ent­stan­den, und 1284 war an­schei­nend die Kir­che be­reits voll­endet; le­dig­lich der Bau von Klau­sur­ge­bäu­den „zog sich mög­li­cher­wei­se noch bis An­fang der 1290er Jah­re hin.“[5]  Die Grün­dung des Klos­ters bei Ba­cha­rach er­folg­te al­so wo­mög­lich di­rekt nach Ab­schluss, je­den­falls aber an­ge­sichts ei­nes un­mit­tel­bar be­vor­ste­hen­den En­des der Bau­ar­bei­ten in Fürs­ten­feld; sie lie­ße sich so­mit durch­aus als „An­schluss­maß­nah­me“ (und zu­gleich auch als rhei­ni­sche Par­al­lel­ein­rich­tung) des ober­baye­ri­schen Süh­ne­pro­jek­tes deu­ten.

Dass die Wahl der von Pfalz­graf Lud­wig ins Vier­tä­ler­ge­biet ge­ru­fe­nen Mön­che nun aus­ge­rech­net auf die in Deutsch­land weit­hin un­be­kann­ten Wil­hel­mi­ten fiel, ver­leiht die­ser An­nah­me zu­sätz­li­che Wahr­schein­lich­keit. De­ren Or­dens­grün­der näm­lich, der hei­li­ge Wil­helm von Ma­la­val­le, war seit dem spä­ten 13. Jahr­hun­dert als „Vor­bild für Bu­ße und Reu­e“ be­son­ders po­pu­lär.[6]  Doch Lud­wigs Ent­schei­dung für die Wil­hel­mi­ten deckt noch ei­nen wei­te­ren Zu­sam­men­hang auf, denn sie lässt er­ken­nen, dass die Grün­dung des Bu­ßk­los­ters von Fürs­ten­thal wohl tat­säch­lich so­gar in en­ger Ab­stim­mung mit der „ge­schä­dig­ten“ Fa­mi­lie, dem Fürs­ten­haus von Bra­bant, er­folgt ist. Die Ge­schich­te des Wil­hel­mi­ten­or­dens im 13. Jahr­hun­dert ist auf das Engs­te mit den nie­der­län­di­schen Fürs­ten­häu­sern von Flan­dern und Bra­bant ver­knüpft. In de­ren Ter­ri­to­ri­en hat­te sich un­ter päpst­li­chem Pro­te­gée das „Schwer­ge­wicht des Or­den­s“ ver­la­gert, des­sen An­fän­ge seit 1244 auf ei­ni­ge Ere­mi­ten­nie­der­las­sun­gen in der Tos­ka­na zu­rück­gin­gen. Bis 1287 wa­ren in Flan­dern und Bra­bant min­des­tens acht wei­te­re Nie­der­las­sun­gen ent­stan­den, wäh­rend im gan­zen Reichs­ge­biet vor der Grün­dung von Fürs­ten­thal nur drei Wil­hel­mi­ten­k­lös­ter an­zu­tref­fen wa­ren. Im spä­ten 13. Jahr­hun­dert fand auch ei­ne (üb­ri­gens fal­sche) Tra­di­ti­on über den Or­dens­grün­der Ver­brei­tung, die ihn mit Her­zog Wil­helm von Aqui­ta­ni­en iden­tif­zier­te – und da­mit als ei­nen Ahn­herr der bra­ban­ti­schen Her­zogs­fa­mi­lie. Ei­ne en­ge An­leh­nung der Klos­ter­stif­ter an ih­re bra­ban­ti­schen Ver­bün­de­ten war wohl auch aus­schlag­ge­bend ge­we­sen für die Grün­dung der ers­ten Wil­hel­mi­ten­nie­der­las­sung im deutsch­spra­chi­gen Raum durch die Gra­fen von Jü­lich in Dü­ren im Jah­re 1252. Man wird al­so kaum fehl­ge­hen, wenn man ei­ne ent­spre­chen­de Ab­stim­mung auch im Fal­le des Pfäl­zers Lud­wigs II. un­ter­stellt.

