Ernst Robert Curtius

Romanist und Literaturkritiker (1886-1956)

Andreas Jüngling (Bonn)

Ernst Robert Curtius, Porträtfoto. (Universitätsarchiv Bonn)

Ernst Ro­bert Cur­ti­us gilt als ei­ner der be­deu­tends­ten und in­ter­na­tio­nal an­ge­se­hens­ten Ro­ma­nis­ten und deutsch-fran­zö­si­scher Kul­tur­ver­mitt­ler der Uni­ver­si­tät Bonn

Ge­bo­ren wur­de Cur­ti­us am 14.4.1886 im el­säs­si­schen Thann. Die Fa­mi­lie hat­te im 19. Jahr­hun­dert be­reits ei­ne Rei­he be­deu­ten­der Ge­lehr­ter und For­scher her­vor­ge­bracht, zu de­ren be­kann­tes­ter sein Gro­ßva­ter, der Olym­pia-Aus­grä­ber Ernst Cur­ti­us (1814-1896), zu rech­nen ist. Ernst Ro­berts Va­ter Fried­rich Cur­ti­us (1851-1933) wirk­te als Kreis­di­rek­tor und Di­rek­to­ri­ums­prä­si­dent der Evan­ge­li­schen Kir­che Augs­bur­ger Kon­fes­si­on im El­sass. Sei­ne Mut­ter Loui­se Grä­fin von Er­lach-Hin­del­bank (1857-1919) er­schloss ihm schon früh die geis­ti­ge Wei­te des schwei­ze­risch-fran­zö­si­schen Adels mit sei­nen ver­wandt­schaft­li­chen Be­zie­hungs­ge­flech­ten, die bis nach Eng­land reich­ten.

Cur­ti­us er­fuhr im deutsch-fran­zö­si­schen Schmelz­tie­gel El­sass sei­ne tie­fe Prä­gung für das Tren­nen­de wie das Ver­bin­den­de bei­der Na­tio­nen. Nach dem En­de der gym­na­sia­len Schul­bil­dung 1903 nahm Cur­ti­us das Stu­di­um an der Uni­ver­si­tät Straß­burg auf, wo er haupt­säch­lich neue­re fran­zö­si­sche und eng­li­sche Phi­lo­lo­gie und Phi­lo­so­phie hör­te. Kur­ze Zeit stu­dier­te Cur­ti­us an der Uni­ver­si­tät Ber­lin, um 1907 wie­der nach Straß­burg zu­rück­zu­keh­ren und dort in die „Schu­le“ des Ro­ma­nis­ten Gus­tav Grö­ber (1844-1911) zu ge­hen, bei dem er 1910 pro­mo­viert wur­de. Grö­ber war es, der Cur­ti­us‘ In­ter­es­se für die mit­tel­la­tei­ni­sche Phi­lo­lo­gie weck­te. Von ihm über­nahm Cur­ti­us auch die Denk- und For­schungs­me­tho­de, dis­kur­siv vom De­tail aufs Gan­ze zu ge­hen. Von Grö­ber in­spi­riert nutz­te Cur­ti­us zwei Auf­ent­hal­te in Pa­ris, bei de­nen er 1908/1909 be­gann, Ma­te­ri­al für sei­ner Dis­ser­ta­ti­on – ei­ner kri­ti­sche Edi­ti­on der alt­fran­zö­si­schen Bi­bel­ab­schnit­te „Li Quat­re Li­v­re des Reis“ – zu sam­meln. Nach der Pro­mo­ti­on und dem Ein­jäh­rig-Frei­wil­li­gen Mi­li­tär­dienst in Straß­burg wand­te sich Cur­ti­us an den Grö­ber-Schü­ler Hein­rich Schnee­gans (1863-1914), der in Bonn ei­ne Pro­fes­sur der Ro­ma­nis­tik be­klei­de­te, um sich bei ihm ab 1913 über „Fer­di­nand Bru­n­e­tiè­re als Kri­ti­ker und His­to­ri­ker der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur“ (er­schie­nen als „Fer­di­nand Bru­n­e­tiè­re. Bei­trag zur Ge­schich­te der fran­zö­si­schen Kri­ti­k“) zu ha­bi­li­tie­ren.

