Hermann Heinrich Gossen

Nationalökonom (1810-1858)

Nina Streeck (München)
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Her­mann Hein­rich Gos­sen war ein be­deu­ten­der Volks­wirt­schaft­ler des 19. Jahr­hun­derts, des­sen bahn­bre­chen­de Theo­ri­en je­doch erst Jahr­zehn­te nach sei­nem Tod An­er­ken­nung fan­den. 

Die Gos­sen­schen Ge­set­ze und da­mit ihr Er­fin­der sind heu­te je­dem Stu­den­ten der Volks­wirt­schafts­leh­re ein Be­griff – wi­der Her­mann Hein­rich Gos­sens aus­drück­li­chen Plan. Er hat­te kurz vor sei­nem Tod al­le auf­find­ba­ren Aus­ga­ben sei­nes ein­zi­gen Bu­ches „Ent­wi­cke­lung der Ge­set­ze des mensch­li­chen Ver­kehrs, und der dar­aus flie­ßen­den Re­geln für mensch­li­ches Han­deln" ver­nich­tet, ver­bit­tert über die Igno­ranz sei­ner Mit­men­schen, die sei­ne Theo­rie nicht zur Kennt­nis neh­men woll­ten. 

Erst 20 Jah­re nach sei­nem Tod mach­te ein auf­merk­sa­mer Kol­le­ge aus Man­ches­ter, Ro­bert Adam­son (1852-1902), dank ei­ner Fuß­no­te ei­nes der let­zen Ex­em­pla­re sei­nes Wer­kes in ei­nem An­ti­qua­ri­at aus­fin­dig, gab es an sei­nen Freund und Kol­le­gen Wil­liam Stan­ley Je­vons (1835-1882) wei­ter, der sei­ner­seits den be­deu­ten­den fran­zö­si­schen Öko­no­men Lé­on Wal­ras (1834-1910) dar­auf hin­wies. Letz­te­rem ist zu ver­dan­ken, dass heu­te im­mer­hin spär­li­che In­for­ma­tio­nen über das Le­ben des Na­tio­nal­öko­no­men Gos­sen ver­füg­bar sind, denn Wal­ras trat in Kon­takt mit Her­mann Kortum (1836-1904), Ma­the­ma­tik­pro­fes­sor und Nef­fe Gos­sens, der Wal­ras mit ei­ni­gen bio­gra­phi­schen Da­ten ver­sorg­te, wor­auf­hin die­ser 1885 den be­rühmt ge­wor­de­nen Ar­ti­kel „Un eco­no­mis­te in­con­nu: Her­mann Hen­ri Gos­sen" im Jour­nal des Eco­no­mis­tes ver­öf­fent­lich­te. 

Her­mann Hein­rich Gos­sen wur­de am 7.9.1810 in Dü­ren als Sohn des kai­ser­lich-fran­zö­si­schen Steu­er­ein­trei­bers Ge­org Jo­seph Gos­sen (1780-1847) und des­sen aus Aa­chen stam­men­der Ehe­frau An­na Mecht­hil­de Scholl (ge­bo­ren 1768) ge­bo­ren. 

Von der streng ka­tho­li­schen Er­zie­hung sei­ner Mut­ter dis­tan­zier­te sich Gos­sen spä­ter voll­stän­dig, pries statt­des­sen ei­ne he­do­nis­ti­sche Le­bens­wei­se und mach­te aus sei­nen an­ti­kle­ri­ka­len An­sich­ten kei­nen Hehl. 1824 zog die Fa­mi­lie nach Muf­fen­dorf na­he Bad Go­des­berg (heu­te Stadt Bonn) um. Nach dem Ab­itur nahm Gos­sen wi­der­wil­lig das Stu­di­um der Rechts- und Staats­wis­sen­schaf­ten in Bonn auf – ein Wunsch des Va­ters, der für ihn ei­ne Be­am­ten­lauf­bahn vor­ge­se­hen hat­te. Eben­so we­nig be­hag­te Gos­sen die dar­an an­schlie­ßen­de Re­fe­ren­dars­stel­le in Köln, die er 1834 an­trat. 

13 Jah­re harr­te er in dem un­ge­lieb­ten Be­ruf aus, al­ler­dings oh­ne sich sehr zu en­ga­gie­ren: Gos­sen war als faul be­kannt, ern­te­te vie­ler­lei Kri­tik von sei­nen Vor­ge­setz­ten und wur­de häu­fig ver­setzt. Er wid­me­te sich lie­ber der Ma­the­ma­tik und ge­sell­schaft­li­chen Fra­gen oder ver­trieb sich die Zeit in Wirts­häu­sern. Sei­ner Ent­las­sung ent­ging er 1847 da­durch, dass er selbst kün­dig­te. Kurz zu­vor war sein Va­ter ge­stor­ben, dem die Ent­täu­schung über sei­nen Sohn da­mit er­spart blieb; Gos­sen er­hielt ein an­sehn­li­ches Er­be und war fort­an fi­nan­zi­ell un­ab­hän­gig. 1849 grün­de­te er ge­mein­sam mit ei­nem Bel­gi­er ei­ne Ver­si­che­rungs­ge­sell­schaft, zog sich je­doch schon ein Jahr spä­ter wie­der zu­rück. 