Auch Lud­wigs zeit­glei­che Grün­dung ei­nes Hos­pi­tals im na­hen Ba­cha­rach er­hält im Kon­text der wil­hel­mi­ti­schen Klos­ter­tra­di­ti­on spe­zi­el­le Be­deu­tung. Denn schon der Or­dens­grün­der selbst, Wil­helm von Ma­la­val­le, hat­te ein Hos­pi­tal für Rom­pil­ger am Mon­te Pi­s­a­no in der Tos­ka­na ge­grün­det. In sei­ner Nach­fol­ge zähl­te im 13. und 14. Jahr­hun­dert der Un­ter­halt von Hos­pi­tä­lern an vie­len Or­ten zu den vor­nehms­ten Pflich­ten der Wil­hel­mi­ten über­haupt. Häu­fig ent­stan­den ih­re Nie­der­las­sun­gen des­halb an Stät­ten, die sich zu „Wall­fahrts­or­ten von re­gio­na­ler Be­deu­tun­g“ ent­wi­ckel­ten, so dass „die Be­her­ber­gung und Seel­sor­ge der Wall­fah­rer in den be­son­ders häu­fig auf­ge­such­ten Klös­tern […] fast zur Haupt­auf­ga­be der Mön­che wur­de.“ (Kas­par Elm) Da­mit er­hält das Ba­cha­ra­cher Hos­pi­tal zu­gleich auch sei­ne na­he lie­gen­de Zweck­be­stim­mung als Her­ber­ge, mit der die Stadt für den – si­cher er­hoff­ten - Zu­strom von Wer­ner­pil­gern ge­rüs­tet war.

Die Grün­dung von Klos­ter Fürs­ten­thal und des da­mit wohl eng ver­bun­de­nen Spi­tals zu Ba­cha­rach war al­so höchst­wahr­schein­lich ei­ne Bu­ß­leis­tung, und sie er­folg­te im Hin­blick auf das Bra­ban­ter Fürs­ten­haus; doch dass da­mit zu­gleich auch ei­nem neu­en und ex­pli­zit an­ti­jü­di­schen Mär­ty­rer­kult ei­ne Heim­statt ge­ge­ben wur­de, muss­te dem Stif­ter eben­falls klar sein. Die Wer­ner­ver­eh­rung hat­te zum Zeit­punkt der Stif­tun­gen Pfalz­graf Lud­wigs im Fe­bru­ar 1288 ihr emi­nent ju­den­feind­li­ches Po­ten­zi­al be­reits in al­ler Deut­lich­keit of­fen­bart, denn die meis­ten der mit dem „gu­ten Wer­ner“ in Ver­bin­dung ste­hen­den Ju­den­po­gro­me hat­ten be­reits im Früh­ling und Som­mer 1287 ge­wü­tet. Lud­wig agier­te bei sei­nem Ba­cha­ra­cher En­ga­ge­ment al­so im Wis­sen um ein ent­schie­den ju­den­feind­li­ches Ver­hal­ten. Da­mit aber ist ei­ne Mo­ti­va­ti­on ge­ge­ben, die im be­schrie­be­nen Zu­sam­men­hang der Buß­stif­tung ein wei­te­res Mal auf­hor­chen lässt. Im Bra­ban­ter Her­zogshaus war in der Mit­te des 13. Jahr­hun­derts ei­ne Ide­al­kon­zep­ti­on des gu­ten Fürs­ten for­mu­liert wor­den, die sich nicht zu­letzt in ei­ner aus­ge­spro­chen ju­den­feind­li­chen Hal­tung ma­ni­fes­tiert.[7]  In sei­nem Tes­ta­ment von 1261 hat­te Her­zog Hein­rich III., der Bru­der der er­mor­de­ten Ma­ria von Bra­bant, ver­fügt, dass al­le Ju­den aus sei­nem Lan­de zu ver­trei­ben sei­en, so­fern sie nicht vom Geld­han­del ab­lie­ßen. Tat­säch­lich las­sen sich für ei­nen Zeit­raum von et­wa zwei Jahr­zehn­ten nach 1261 auch kei­ne di­rek­ten Be­le­ge für mehr Ju­den in Bra­bant nach­wei­sen. Chris­toph Clu­se konn­te dar­le­gen, dass die­ses Herr­schafts­ethos im spä­te­ren 13. Jahr­hun­dert da­zu bei­trug, den Bo­den auch an­dern­orts für lan­des­herr­li­che Ju­den­ver­trei­bun­gen zu be­rei­ten, wie sie et­wa 1287, im Jahr der Wer­ner-Po­gro­me, vom spä­te­ren eng­li­schen Kö­nig Edu­ard I. (Re­gie­rungs­zeit 1272-1307) für die Gas­co­gne be­reits rea­li­siert und für die bri­ti­sche In­sel wohl be­schlos­sen wur­den. Si­cher wuss­te Lud­wig sich al­so bei sei­ner an­ti­jü­di­schen Stif­tung zu Ba­cha­rach im Ein­klang mit dem Fürs­ten­ide­al, wie es ge­ra­de in der Fa­mi­lie sei­ner ers­ten Ehe­frau, de­ren Mord zu exkul­pie­ren war, galt; er konn­te da­mit aus­drück­lich auch nach den Maß­stä­ben der Ge­schä­dig­ten sei­ne Be­mü­hun­gen um Re­ha­bi­li­tie­rung als gu­ter Fürst und Chris­ten­mensch de­mons­trie­ren.