Nach­dem Cur­ti­us er­folg­reich von der Bon­ner Phi­lo­so­phi­sche Fa­kul­tät ha­bi­li­tiert wor­den war, blieb ihm nicht mehr viel Ge­le­gen­heit, als Pri­vat­do­zent in Bonn zu wir­ken. Schon im Au­gust 1914 wur­de er ins Heer ein­ge­zo­gen, an­fangs in Frank­reich ein­ge­setzt, 1915 vor War­schau schwer ver­wun­det. Im sel­ben Jahr wur­de er als dau­er­haft dienst­un­taug­lich ent­las­sen. Ab 1916 un­ter­rich­te­te Cur­ti­us an der Uni­ver­si­tät Bonn wie­der, vor­zugs­wei­se über die Ge­schich­te der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur bis ins 19. Jahr­hun­dert. Ge­ra­de den Krieg ge­gen Frank­reich er­leb­te er als ei­ne Tra­gö­die. Kaum aus dem La­za­rett zu­rück­ge­kehrt mach­te er sich dar­an, die Vor­ar­bei­ten zu dem Buch wei­ter­zu­füh­ren, das ihn nach dem Krieg schlag­ar­tig be­kannt wer­den las­sen soll­te. Mit den 1919 er­schie­ne­nen „Li­te­ra­ri­schen Weg­be­rei­tern des neu­en Frank­reich“ such­te Cur­ti­us das na­tio­nals­te­reo­ty­pe Zerr­bild vie­ler Deut­scher von Frank­reich zu rich­ten. Da­bei lag es nicht in sei­nem An­sin­nen, die deut­schen Bil­der schlicht in Fra­ge zu stel­len, son­dern er be­müh­te sich viel­mehr, Per­sön­lich­kei­ten und Re­prä­sen­tan­ten ei­nes an­de­ren, li­be­ra­len Frank­reichs vor­zu­stel­len. Mit An­dré Gi­de (1869-1951), Ro­main Rolland (1866-1944), Paul Clau­del (1868-1955), An­dré Suarès (1868-1948) und Charles Pé­guy (1873-1914) hob Cur­ti­us fünf bis­lang un­be­kann­te Schrift­stel­ler und Dich­ter her­vor, de­ren äs­the­ti­sche An­schau­un­gen längst nicht mehr nur ei­ner gal­li­ka­nisch-zi­vi­li­sa­to­ri­schen Mis­si­on Frank­reichs fol­gen woll­ten. In ih­nen er­kann­te Cur­ti­us das Wir­ken ei­nes neu­en uni­ver­sel­len Geis­tes. Wie er er­streb­ten die­se Män­ner ge­gen den na­tio­na­lis­ti­schen Trend die Er­neue­rung der na­tio­na­len Iden­ti­tä­ten. Die­ses Ge­mein­sa­me der sich feind­se­lig ge­son­ne­nen Völ­ker er­blick­ten sie im grie­chisch-la­tei­ni­schen Ur­sprung der eu­ro­päi­schen Kul­tur. Auch wenn Cur­ti­us Frank­reichs uni­ver­sel­le Sen­dung aus dem Geist des rö­mi­schen Uni­ver­sa­lis­mus an­er­kann­te, so be­zog er doch auch po­le­misch und kri­tisch Stel­lung ge­gen die fran­zö­si­schen Rechts­ra­di­ka­len, wie er es 1921 mit sei­nem Buch „Mau­rice Bar­rès und die geis­ti­gen Grund­la­gen des fran­zö­si­schen Na­tio­na­lis­mus“ be­wies. In die­ser ab­wä­gen­den kul­tur­theo­re­ti­schen wie auch na­tio­nal­kul­tu­rel­len Denk­fi­gur kon­zen­trier­ten sich da­mit schon früh die wich­tigs­ten me­tho­di­schen wie in­halt­li­chen Über­zeu­gun­gen von Cur­ti­us. Sie ver­weist ins­be­son­de­re auf sein ste­tes Be­mü­hen, ei­nen of­fe­nen und ler­nen­den Bei­trag zu leis­ten, über den Ver­söh­nung und Freund­schaft der kul­tu­rel­len Eli­te Eu­ro­pas die Völ­ker des Kon­ti­nents zu Ver­ständ­nis, Frie­de und Ein­tracht zu füh­ren.

