Hans von Kleist-Retzow

Konservativer Politiker, Oberpräsident der Rheinprovinz (1814–1892)

Joachim Lilla (Krefeld)

Hans von Kleist-Retzow, undatiert. (Pommersche Lebensbilder, Bd. II. Stettin: Saunier 1936, S. 128 rechts)

Der Pom­mer Hans von Kleist-Ret­zow war ei­ner der be­deu­tends­ten Köp­fe der Kon­ser­va­ti­ven, ein en­ger Freund Bis­marcks (1815–1898), spä­ter des­sen kon­ser­va­ti­ver Kri­ti­ker. Als Ober­prä­si­dent ver­moch­te der „Ver­tre­ter ei­nes welt­frem­den re­ak­tio­nä­ren Sys­tem­s“ (Pe­ters­dorff in ADB) es we­gen sei­nes ri­gi­den Vor­ge­hens nicht, die Men­schen in der Rhein­pro­vinz für sich zu ge­win­nen. 1858 er­folg­te sei­ne Ab­lö­sung. Fort­an kon­zen­trier­te Kleist-Ret­zow sei­ne po­li­ti­sche Tä­tig­keit auf das Preu­ßi­sche Her­ren­haus, war Mit­glied des pom­mer­schen Pro­vin­zi­al­land­tags (ab 1860), des Reichs­tags (ab 1877) und Ver­tre­ter in syn­oda­len Gre­mi­en der evan­ge­li­schen Kir­che.

Hans Hu­go von Kleist-Ret­zow wur­de am 25.11.1814 in Kieckow bei Groß-Ty­chow im Kreis Bel­gard (Pom­mern) als Sohn des Land­rats Hans-Jür­gen von Kleist-Ret­zow (1771–1844) und sei­ner Ehe­frau Au­gus­te ge­bo­re­ne von Borcke (1778–1847) ge­bo­ren. Die Mut­ter war in ers­ter Ehe mit Fried­rich von Gla­sen­app (1770-1810) ver­hei­ra­tet ge­we­sen war. Die Fa­mi­lie ge­hör­te zum pom­mer­schen Ura­del und war evan­ge­lisch-lu­the­risch. 

Kleist wur­de ab 1824 zu­nächst im Pfarr­haus von Groß-Ty­chow un­ter­rich­tet. 1828 wech­sel­te er auf die Lan­des­schu­le Pfor­ta, wo er am 1.9.1834 als Pri­mus Por­ten­sis die Rei­fe­prü­fung ab­leg­te. An­schlie­ßend dien­te er acht Mo­na­te als Frei­wil­li­ger beim 5. (Blü­cher’schen) Hu­sa­ren­re­gi­ment in Bel­gard. Von 1835 bis 1838 stu­dier­te er Rechts- und Ka­me­ral­wis­sen­schaf­ten so­wie Ge­schich­te in Ber­lin und Göt­tin­gen. Am 11.8.1838 ab­sol­vier­te er das Aus­kulta­tor­ex­amen, der sich die ju­ris­ti­sche Aus­bil­dung bei Ber­li­ner Ge­rich­ten an­schloss. Ab 4.5.1841 war er als Ge­richts­re­fe­ren­dar beim Ober­lan­des­ge­richt in Frank­furt/Oder tä­tig; das As­ses­sor­ex­amen be­stand er am 13.9.1844.