Es ist al­so durch­aus na­he­lie­gend, die Klos­ter­stif­tung Lud­wigs II. im Winds­bach­tal als Bu­ß­leis­tung, zu­gleich aber auch als ei­ne de­zi­diert an­ti­jü­di­sche Maß­nah­me zu in­ter­pre­tie­ren, die sich in der deut­li­chen Be­zug­nah­me auf den an­geb­li­chen Ri­tu­al­mord ma­ni­fes­tiert. Denn kaum zu­fäl­lig wird die Ent­schei­dung für den Klos­ter­stand­ort an ex­akt je­ner Stel­le am Winds­bach ge­fal­len sein, wo das Op­fer ver­meint­lich jü­di­scher Gräu­el­ta­ten im April 1287 auf­ge­fun­den wor­den war. Viel­mehr lässt noch die Aus­sa­ge des Winds­ba­cher Pri­ors im den Ak­ten des „Wer­ner-Pro­zes­ses“ von 1426-1429 er­ken­nen, dass mit sei­nem Klos­ter da­mals je­ne Stät­te ent­stand, die – eben­so wie das Hei­lig-Geist-Hos­pi­tal in Ober­we­sel mit sei­ner Mar­ter­säu­le – den Pil­gern ei­ne un­mit­tel­ba­re Kon­takt­auf­nah­me zu Wer­ners Pas­si­on er­mög­li­chen soll­te. Und mehr noch: Auch im Zu­sam­men­hang der Klos­ter­grün­dung lohnt ein Blick in die uns schon bes­tens ver­trau­te Re­gie­an­wei­sung, in das „Buch zum Le­ben und den Wun­dern des hei­li­gen Wil­liam von Nor­wich“ aus dem 12. Jahr­hun­dert. Denn auch in Nor­wich war, eben­falls mit­ten im Wald, dort wo man den er­mor­de­ten Mär­ty­rer ent­deckt hat­te, ein Got­tes­haus ge­stif­tet wor­den: St. Wil­liams-in-the-Wood, ei­ne klei­ne Ka­pel­le, die im spä­ten 13. Jahr­hun­dert noch ein Zen­trum des Kul­tes um das ers­te ver­meint­li­che jü­di­sche Ri­tu­al­mord­op­fer Eu­ro­pas bil­de­te, heu­te aber – eben­so wie das Klos­ter Fürs­ten­thal – längst nicht mehr exis­tiert.

