Dorothee Sölle

Theologin (1929-2003)

Nina Streeck (München)

Dorothee Sölle auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag, 7.–11.6.1989. (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland / Hans Lachmann CC BY-SA 3.0)

Ob­wohl sie in Deutsch­land nie ei­nen theo­lo­gi­schen Lehr­stuhl in­ne­hat­te, ge­hör­te Do­ro­thee Söl­le zu den be­kann­tes­ten Theo­lo­gin­nen des 20. Jahr­hun­derts. Sie selbst sah sich ger­ne als frei­schaf­fen­de „Theo­lo­gie­ar­bei­te­rin“ – und das hat­te sei­nen Grund, fand sie doch ge­ra­de bei Men­schen Ge­hör, die sich von der tra­di­tio­nel­len Kir­che ver­ab­schie­det hat­ten. 

Do­ro­thee Söl­le wur­de am 30.9.1929 als vier­tes von fünf Kin­dern des Ju­ris­ten und Hoch­schul­leh­rers Hans Carl Nip­per­dey (1895-1968), spä­ter Vor­sit­zen­der des Bun­des­ar­beits­ge­richts in Kas­sel, und sei­ner Frau Hil­de­gard, ge­bo­re­ne Ei­ßer (1903-1990) in Köln ge­bo­ren. Ihr Bru­der war der His­to­ri­ker Tho­mas Nip­per­dey. Die Fa­mi­lie ge­hör­te dem li­be­ra­len Bür­ger­tum an; dem Chris­ten­tum be­geg­ne­te man freund­lich, aber dis­tan­ziert, der Kir­che eher kri­tisch. Die jun­ge Do­ro­thee ge­noss ei­ne gu­te Bil­dung und spiel­te be­geis­tert Kla­vier. 1949 be­gann sie ein Stu­di­um der Phi­lo­so­phie und Klas­si­schen Phi­lo­lo­gie in Köln, wech­sel­te aber zwei Jah­re spä­ter zur evan­ge­li­schen Theo­lo­gie und Ger­ma­nis­tik und führ­te ih­re Stu­di­en in Frei­burg und Göt­tin­gen fort. 

Vor al­lem ei­ne Fra­ge hat­te sie mo­ti­viert, sich der Theo­lo­gie zu­zu­wen­den: Wie war es mög­lich, dass das li­be­ra­le Bür­ger­tum – das Um­feld, aus dem sie selbst stamm­te – sich nicht ent­schie­de­ner ge­gen Hit­ler zur Wehr setz­te, wie konn­te Ausch­witz ge­sche­hen? In der Phi­lo­so­phie hat­te sie sich mit dem Exis­ten­zia­lis­mus und dem Ni­hi­lis­mus, mit Fried­rich Nietz­sche (1844-1900), Mar­tin Hei­deg­ger (1889-1976) und Jean-Paul Sart­re (1905-1980), aus­ein­an­der­ge­setzt, und es war der dä­ni­sche Phi­lo­soph Sö­ren Kier­ke­gaard (1813-1855) der ihr mit sei­nem Den­ken Mut mach­te, den Sprung in den Glau­ben zu wa­gen. 

 