Be­reits am 23.5.1844 war Kleist - nicht oh­ne ört­li­chen Wi­der­stand - in das Amt des Land­rats in Bel­gard ge­wählt wor­den, am 1. Ok­to­ber er­hielt er die Er­nen­nung durch die Re­gie­rung in Kös­lin, die Amts­ein­füh­rung er­folg­te am 6. No­vem­ber. In sei­ner re­li­giö­sen, welt­an­schau­li­chen wie po­li­ti­schen Ori­en­tie­rung ge­prägt vom Pie­tis­mus der pom­me­ri­schen Er­we­ckungs­be­we­gung, kam er in den 1840er Jah­ren in en­ge Be­zie­hun­gen zur Füh­rungs­grup­pe der preu­ßi­schen Kon­ser­va­ti­ven, dar­un­ter Leo­pold und Ernst Lud­wig von Ger­lach (1790-1861, 1795-1877) Fried­rich Ju­li­us Stahl (1802-1861), Her­mann Wa­ge­ner (1815-1889) und Bis­marck. 1847 war er Mit­glied des Ver­ei­nig­ten Land­tags. Auf Grund sei­ner star­ken red­ne­ri­schen Fä­hig­kei­ten wur­de Kleist-Ret­zow wäh­rend der Re­vo­lu­ti­ons­jah­re 1848/1849 zu ei­nem Wort­füh­rer der Re­ak­ti­on. Er war Vor­sit­zen­der des im Au­gust 1848 in Ber­lin ta­gen­den „Jun­ker­par­la­ments“, ge­hör­te zum Grün­der­kreis der „Neu­en Preu­ßi­schen Zei­tun­g“ („Kreuz­zei­tun­g“) und war 1848 Mit­be­grün­der der kon­ser­va­ti­ven Zei­tung „Der Pom­mer“. Als Mit­glied der Zwei­ten Kam­mer des Preu­ßi­schen Ab­ge­ord­ne­ten­hau­ses 1848-1852 ver­focht er die kon­ser­va­ti­ven In­ter­es­sen bei der Ver­fas­sungs­re­vi­si­on. Ei­ne Mit­wir­kung in der Staats­re­gie­rung lehn­te er al­ler­dings stets ab. 1850 ge­hör­te er als von der preu­ßi­schen Re­gie­rung er­nann­tes Mit­glied dem Staa­ten­haus des Deut­schen Par­la­ments, dem Uni­ons­par­la­ment in Er­furt an.

1849-1851 leb­te er wäh­rend der Par­la­ments­ses­sio­nen mit dem seit sei­ner Ehe mit Kleists Nich­te Jo­han­na von Putt­ka­mer (1824-1894) be­freun­de­ten Ot­to von Bis­marck in ei­ner Woh­nung in der Jä­ger­stra­ße in Ber­lin ei­ne fried­fer­ti­ge Ehe[1], wo­bei die bei­den Freun­de wech­sel­sei­tig nach­hal­tig auf ih­re po­li­ti­schen und re­li­giö­sen Vor­stel­lun­gen ein­wirk­ten.

Am 24.7.1851 hei­ra­te­te Kleist in Ber­lin Char­lot­te Grä­fin zu Stol­berg-Wer­ni­ge­ro­de (1821–1885), Toch­ter des Gra­fen An­ton zu Stol­berg-Wer­ni­ge­ro­de (1785–1854), preu­ßi­scher Staats­mi­nis­ter, en­ger Ver­trau­ter und Ge­ne­ral­ad­ju­tant Kö­nig Fried­rich Wil­helms IV. (Re­gent­schaft 1840-1858, ge­stor­ben 1861) so­wie Ver­trau­ter des Prin­zen Wil­helm von Preu­ßen, dem spä­te­ren Kö­nig und Kai­ser Wil­helm I. (Re­gent­schaft ab 1858, Kö­nig 1861-1888, seit 1871 Deut­scher Kai­ser). Aus der Ehe gin­gen zwei Söh­ne und ei­ne Toch­ter her­vor.

Durch die Hei­rat kam Kleist-Ret­zow in Ver­bin­dung mit der weit­ver­zweig­ten und ein­fluss­rei­chen Fa­mi­lie sei­ner Ehe­frau, die sich auch auf sei­ne be­ruf­li­che Lauf­bahn aus­wirk­te. Durch Ka­bi­netts­ord­re vom 2.7.1851 wur­de er zum Re­gie­rungs­prä­si­den­ten in Kös­lin be­stellt, trat die­se Stel­le je­doch nicht an, weil be­reits ei­nen Tag spä­ter sei­ne Er­nen­nung zum Ober­prä­si­den­ten der Rhein­pro­vinz er­folg­te. Die­ses Amt trat er am 31. Ju­li an. Er sah vor al­lem sei­ne Auf­ga­be dar­in, ein kon­ser­va­ti­ves Ge­gen­ge­wicht zu den li­be­ra­li­sie­ren­den Ten­den­zen sei­nes Vor­gän­gers Ru­dolf von Au­ers­wald (1795–1866) zu bil­den und, den Zie­len der Hof­ka­ma­ril­la ent­spre­chend, die Ge­mein­de­ord­nung von 1850 ab­zu­schaf­fen be­zie­hungs­wei­se ei­ne neue Ge­mein­de­ord­nung auf der Grund­la­ge der Ge­mein­de­ord­nung von 1845 zu schaf­fen so­wie an der Re­sti­tu­ie­rung der Pro­vin­zi­al­stän­de mit­zu­wir­ken.