Ent­spre­chend ver­kehr­te Cur­ti­us in der Zwi­schen­kriegs­zeit im Zir­kel von Pon­ti­gny. In dem bur­gun­di­schen Ört­chen ver­sam­mel­ten sich mehr­fach jähr­lich gleich­ge­sinn­te In­tel­lek­tu­el­le und Schrift­stel­ler aus Frank­reich, Eng­land und Deutsch­land – von An­dré Gi­de über T.S. Eli­ot (1888-1965) bis Tho­mas Mann (1875-1955). Mit vie­len von ih­nen war Cur­ti­us per­sön­lich eng be­freun­det. Hier dis­ku­tier­te man so­wohl über phi­lo­so­phi­sche und äs­the­ti­sche Fra­gen wie auch über die Mög­lich­kei­ten, die na­tio­na­len Ge­gen­sät­ze hin zu ei­ner eu­ro­päi­schen Ein­heit zu über­win­den. Über­haupt las­sen sich die 1920er als die viel­leicht frucht­bars­ten und li­terarkri­tisch ein­fluss­reichs­ten Jah­re von Cur­ti­us be­zeich­nen. Ne­ben sei­ne 1923 er­schie­nen kri­ti­sche Wür­di­gung des Werks von Ho­no­ré de Balz­ac (1799-1850) zeich­ne­te er sich da­durch aus, Au­to­ren wie Ja­mes Joy­ce (1882-1941), T.S. Eli­ot, Mar­cel Proust (1871-1922) oder Paul Valé­ry (1871-1945) den Deut­schen be­kannt zu ma­chen. Oh­ne Zwei­fel ge­lang es Cur­ti­us mit sei­nen kri­ti­schen Schrif­ten, Au­to­ren zu ent­de­cken, de­ren Wer­ken ei­ne lan­ge Re­zep­ti­on und Re­le­vanz be­schie­den sein soll­te. Lei­ten ließ sich Cur­ti­us da­bei stets von sei­ner Über­zeu­gung, dass die li­te­ra­ri­schen Neue­rer, als die er sie er­blick­te, ganz im We­sen und Geist der „über­zeit­li­chen Tra­di­tio­nen“ (Gum­brecht) ein­ge­bet­tet wa­ren. Nur so schien ihm die kul­tu­rel­le Sub­stanz vor dem all­zu schnel­len und in sich iso­lier­ten Ex­zes­si­ven des Nur-Re­vo­lu­tio­nä­ren ge­wahrt und ge­schützt. Die­se kon­ser­va­ti­ve Ge­sin­nung war das Grund­mus­ter und das per­sön­li­che, wis­sen­schaft­li­che, kul­tu­rel­le wie li­te­ra­ri­sche Cre­do und Cha­rak­te­ris­ti­kum von Cur­ti­us.

Nach Sta­tio­nen als or­dent­li­cher Pro­fes­sor an den Uni­ver­si­tä­ten Mar­burg (1920-1924) und Hei­del­berg (1924-1929) ließ Cur­ti­us nicht da­von ab, sich auch nach sei­ner Be­ru­fung nach Bonn 1929 – zum Un­mut nicht we­ni­ger Fach­ro­ma­nis­ten – kul­tur­po­li­tisch zu en­ga­gie­ren. Ge­gen das Auf­kom­men der kul­tur­na­tio­na­lis­ti­sche Strö­mun­gen sei­ner Zeit, vor­züg­lich den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, pu­bli­zier­te er mit kon­ser­va­ti­ver Über­zeu­gung die viel­be­ach­te­te Schrift „Deut­scher Geist in Ge­fahr“. Ein­dring­lich warn­te er dar­in vor den sub­stanz­lo­sen Ver­ein­fa­chun­gen und Dog­ma­tis­men im deut­schen Kul­tur- und Wis­sen­schafts­le­ben, die er mit dem auf­kom­men­den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus dro­hen sah. Dem un­ge­ach­tet hei­ra­te­te der in­zwi­schen 43-jäh­ri­gen Cur­ti­us im Fe­bru­ar 1930 die fast zwei Jahr­zehn­te jün­ge­re Phi­lo­lo­gie­stu­den­tin Il­se Gsott­schnei­der (1907-2002), die Toch­ter ei­nes Mann­hei­mer Braue­rei­be­sit­zers, mit der er bis zu sei­nem To­de ver­bun­den blieb.

Nach der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me zog sich Cur­ti­us ganz aus der Öf­fent­lich­keit ins Ge­lehr­ten­le­ben zu­rück. Viel­leicht auch, um sich nicht po­li­tisch ver­däch­tig zu ma­chen, wand­te er sei­ne wis­sen­schaft­li­che Auf­merk­sam­keit dem la­tei­ni­schen Mit­tel­al­ter zu. Mit den fast ein Jahr­zehnt wäh­ren­den For­schun­gen knüpf­te Cur­ti­us mit dem Er­schei­nen sei­nes letz­ten gro­ßen Wer­kes „Eu­ro­päi­sche Li­te­ra­tur und la­tei­ni­sches Mit­tel­al­ter“ 1948 den Er­zähl­fa­den der „Weg­be­rei­ter“ fort. Noch ein­mal be­schwor er das ge­mein­sa­me kul­tu­rel­le Fun­da­ment der eu­ro­päi­schen Na­tio­nen. Die­ses glaub­te er nur vom „uni­ver­sa­len Stand­punk­t“ (so Cur­ti­us im Vor­wort der 2. Auf­la­ge 1953) der La­t­ini­tät aus vor­füh­ren zu kön­nen. Und noch ein­mal griff er die ge­sam­te Brei­te des kul­tur- und phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­chen Wis­sens auf, um so ei­nen Bei­trag zur in­ne­ren geis­ti­gen Fes­ti­gung und mo­ra­li­schen Ori­en­tie­rung zu leis­ten. Eben­so zeig­te er sich dar­in wei­ter­hin durch­drun­gen von der Über­zeu­gung, dass nur hu­ma­nis­tisch-kul­tu­rel­le Men­schen­bil­dung die Ba­sis bür­ger­li­cher Ge­sit­tung und Völ­ker­ver­stän­di­gung sein kann.