1954 hei­ra­te­te Do­ro­thee Söl­le den Ma­ler Diet­rich Söl­le (ge­bo­ren 1922), von dem sie je­doch zehn Jah­re spä­ter wie­der ge­schie­den wur­de. Nach ih­rem Staats­ex­amen ver­fass­te sie ei­ne Dis­ser­ta­ti­on über die „Nacht­wa­chen des Bo­na­ven­tura“, in der sie ihr In­ter­es­se an Li­te­ra­tur und Theo­lo­gie ver­bin­den konn­te. Der Pro­mo­ti­on folg­te ei­ne An­stel­lung als Leh­re­rin für Deutsch und Re­li­gi­on an ei­ner Köl­ner Mäd­chen­schu­le, au­ßer­dem war sie als freie Mit­ar­bei­te­rin für Rund­funk und Zeit­schrif­ten tä­tig. 1969 hei­ra­te­te sie er­neut, den ehe­ma­li­gen Be­ne­dik­ti­ner­pa­ter Ful­bert Stef­fens­ky (ge­bo­ren 1933), mit dem sie 1970 ei­ne wei­te­re Toch­ter be­kam. 1971 ha­bi­li­tier­te sie sich an der Phi­lo­so­phi­schen Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät Köln. Ei­ne Hoch­schul­kar­rie­re blieb ihr je­doch ih­rer theo­lo­gi­schen und po­li­ti­schen An­sich­ten we­gen in Deutsch­land ver­wehrt; auch ihr Le­bens­weg als al­lein­er­zie­hen­de Mut­ter drei­er Töch­ter mag da­zu bei­ge­tra­gen ha­ben. Zwi­schen 1972 und 1987 un­ter­rich­te­te sie aber am Uni­on Theo­lo­gi­cal Se­mi­na­ry in New York auf dem Lehr­stuhl von Paul Til­lich (1886-1965) sys­te­ma­ti­sche Theo­lo­gie und hat­te wei­te­re Gast­pro­fes­su­ren im Aus­land in­ne. 

1968 war sie Mit­in­itia­to­rin des Po­li­ti­schen Nacht­ge­bets, das vor dem Hin­ter­grund des Viet­nam­krie­ges erst­mals auf dem Deut­schen Ka­tho­li­ken­tag in Es­sen ver­an­stal­tet wur­de. Po­li­ti­sche In­for­ma­tio­nen und Dis­kus­sio­nen ver­bun­den mit ei­ner Me­di­ta­ti­on bib­li­scher Tex­te und ei­ner Pre­digt präg­ten die Ver­an­stal­tung, die bis 1972 mo­nat­lich in der Köl­ner An­to­ni­ter­kir­che durch­ge­führt wur­de, nach­dem der Köl­ner Erz­bi­schof Jo­sef Kar­di­nal Frings ver­bo­ten hat­te, da­s ­Nacht­ge­bet in ei­ner ka­tho­li­schen Kir­che durch­zu­füh­ren. Ge­sell­schaft­lich bri­san­te The­men wie der Ter­ro­ris­mus der Baa­der-Mein­hof-Grup­pe, die Bun­des­tags­wah­len oder die So­li­da­ri­tät mit La­tein­ame­ri­ka präg­ten die Ver­an­stal­tung. Do­ro­thee Söl­le zog schon beim ers­ten Po­li­ti­schen Nacht­ge­bet den Un­mut so­wohl der evan­ge­li­schen als auch der ka­tho­li­schen Kir­chen­lei­tung auf sich, in­dem sie ein be­rühmt ge­wor­de­nes, selbst­ver­fass­tes Glau­bens­be­kennt­nis sprach. 

Für Do­ro­thee Söl­le ge­hör­ten Glau­ben und Po­li­tik, Be­ten und Han­deln zu­sam­men; „Je­der theo­lo­gi­sche Satz muss auch ein po­li­ti­scher sein“, for­mu­lier­te sie in ih­rer Au­to­bio­gra­phie „Ge­gen­win­d“. Sie ver­trat ei­ne Theo­lo­gie der ra­di­ka­len Dies­sei­tig­keit und plä­dier­te für ei­ne Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung der Bi­bel. Das Wort Got­tes war für sie nicht vom Le­ben zu tren­nen, ja, sie hielt Got­tes Wir­ken in der Welt für ge­bun­den an un­ser Han­deln („Gott hat kei­ne an­de­ren Hän­de als un­se­re“). 

