"Meine liebe Marie" – "Werthester Herr Professor". Der Briefwechsel zwischen August Wilhelm von Schlegel und seiner Bonner Haushälterin Maria Löbel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. und kommentiert von Ralf Georg Czapla und Franca Victoria Schankweiler, Bonn 2012

344 S., ISBN 978-3939431770, 34,80 Euro

Ralf Forsbach (Siegburg)

Au­gust Wil­helm Schle­gel war 51 Jah­re alt, als für ihn mit der Grün­dung der Bon­ner Uni­ver­si­tät 1818 ein neu­er Le­bens­ab­schnit­t be­gann. Gro­ß­pro­jek­te wie die Über­set­zung der Dra­men Shake­speares, Schaf­fens­kri­se und Schei­dung la­gen hin­ter ihm. Über ein Jahr­zehnt hat­te er die ge­lehr­te Ger­mai­ne de Staël (ge­bo­ren 1766) auf ih­ren Rei­sen durch halb Eu­ro­pa be­glei­tet; sie gilt heu­te als Be­grün­de­rin der Li­te­ra­tur­so­zio­lo­gie. Schle­gel war ihr Men­tor und zu­gleich der Er­zie­her ih­rer Kin­der. 1817 er­lag de Staël ei­nem Schlag­an­fall.

Nun ge­dach­te Schle­gel häus­li­cher zu le­ben. Als nach Bonn be­ru­fe­ner Pro­fes­sor der Li­te­ra­tur hei­ra­te­te er ei­ne Toch­ter des Hei­del­ber­ger Theo­lo­gen Hein­rich Pau­lus (1761-1851), die auch von Jean Paul (1763-1825) um­wor­ben wor­den war. Er kauf­te auf der Bon­ner Sand­kau­le ein re­prä­sen­ta­ti­ves Wohn­haus mit 14 Zim­mern in drei Ge­schos­sen. Doch sei­ne frisch an­ge­trau­te Ehe­frau So­phie woll­te Schle­gel nicht nach Bonn fol­gen. Noch ei­ne Wei­le muss­te er sich man­cher An­wür­fe Jean Pauls und sei­ner Schwie­ger­fa­mi­lie er­weh­ren. Sein jün­ge­rer Bru­der Fried­rich (1772-1829), wie Au­gust Wil­helm Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, Über­set­zer und Schrift­stel­ler, nahm ihn in Schutz, als ein­an­der aus­schlie­ßen­de Vor­wür­fe wie Im­po­tenz und An­ste­ckung mit Ge­schlechts­krank­hei­ten in der Sze­ne der Ro­man­ti­ker, aber auch an den Uni­ver­si­tä­ten, kur­sier­ten.