Heu­te wür­digt die Uni­ver­si­tät Bonn im Na­men des am 19.4.1956 in Rom ver­stor­be­nen Ro­ma­nis­ten all­jähr­lich be­son­de­re Leis­tun­gen in der deut­schen Es­say­is­tik. Die Ernst-Ro­bert-Cur­ti­us-Vor­le­sung des In­ter­na­tio­na­len Zen­trums für Phi­lo­so­phie NRW und das Bon­ner Uni­ver­si­täts-In­sti­tut für Phi­lo­so­phie lädt in­ter­na­tio­nal nam­haf­te Wis­sen­schaft­ler zu Kol­lo­qui­en und Vor­trä­gen ein. Die ste­te Prä­senz von Cur­ti­us in Bonn er­schlie­ßt sich eben­falls mit ei­ner ihm ge­wid­me­ten Stra­ße im Nor­den der Stadt. Mit­hin sym­bo­li­siert und re­prä­sen­tiert Cur­ti­us das Rhein­land als Brü­cke zwi­schen Deutsch­land und Frank­reich, für de­ren Ver­stän­di­gung er sich fast zeit sei­nes Le­bens mit der Kraft der Ge­dan­ken und des Geis­tes ein­setz­te.

Werke (Auswahl)

Die li­te­ra­ri­schen Weg­be­rei­ter des neu­en Frank­reich, Pots­dam 1919.
Balz­ac, Bonn 1923.
Fran­zö­si­scher Geist im neu­en Eu­ro­pa, Stutt­gart 1925.
Ja­mes Joy­ce und sein Ulys­ses, Zü­rich 1929.
Frank­reich, Band 1: Die fran­zö­si­sche Kul­tur, Stutt­gart 1930.
Deut­scher Geist in Ge­fahr, Stutt­gart 1932.
Eu­ro­päi­sche Li­te­ra­tur und la­tei­ni­sches Mit­tel­al­ter, Bern 1948.

Literatur

Theis, Rai­mund: Auf der Su­che nach dem bes­ten Frank­reich. Zum Brief­wech­sel von Ernst Ro­bert Cur­ti­us mit An­dré Gi­de und Charles Du Bos, Frank­furt/Main 1984.
Ber­schin, Wal­ter/Ro­the, Ar­nold (Hg.), Ernst Ro­bert Cur­ti­us. Werk, Wir­kung, Zu­kunfts­per­spek­ti­ven. Hei­del­ber­ger Sym­po­si­on zum hun­derts­ten Ge­burts­tag 1986, Hei­del­berg 1989.
Lan­ge, Wolf-Die­ter (Hg.), „In ih­nen be­geg­net sich das Abend­lan­d“. Bon­ner Vor­trä­ge zur Er­in­ne­rung an Ernst Ro­bert Cur­ti­us, Bonn 1990.
Laus­berg, Hein­rich, Ernst Ro­bert Cur­ti­us (1886-1956). Aus dem Nach­laß hg. und ein­ge­lei­tet von Ar­nold Arens, Stutt­gart 1993.
Gum­brecht, Hans Ul­rich, Vom Le­ben und Stre­ben der gro­ßen Ro­ma­nis­ten. Karl Voss­ler, Ernst Ro­bert Cur­ti­us, Leo Spit­zer, Erich Au­er­bach, Wer­ner Krauss, Mün­chen 2002, S. 49-71.

Online

Laus­berg, Hein­rich, Cur­ti­us, Ernst Ro­bert, in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie. [On­line]
Nach­lass von Ernst Ro­bert Cur­ti­us in der Uni­ver­si­täts- und Lan­des­bi­blio­thek Bonn. [On­line]

 
Zitationshinweis

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Jüngling, Andreas, Ernst Robert Curtius, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ernst-robert-curtius-/DE-2086/lido/57c68f42d23db7.06481507 (abgerufen am 28.03.2024)