Wie es scheint, war es al­so dem Re­gis­seur des Hei­li­gen­spek­ta­kels von Ba­cha­rach – wir un­ter­stel­len nun, dass es tat­säch­lich der Pfar­rer Hein­rich von Crum­bach war – ge­lun­gen, sei­nen Lan­des­her­ren, den Pfalz­gra­fen, zur ak­ti­ven Mit­ar­beit an dem ehr­gei­zi­gen Pro­jekt zu ge­win­nen, in­dem er of­fen­kun­dig die fürst­li­che Buß­stif­tung mit dem Hei­li­gen-Dreh­buch in Ein­klang brin­gen konn­te. Und tat­säch­lich führt auch im Fall der Klos­ter­grün­dung ei­ne Spur zu dem ehr­gei­zi­gen Geist­li­chen aus rit­ter­li­chem Hau­se: Fürs­ten­thal wur­de – im Ein­ver­neh­men mit dem Stif­ter, wie aus­drück­lich fest­ge­hal­ten wird - der Auf­sicht und Ju­ris­dik­ti­on des Ba­cha­ra­cher Pfarr­her­ren un­ter­stellt. Die­ser Vor­gang ist durch­aus be­mer­kens­wert, denn das üb­li­che Ver­fah­ren bei der Aus­stat­tung ei­nes Klos­ters war ja eher das Um­ge­kehr­te: die Be­pfrün­dung der Stif­tung mit ei­ge­nen, in­kor­po­rier­ten Pfarr­stel­len. Be­rück­sich­tigt man die nur lang­sa­me Aus­brei­tung des Wil­hel­mi­ten­or­dens im Reichs­ge­biet seit 1242 über Jahr­zehn­te hin­weg, so muss es dar­über hin­aus über­ra­schen, dass sich ex­akt zeit­gleich mit Winds­bach, ge­nau­er ge­sagt „zwi­schen 1287 und 1290“ (Kas­par Elm), auch in Worms Wil­hel­mi­ten nie­der­lie­ßen. Die­ses Haus er­freu­te sich aus­weis­lich von Le­ga­ten „des Wohl­wol­lens nicht al­lein der Bür­ger, son­dern auch der Ka­no­ni­ker des Dom- und An­dre­as­stif­tes.“ (Kas­par Elm) Mit dem Worm­ser An­dre­as­stift aber wa­ren die Crum­ba­cher eng ver­bun­den; Hein­rich, der Pfar­rer von Ba­cha­rach, war nicht nur – wie er­wähnt – selbst An­dreas­herr, son­dern auch im 14. Jahr­hun­dert sind noch wei­te­re Mit­glie­der der Fa­mi­lie als Stifts­ka­no­ni­ker be­legt. Wo­mög­lich al­so hat­te auch hier Hein­rich die Fin­ger im Spiel; er hät­te dann an sei­nen bei­den Wir­kungs­stät­ten für ei­ne An­sied­lung der Wil­hel­mi­ten - so­zu­sa­gen „im Dop­pel­pack“ - ge­sorgt.

7. Fazit

Als Re­sü­mee un­se­res Blicks auf die An­fän­ge des Wern­er­kul­tes zu Ba­cha­rach und Ober­we­sel gilt es fest­zu­hal­ten, dass der „gu­te Wer­ner“ von An­fang an ein Ge­schöpf war, das nach ei­nem nach­weis­ba­ren Vor­bild – dem Kna­ben Wil­liam von Nor­wich – kre­iert wor­den ist. Auch die Ur­he­ber die­ser Krea­ti­on lie­ßen sich nam­haft ma­chen: es wa­ren schon im 13. Jahr­hun­dert der Ba­cha­ra­cher Orts­pfar­rer und sein Lan­des­herr, der Pfalz­graf, die sich ih­ren „Hei­li­gen“ er­schu­fen. Da­mit tref­fen wir be­reits für die Früh­zeit des Wern­er­kults auf ei­ne Per­so­nen­kon­stel­la­ti­on, die im 15. Jahr­hun­dert noch ein­mal be­geg­nen wird: In den Jah­ren zwi­schen 1426/1427 und 1429 wa­ren es der be­rühm­te Ba­cha­ra­cher Pfar­rer Wi­nand von Steeg (1371-1453) und Pfalz­graf Lud­wig III. (Re­gie­rungs­zeit 1410-1436), die für ei­ne Wie­der­be­le­bung des zwi­schen­zeit­lich er­lahm­ten Wern­er­kul­tes sorg­ten. Oh­ne an die­ser Stel­le wei­ter auf die­se Ak­ti­vi­tä­ten ein­ge­hen zu wol­len – das hat jüngst aus­führ­lich und in­struk­tiv Tho­mas Wetz­stein ge­tan –, steht da­mit nun fest, dass die bei­den Ak­teu­re des 15. Jahr­hun­derts sich bei ih­rem Han­deln schon in ei­ner Tra­di­ti­on be­weg­ten: Der „Fürs­ten­hei­li­ge“ war nicht, wie Wetz­stein mein­te, ihr Ge­schöpf, son­dern schon 140 Jah­re frü­her be­gann die Ge­schich­te vom Pfalz­gra­fen, sei­nem Pfar­rer und ih­rem ju­den­feind­li­chen Hei­li­gen, dem so­ge­nann­ten „gu­ten Wer­ner von Ober­we­sel (oder Ba­cha­rach)“. An die­sem Bei­spiel lässt sich al­so ein­drucks­voll stu­die­ren, wie das ge­hen konn­te im Mit­tel­al­ter mit der ho­hen Kunst, ei­nen Hei­li­gen zu er­schaf­fen.