So blieb Schle­gel mit dem Haus­per­so­nal al­lein. Die­sem stand Ma­ria Lö­b­el vor. Sie muss­te sich zu ih­rem Leid­we­sen an­fangs nicht sel­ten als So­phie an­re­den las­sen. Ma­ria war na­he der Sand­kau­le am Heis­ter­ba­cher Hof auf­ge­wach­sen, nun Mit­te 40 und un­ver­hei­ra­tet. 1821 zog sie in Schle­gels Wohn­sitz, zu­vor näch­tig­te sie im El­tern­haus. Ne­ben Ma­ria ge­hör­te der et­wa 20-jäh­ri­ge, Hein­rich von Wehr­den ge­nann­te Kut­scher und Kam­mer­die­ner zu den Schle­gel täg­lich um­ge­ben­den Men­schen. Der Be­griff der „Er­satz­fa­mi­lie“ liegt na­he, auch nach Lek­tü­re der 62 von Ralf Ge­org Cza­p­la und Fran­ca Vic­to­ria Schank­wei­ler edier­ten Brie­fe, die Schle­gel und sei­ne Haus­häl­te­rin wech­sel­ten. Cza­p­la und Schank­wei­ler ge­ben der Be­zie­hung zwi­schen Schle­gel und Lö­b­el so­gar ei­ne re­li­giö­se Deu­tung, in­dem sie die von Schle­gel nach Ma­ri­as Tod ge­wähl­te Be­zeich­nung für die er­hal­ten ge­blie­be­nen Sta­pel Brie­fe viel­leicht et­was zu mu­tig in­ter­pre­tie­ren: „Mit Be­dacht hei­ßt es ‚an Ma­ri­en‘ statt ‚an Ma­rie‘, und das auf al­len Trenn­blät­tern. Schle­gel flek­tiert den Na­men sei­ner Haus­häl­te­rin in Ana­lo­gie zu dem der Got­tes­mut­ter“ (S. 20). Doch die 14-sei­ti­ge kon­zi­se Ein­lei­tung der Her­aus­ge­ber ist zu lo­ben. Sie ver­zich­tet auf ei­ne brei­te Dar­stel­lung der Le­bens­leis­tung Schle­gels, weil sie nicht das zen­tra­le The­ma der Edi­ti­on dar­stellt. Viel­mehr führt sie durch­aus hu­mor­voll zu den Brie­fen hin, die selbst­ver­ständ­lich für Schle­gels Bio­gra­phie ei­nen Er­kennt­nis­wert be­sit­zen. Vor al­lem aber sind sie ei­ne dem So­zi­al­his­to­ri­ker be­deut­sa­me Quel­le, die trotz der Be­son­der­hei­ten die­ses Fal­les Auf­schluss ge­ben über das Ne­ben- und Mit­ein­an­der von Per­so­nal und Ar­beit­ge­ber in ei­nem Pro­fes­so­ren­haus­halt in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts. Zu­gleich wird un­ser Blick auf die Mü­hen, aber auch die Mög­lich­kei­ten der Kom­mu­ni­ka­ti­on in je­nen Jahr­zehn­ten ge­schärft. Man schrieb sich und die Herr­schaft reis­te, wäh­rend die Haus­häl­te­rin kaum je Bonn ver­ließ. Über­spitzt tei­len die Edi­to­ren zum Tod Ma­ria Lö­b­els mit, sie ha­be das Stadt­vier­tel, „in dem sie auf­ge­wach­sen war“, „bis zu ih­rem Tod nicht ver­las­sen“ (S. 19). Tat­säch­lich er­fah­ren wir aus der Edi­ti­on, dass sie sich wie­der­holt im zehn Ki­lo­me­ter ent­fern­ten Sieg­burg bei der Fa­mi­lie ih­rer Schwes­ter Eli­sa­beth Ma­ria The­re­sia auf­hielt (S. 169).

Die meis­ten der ab­ge­druck­ten Brie­fe stam­men aus der Fe­der Schle­gels. Was er sei­ner un­ge­bil­de­ten Haus­häl­te­rin von den lan­gen Rei­sen schil­dert, ist nicht nur in bio­gra­phi­scher und so­zi­al­ge­schicht­li­cher, son­dern auch in kul­tur­his­to­ri­scher Sicht von In­ter­es­se. So be­rich­tet der im­mer wie­der Heim­weh und Sor­gen um Ma­ries Ge­sund­heit ar­ti­ku­lie­ren­de Schle­gel, dass er in Pa­ris „seid­ne Tü­cher“ kauft, „weil man sie in Bonn, und ich glau­be auch in Cöln, nicht so ächt ha­ben kan­n“ (S. 33). An an­de­rer Stel­le kün­digt Schle­gel an, „ei­ni­ge schö­ne aus Baum­wol­le ge­wirk­te Bett­de­cken mit­zu­brin­gen, die man in Deutsch­land nicht so gut zu kau­fen fin­de­t“ (S. 36). Ma­rie er­hält frei­lich auch kla­re An­wei­sun­gen, et­wa wenn es um Schle­gels Nacht­la­ger geht. Aus Pa­ris schreibt er 1821: „Ich will mit mei­nem Bett ei­ne Ver­än­de­rung vor­neh­men. Las­sen Sie aus der Rol­le, die un­ter dem Kop­fe liegt, die Pfer­de­haa­re her­aus neh­men, und sie mit Fe­dern stop­fen, dann ein vier­ecki­ges Kis­sen, auch mit Fe­dern, dar­über le­gen. Die Ma­tra­zen [sic] wer­den neu aus­ge­zupft wer­den müs­sen“ (S. 36).