In der Rhein­pro­vinz soll­te der Ober­prä­si­dent durch die zum Teil ri­gi­de Schär­fe sei­ner Maß­nah­men, auch auf kir­chen­po­li­ti­schem Ge­biet, na­he­zu al­le ge­gen sich ha­ben: Die Be­völ­ke­rung, ih­rer Men­ta­li­tät, ih­rer Kon­fes­si­on und ih­rer So­zi­al­struk­tur nach, die meist li­be­ral ein­ge­stell­te Be­am­ten­schaft und vor al­lem den Prin­zen von Preu­ßen, dem seit 1849 als Mi­li­tär­gou­ver­neur der Rhein­pro­vinz am­tie­ren­den als eher li­be­ral gel­ten­den Prin­zen Wil­helm, be­son­ders aber des­sen Frau Au­gus­ta (1811–1890). Häus­li­che Que­re­len zwi­schen dem Prin­zen­paar und dem Ober­prä­si­den­ten, die ge­mein­sam das Schloss in Ko­blenz be­wohn­ten, blie­ben nicht aus. Der eher jun­ker­haf­te Kleist, nach Bis­marcks Wor­ten eher an amt­li­che als an hö­fi­sche Be­zie­hun­gen ge­wöhnt, be­trach­te­te […] sei­ne Exis­tenz im Schlos­se und im Schlo­ßgar­ten als ei­ne Ver­tre­tung der kö­nig­li­chen Präro­ga­ti­ve im Ge­gen­halt zu an­geb­li­chen Ue­ber­grif­fen des prinz­li­chen Haus­halts und glaub­te ehr­lich, dem Kö­ni­ge, sei­nem Herrn, et­was zu ver­ge­ben, wenn er der Ge­mah­lin des Thron­er­ben ge­gen­über in Be­treff der wirth­schaft­li­chen Nut­zung häus­li­cher Lo­ca­le die ober­prä­si­dia­len An­sprü­che ge­gen die des prinz­li­chen Ho­fes nicht en­er­gisch ver­trat.[2] Das blieb nicht oh­ne Fol­gen. Nach der Er­kran­kung Fried­rich Wil­helms IV. ver­setz­te der nun­meh­ri­ge Prinz­re­gent Wil­helm den Ober­prä­si­den­ten Kleist-Ret­zow am 27.11.1858 in den einst­wei­li­gen Ru­he­stand, da er in der To­ta­li­tät sei­ner An­schau­un­gen und Auf­fas­sun­gen sich mit den Ver­hält­nis­sen der Rhein­pro­vinz nicht in dem Ein­klang be­fin­de.[3]

Den­noch soll­ten Kleist-Ret­zows Ver­diens­te um die Rhein­pro­vinz nicht un­er­wähnt blei­ben: Mit­wir­kung an der Aus­ge­stal­tung der Rhei­ni­schen Städ­te­ord­nung von 1856, Neu­ge­stal­tung der Land­wirt­schaft­li­chen Hoch­schu­le in Pop­pels­dorf (heu­te Stadt Bonn), Aus­bau des We­ge- und Ei­sen­bahn­net­zes, In­iti­ie­rung der Me­lio­ra­ti­on der Ei­fel so­wie bes­se­rer Be- und Ent­wäs­se­rung von Niers und Erft.

 

Nach dem Miss­er­folg in der Rhein­pro­vinz be­schränk­te Kleist-Ret­zow sei­ne po­li­ti­sche Ar­beit auf das preu­ßi­sche Her­ren­haus, in das er am 1.2.1858 auf Prä­sen­ta­ti­on für den Ver­band des pom­mer­schen Ge­schlech­tes von Kleist be­ru­fen wor­den und am 2. März ein­ge­tre­ten war. Dort wur­de er als Spre­cher der „Al­ten Frak­ti­on“ zum wich­tigs­ten Ex­po­nen­ten des Kamp­fes ge­gen die li­be­ra­le Ma­jo­ri­tät des Ab­ge­ord­ne­ten­hau­ses. Sei­ne Freund­schaft mit Bis­marck, des­sen Po­li­tik er lan­ge Zeit un­ter­stütz­te, en­de­te 1872 in der Kul­tur­kampf­zeit mit der Ab­leh­nung des Schul­auf­sichts­ge­set­zes, das un­ter an­de­rem den Bruch Bis­marcks mit den Kon­ser­va­ti­ven be­ding­te. Im Ver­lau­fe ei­nes Ge­sprächs wohl am 5.3.1872 äu­ßer­te Bis­marck: Hans, wenn es so steht, dann ist es aus zwi­schen uns bei­den.[4] Ei­ne Ver­söh­nung blieb zwar nicht aus, sie er­folg­te 1878, wenn­gleich wohl nur vor­der­grün­dig, im Rah­men der Be­ra­tun­gen des So­zia­lis­ten­ge­set­zes im Reichs­tag, dem Kleist von 1877 an bis zu sei­nem Tod als kon­ser­va­ti­ver Ab­ge­ord­ne­ter an­ge­hör­te.