Quellen

Die wich­tigs­ten ge­druck­ten Quel­len zum an­geb­li­chen „Ri­tu­al­mor­d“ von Ober­we­sel 1287
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Christ, Karl, Wer­ner von Ba­cha­rach. Ei­ne mit­tel­rhei­ni­sche Le­gen­de in Rei­men, in: Ot­to Glau­ning zum 60. Ge­burts­tag. Fest­ga­be aus Wis­sen­schaft und Bi­blio­thek, Band 2, Leip­zig 1938, S. 1-29.
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_Quel­len­grund­la­ge zum an­geb­li­chen “Ri­tu­al­mord” von Nor­wich 1144
_ Jess­opp, Au­gus­tus/Ja­mes, Mon­ta­gue R. (Hg.), The Life and Mi­ra­cles of St. Wil­liam of Nor­wich by Tho­mas of Mon­mouth, ed. from the uni­que Ma­nu­script, with an In­tro­duc­tion, Trans­la­ti­on, and No­tes, 1896.

Literatur (Auswahl)

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Mentgen, Gerd, Die Ri­tu­al­mord­af­fä­re um den „Gu­ten Wer­ner“ von Ober­we­sel und ih­re Fol­gen, in: Jahr­buch für west­deut­sche Lan­des­ge­schich­te 21 (1995), S. 159-198.
Schman­dt, Mat­thi­as, Der Pfalz­graf, sein Pfar­rer und der „gu­te Wer­ner“. Oder: Wie man zu Ba­cha­rach und Ober­we­sel ein an­ti­jü­di­sches Hei­lig­tum er­schuf (1287-1429), in: Jahr­buch für west­deut­sche Lan­des­ge­schich­te 38 (2012), S. 7-38
Pau­ly, Fer­di­nand, Zur Vi­ta des Wer­ner von Ober­we­sel. Le­gen­de und Wirk­lich­keit, in: Ar­chiv für mit­tel­rhei­ni­sche Kir­chen­ge­schich­te 16 (1994), S. 94-109.
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Wetz­stein, Tho­mas, Vom „Volks­hei­li­gen“ zum „Fürs­ten­hei­li­gen“. Die Wie­der­be­le­bung des Wern­er­kults im 15. Jahr­hun­dert, in: Ar­chiv für mit­tel­rhei­ni­sche Kir­chen­ge­schich­te 51 (1999), S. 11-68.
Zi­wes, Franz-Jo­sef, Stu­di­en zur Ge­schich­te der Ju­den im mitt­le­ren Rhein­ge­biet wäh­rend des ho­hen und spä­ten Mit­tel­al­ters, Han­no­ver 1995.

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Schmandt, Matthias, Der gute Werner von Oberwesel - oder die hohe Kunst, einen Heiligen zu erschaffen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/der-gute-werner-von-oberwesel---oder-die-hohe-kunst-einen-heiligen-zu-erschaffen/DE-2086/lido/57d11ef12fbdb9.27463534 (abgerufen am 28.03.2024)