Lö­b­els Brie­fe, von de­nen – mög­li­cher­wei­se auf­grund von Qua­ran­tä­ne­be­stim­mun­gen – meh­re­re ver­lo­ren ge­gan­gen sind, sind stets knapp und be­schrän­ken sich in der Re­gel auf Fra­gen und Aus­künf­te zu Haus­halts­aus­ga­ben, Re­no­vie­run­gen, Ge­sund­heit von Mensch und Tier so­wie Rei­se­ter­mi­nen. An der­lei his­to­ri­schen All­täg­lich­kei­ten muss man schon In­ter­es­se ha­ben, wenn man die Brie­fe mit Ver­gnü­gen le­sen möch­te. Zu die­sen All­täg­lich­kei­ten zäh­len auch Er­wäh­nun­gen von Ein­la­dun­gen, so­gar am Ho­fe (was Klei­dungs­fra­gen auf­wirft), Über­le­gun­gen über die si­che­re Post­sen­dung (oh­ne zu fran­kie­ren, kommt ein Brief laut Schle­gel si­cher an, weil dann das Nach­por­to ein­zu­zie­hen ist), Schil­de­run­gen von Rei­sen mit Kut­sche und Schiff, auch die Sor­ge vor An­ste­ckung mit Krank­hei­ten wie Schar­lach und Cho­le­ra. Stolz be­rich­tet der Wis­sen­schaft­ler von der Ver­lei­hung von Or­den, sin­niert auch über mit­zu­brin­gen­de Ge­schen­ke (Ma­rie wird aus Pa­ris ei­ne Uhr in Aus­sicht ge­stellt) oder die Un­ter­brin­gung et­wai­ger Be­su­cher (Söh­ne eng­li­scher Be­kann­ter ge­den­ken in Bonn zu stu­die­ren).

Die vor­bild­li­che his­to­risch-kri­ti­sche Edi­ti­on liegt in ei­nem an­spre­chend ge­stal­te­ten Buch vor. Edi­to­ri­schen Be­mer­kun­gen und der Ein­lei­tung fol­gen auf 81 gro­ßzü­gig be­druck­ten Sei­ten die Brie­fe. Ein ein­ge­scho­be­ner Bild­teil zeigt das Wohn­haus in der Sand­kau­le, Ak­teu­re in Por­träts, amt­li­che Do­ku­men­te, To­ten­zet­tel, Grab­stät­ten, Ab­lich­tun­gen von Brie­fen und ei­nen Stamm­baum. Die sorg­fäl­tig er­ar­bei­te­ten wis­sen­schaft­li­chen An­mer­kun­gen mit ih­ren oft recht de­tail­lier­ten In­for­ma­tio­nen vor­wie­gend zu Per­so­nen und Or­ten fül­len 173 Sei­ten. Liest man die­se Er­läu­te­run­gen auf­merk­sam, er­fährt man – auch un­ab­hän­gig vom Su­jet des Buchs – kul­tur­his­to­risch Wis­sens­wer­tes über so Un­ter­schied­li­ches wie die Aus­brei­tung der Cho­le­ra (S. 216-217), das Ver­sie­geln von Brie­fen (S. 194) oder das Zoll­haus in Do­ver (S. 149). Man könn­te ein­wen­den, dass hier manch­mal zu viel des Gu­ten ge­tan wor­den ist. So wer­den bei den Er­wäh­nun­gen der Uni­ver­si­tä­ten Ox­ford und Cam­bridge Jahr und Um­stän­de der Grün­dung mit­ge­teilt (S. 161-162), zu „Sau­er­krau­t“ hei­ßt es un­ter an­de­rem: „Im Rhein­land wie in den üb­ri­gen deut­schen Pro­vin­zen be­lieb­tes Ge­richt, das ver­schie­de­ne For­men der Zu­be­rei­tung kenn­t“ (S. 213). Es folgt der Ab­druck von neun Schrift­stü­cken aus dem Schle­gel-Kreis, in de­nen Ma­ria Lö­b­els Tod The­ma ist. Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis und Per­so­nen­re­gis­ter run­den das ge­lun­ge­ne Werk ab.

Zitationshinweis

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Forsbach, Ralf, "Meine liebe Marie" – "Werthester Herr Professor". Der Briefwechsel zwischen August Wilhelm von Schlegel und seiner Bonner Haushälterin Maria Löbel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. und kommentiert von Ralf Georg Czapla und Franca Victoria Schankweiler, Bonn 2012, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Verzeichnisse/Literaturschau/%2522meine-liebe-marie%2522-%25E2%2580%2593-%2522werthester-herr-professor%2522.-der-briefwechsel-zwischen-august-wilhelm-von-schlegel-und-seiner-bonner-haushaelterin-maria-loebel.-historisch-kritische-ausgabe.-hg.-und-kommentiert-von-ralf-georg-czapla-und-franca-victoria-schankweiler-bonn-2012/DE-2086/lido/57d264a6928489.49068324 (abgerufen am 28.03.2024)