Fulbert Steffensky mit Dorothee Sölle und ihren Kindern auf ihrer Hochzeit 1969. (CC BY-SA 3.0 / Hans Lachmann)

 

Den Ge­kreu­zig­ten fand sie im Viet­nam­krieg – und nicht in sa­kra­len Räu­men hin­ter Kir­chen­mau­ern. Von Nietz­sche über­nahm sie den Ge­dan­ken vom Tod Got­tes. Sie frag­te sich, wie man „athe­is­tisch an Gott glau­ben“ kön­ne – ein Satz, der auch Ti­tel ei­nes ih­rer Bü­cher wur­de. Gott war für sie in der Kir­che nicht mehr zu fin­den, wohl aber, so mein­te sie, be­geg­net uns Chris­tus als Stell­ver­tre­ter Got­tes in vie­len Brü­dern und Schwes­tern. Aus dem Wunsch nach ei­nem chris­tus­för­mi­gen Le­ben er­gab sich für sie die Not­wen­dig­keit ei­ner wi­der­stän­di­gen Mys­tik, wie auch ei­nes ih­rer letz­ten Bü­cher, „Mys­tik und Wi­der­stan­d“, be­zeugt, in dem sie sich da­mit be­fass­te, „wie sich Mys­ti­ker ver­schie­de­ner Zei­ten zu und in ih­rer Ge­sell­schaft ver­hal­ten ha­ben“.  

Der Spra­che der Wis­sen­schaft miss­trau­te sie, hielt de­ren re­li­giö­se Be­griff­lich­keit für er­starrt und theo­lo­gisch ent­leert, wes­halb sie nach neu­en Aus­drucks­wei­sen such­te, um über Gott re­den zu kön­nen. In der Poe­sie, Ma­le­rei und Mu­sik ent­deck­te sie ei­ne nicht-re­li­giö­se In­ter­pre­ta­ti­on theo­lo­gi­sche Be­grif­fe und The­men und er­schuf selbst ei­ne „The­o­poe­sie“. Ne­ben theo­lo­gi­schen Bü­chern ver­fass­te sie Ge­dicht­bän­de und Rund­funk­stü­cke. Sie reis­te viel durch Deutsch­land, um in je­der noch so klei­nen Ge­mein­de und in Volks­hoch­schu­len vor­zu­tra­gen, und konn­te mit ih­rer ent­schie­de­nen und kraft­vol­len Spra­che vie­le Men­schen, ge­ra­de kir­chen­fer­ne, mit­rei­ßen.

Nach wie vor hielt sie auch das The­ma Ho­lo­caust und Na­tio­nal­so­zia­lis­mus in Atem und ver­an­lass­te sie, sich der Frie­dens­be­we­gung zu­zu­wen­den. In den 1980er Jah­ren mach­te sie sich stark ge­gen den Na­to-Dop­pel­be­schluss zur Nach­rüs­tung. Zwei­mal wur­de sie we­gen ver­such­ter Nö­ti­gung ver­ur­teilt; zum ers­ten Mal we­gen ih­rer Teil­nah­me an Sitz­blo­cka­den vor den Na­to-Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten in Mut­lan­gen, ein wei­te­res Mal im Zu­ge des Pro­tests ge­gen US-ame­ri­ka­ni­sche Gift­gas­de­pots in Fisch­bach. 1983 pro­vo­zier­te sie ei­nen Skan­dal, als sie vor dem Öku­me­ni­schen Rat der Kir­chen in Van­cou­ver sag­te: „Ich spre­che zu Ih­nen als ei­ne Frau, die aus ei­nem der reichs­ten Län­der der Welt kommt; ei­nem Land mit ei­ner blu­ti­gen, nach Gas stin­ken­den Ge­schich­te“. 