Au­ßer­halb sei­ner po­li­ti­schen Tä­tig­keit wirk­te Kleist seit 1858 als Rit­ter­guts­be­sit­zer auf Gut Kieckow, nahm Funk­tio­nen in ver­schie­de­nen syn­oda­len Gre­mi­en der evan­ge­li­schen Kir­che wahr, war Amts­vor­ste­her, Mit­glied des Kreis­ta­ges Bel­gard und seit 1867  auch Mit­glied des Pro­vin­zi­al­land­ta­ges der Pro­vinz Pom­mern.

1883 ver­lieh ihm Kai­ser Wil­helm I. den Cha­rak­ter ei­nes Wirk­li­chen Ge­hei­men Rats mit dem Prä­di­kat „Ex­zel­len­z“. Kleist war Eh­ren­bür­ger von Bel­gard (1884) und Polzin (1855), In­ha­ber des Ro­ten Ad­ler-Or­dens 3. Klas­se, der 2. Klas­se mit Stern so­wie des Kom­tu­r­kreu­zes des Ho­hen­zol­lern­schen Haus­or­dens. Kleist starb am 19.5.1892 auf Gut Kieckow.

Quellen

Bis­marck, Ot­to von, Ge­dan­ken und Er­in­ne­run­gen, be­arb. v. Mi­cha­el Ep­ken­hans,u. Eber­hard Kolb (Ot­to von Bis­marck, Ge­sam­mel­te Wer­ke, Neue Fried­richs­ru­her Aus­ga­be <NFA>, Abt. 4, Pa­der­born [u. a.] 2012. 

Literatur

Bär, Max, Die Be­hör­den­ver­fas­sung der Rhein­pro­vinz seit 1815, Bonn 1919, ND Düs­sel­dorf 1998.
Haun­fel­der, Bernd, Die kon­ser­va­ti­ven Ab­ge­ord­ne­ten des Deut­schen Reichs­ta­ges 1871–1918. Ein bio­gra­phi­sches Hand­buch, Müns­ter 2010, S. 154-156.
Len­ge­mann, Jo­chen, Das Deut­sche Par­la­ment (Er­fur­ter Uni­ons­par­la­ment) von 1850. Ein Hand­buch: Mit­glie­der, Amts­trä­ger, Le­bens­da­ten, Frak­tio­nen, Mün­chen/Je­na 2000, S. 185-188 [bio­gra­phi­sche Da­ten].
Pe­terss­dorff, Her­man von, Kleist-Ret­zow. Ein Le­bens­bild, Stutt­gart/Ber­lin 1907.
Ro­meyk, Horst, Die lei­ten­den staat­li­chen und kom­mu­na­len Ver­wal­tungs­be­am­ten der Rhein­pro­vinz 1816–1945, Düs­sel­dorf 1994, S. 573-574.
Schütz, Rü­di­ger, Die preu­ßi­schen Ober­prä­si­den­ten von 1815 bis 1866, in: Schwa­be, Klaus (Hg.), Die preu­ßi­schen Ober­prä­si­den­ten 1815-1945, Bop­pard am Rhein 1985, S. 33-81. 

Online

Pe­ters­dorff, Her­man von, Kleist-Ret­zow, Hans von, in: All­ge­mei­ne Deut­sche Bio­gra­phie 51 (1906), S. 191-202. [on­line]   
Rich­ter, Gün­ter, Kleist-Ret­zow, Hans von, in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 12 (1979), S. 28-29. [on­line]

Hans von Kleist-Retzow, Zeichnung von F. Weiss, ca. 1862. (Illustrirte Zeitung, Bd. 38 (1862), S. 209.)

 
Zitationshinweis

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Lilla, Joachim, Hans von Kleist-Retzow, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hans-von-kleist-retzow/DE-2086/lido/5d7662d41ca977.88471192 (abgerufen am 19.03.2024)