Sie in­ter­es­sier­te sich auch für die la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Be­frei­ungs­theo­lo­gie, un­ter­nahm Rei­sen nach Ni­ca­ra­gua und El Sal­va­dor und un­ter­stütz­te Ba­sis­ge­mein­den und Wi­der­stands­be­we­gun­gen. Die Be­frei­ungs­theo­lo­gie weck­te ihr ver­stärk­tes In­ter­es­se an der Bi­bel, vor al­lem dem Neu­en Tes­ta­ment, dem sie sich fort­an ge­mein­sam mit ih­rer Freun­din, der Neu­tes­ta­ment­le­rin Lui­se Schot­t­roff (ge­bo­ren 1934) wid­me­te, mit der sie meh­re­re Bü­cher her­aus­gab und auf Evan­ge­li­schen Kir­chen­ta­gen Bi­bel­ar­bei­ten und Dis­kus­sio­nen durch­führ­te. Im Rah­men ih­res ge­sell­schafts­po­li­ti­schen In­ter­es­ses en­ga­gier­te sie sich auch für den Fe­mi­nis­mus und kämpf­te für mehr Selbst­be­stim­mung von Frau­en in Kir­che und Ge­sell­schaft. 

Ge­gen En­de ih­res Le­bens trat sie ver­mehrt ge­mein­sam mit ih­rem Mann Ful­bert Stef­fens­ky auf, der Pro­fes­sor für Re­li­gi­ons­päd­ago­gik in Ham­burg war. Er war bei ihr, als sie am 27.4. 2003 nach ei­ner Le­sung in Göp­pin­gen starb. 

Werke (Auswahl)

Stell­ver­tre­tung. Ein Ka­pi­tel Theo­lo­gie nach dem 'To­de Got­tes', Stutt­gart 1965, er­wei­ter­te Neu­auf­la­ge 1982.
Athe­is­tisch an Gott glau­ben. Bei­trä­ge zur Theo­lo­gie, Ol­ten und Frei­burg, 1968.
Phan­ta­sie und Ge­hor­sam. Über­le­gun­gen zu ei­ner künf­ti­gen christ­li­chen Ethik, Stutt­gart, 1968.
Lei­den, Stutt­gart, 1973.
Die re­vo­lu­tio­nä­re Ge­duld. Ge­dich­te, Ber­lin, 1974.
Wählt das Le­ben, Stutt­gart, 1980.   Auf­rüs­tung tö­tet auch oh­ne Krieg, Stutt­gart, 1982.
Ver­rückt nach Licht. Ge­dich­te, Ber­lin, 1984.
Lie­ben und ar­bei­ten. Ei­ne Theo­lo­gie der Schöp­fung, Stutt­gart, 1985 .
Und ist noch nicht er­schie­nen, was wir sein wer­den. Sta­tio­nen fe­mi­nis­ti­scher Theo­lo­gie, Mün­chen, 1987.
Es muss doch mehr als al­les ge­ben. Nach­den­ken über Gott, Ham­burg, 1992.
Ge­gen­wind. Er­in­ne­run­gen, Ham­burg, 1995.
Mys­tik und Wi­der­stand - »Du stil­les Ge­schrei«, Ham­burg, 1997.

Literatur

Re­na­te Wind, Do­ro­thee Söl­le, Re­bel­lin und Mys­ti­ke­rin, Stutt­gart 2008.
Ralph Lud­wig, Die Pro­phe­tin, Wie Do­ro­thee Söl­le Mys­ti­ke­rin wur­de, Ber­lin 2009.
Brit­ta Baas, Jo­han­na Jä­ger-Som­mer, Do­ro­thee Söl­le, Ei­ne feu­ri­ge Wol­ke in der Nacht, Ober­ur­sel 2004.

Online

Do­ro­thee Söl­le, Bio­gra­phie (In­for­ma­ti­on auf der Web­site Fem­Bio.org des Fem­Bio Frau­en-Bio­gra­phie­for­schung e.V.). [On­line]
Ge­den­ken­sei­te Do­ro­thee Söl­le, dort u.a. die 12 bän­di­ge Werk­aus­ga­be im Au­dio-Stream. [On­line]

Dorothee Sölle beim politischen Nachtgebet 1969. (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland / Hans Lachmann CC BY-SA 3.0 DE)

 
Zitationshinweis

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Streeck, Nina, Dorothee Sölle, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/dorothee-soelle/DE-2086/lido/57c9529636ad16.61654631 (abgerufen am 18.04.2024)