End­lich ent­schied er sich, sei­nem lang ge­heg­ten Wunsch zu fol­gen und die Er­geb­nis­se sei­ner pri­va­ten Stu­di­en zu ver­öf­fent­li­chen. Ins­ge­heim hoff­te er, ihm wer­de sich da­durch die Mög­lich­keit ei­ner aka­de­mi­schen Lauf­bahn er­öff­nen. Wäh­rend er an sei­ner „Ent­wi­cke­lung" schrieb, führ­ten ihm sei­ne bei­den Schwes­tern den Haus­halt. 1853 voll­ende­te er sein Werk – und fand zu sei­ner Ent­täu­schung kei­nen Ver­le­ger. Frus­triert fi­nan­zier­te er die Ver­öf­fent­li­chung schlie­ß­lich selbst. Im sel­ben Jahr er­krank­te er an Ty­phus, was sei­ne Ge­sund­heit dau­er­haft schwäch­te. 1854 er­schien die „Ent­wi­cke­lung" – und wur­de weit­ge­hend igno­riert. Die Fach­welt nahm das Werk kaum zur Kennt­nis. Mög­li­cher­wei­se wa­ren Gos­sens Lob­preis des He­do­nis­mus und die au­ßer­or­dent­lich selbst­be­wuss­te Ein­lei­tung zu sei­nem Buch – Gos­sen hielt sich für ei­nen Ko­per­ni­kus der So­zi­al­wis­sen­schaf­ten – we­nig ge­eig­net, ei­ne wohl­wol­len­de Kennt­nis­nah­me zu be­güns­ti­gen. Gos­sen war zu­tiefst ent­täuscht. Kurz vor sei­nem Tod kauf­te er dem Ver­lag die rest­li­chen Ex­em­pla­re sei­nes Bu­ches ab und be­nutz­te sie als Heiz­ma­te­ri­al. Ver­bit­tert starb er am 13.2.1858 an Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se in Köln.

Gos­sens Kol­le­ge Je­vons war al­les an­de­re als be­geis­tert, als er 1878 her­aus­fand, dass Gos­sen 25 Jah­re vor ihm be­reits ei­ne Grenz­nut­zen­leh­re for­mu­liert und das so ge­nann­te „Wert­pa­ra­do­xon" ge­löst hat­te, das die öko­no­mi­sche Zunft lan­ge in Atem ge­hal­ten hat­te: Die klas­si­sche Theo­rie ver­moch­te nicht zu er­klä­ren, war­um ein le­bens­not­wen­di­ges Gut wie Was­ser we­ni­ger kos­te­te als ein ei­gent­lich nutz­lo­ses Gut wie Dia­man­ten. Adam Smith (1723-1790) hat­te den (ob­jek­ti­ven) Tausch­wert (va­lue in ex­ch­an­ge) und den Ge­brauchs­wert (va­lue in use) von Gü­tern un­ter­schie­den, da­mit das Pa­ra­dox aber nicht auf­ge­löst, son­dern letzt­lich nur schär­fer for­mu­liert. Er konn­te nicht er­klä­ren, wes­halb Was­ser ei­nen ho­hen Ge­brauchs-, aber ei­nen nied­ri­gen Tausch­wert hat­te – und wes­halb es sich bei Dia­man­ten um­ge­kehrt ver­hielt. Gos­sen – und spä­ter Je­vons – schlu­gen nun ei­ne sub­jek­ti­ve Wert­leh­re vor. Der Preis ei­nes Gu­tes er­rech­ne sich aus dem Grenz­nut­zen, das hei­ßt aus dem Nut­zen der letz­ten kon­su­mier­ten Ein­heit ei­nes Gu­tes. Im so ge­nann­ten „Ers­ten Gos­sen­schen Ge­setz" des ab­neh­men­den Grenz­nut­zens for­mu­lier­te Gos­sen: 

„Die Grö­ße ei­nes und des­sel­ben Ge­nus­ses nimmt, wenn wir mit Be­rei­tung des Ge­nus­ses un­un­ter­bro­chen fort­fah­ren, fort­wäh­rend ab, bis zu­letzt Sät­ti­gung ein­tritt."

Ei­ne im Grun­de ba­na­le Be­ob­ach­tung: Ei­nem Durs­ti­gen ver­schafft Was­ser zu­nächst gro­ßen Nut­zen, doch mit je­dem ge­trun­ke­nen Glas nimmt die­ser Nut­zen ab, der Durst wird ge­stillt, bis der­je­ni­ge ir­gend­wann kein wei­te­res Glas Was­ser mehr trin­ken möch­te. Ent­spre­chend ist er be­reit, für Was­ser zu zah­len: Zu­nächst viel, spä­ter we­nig bis gar nichts mehr. Da­mit wur­de er­klär­bar, war­um Was­ser, das zwar über­le­bens­wich­tig war, aber in Fül­le zur Ver­fü­gung stand, we­ni­ger kos­te­te als Dia­man­ten: Der Preis ent­spricht dem Grenz­nut­zen, der sinkt, wenn ein Gut reich­hal­tig vor­han­den ist, und steigt, wenn es sel­ten ist. 

Auf die­ser Grund­la­ge mach­te sich Gos­sen Ge­dan­ken über den op­ti­ma­len Kon­sum­plan ei­nes Haus­hal­tes und for­mu­lier­te das „Zwei­te Gos­sen­sche Ge­setz":

„Der Mensch, dem die Wahl zwi­schen meh­re­ren Ge­nüs­sen frei steht, des­sen Zeit aber nicht aus­reicht, al­le voll­aus sich zu be­rei­ten, muß, wie ver­schie­den auch die ab­so­lu­te Grö­ße der ein­zel­nen Ge­nüs­se sein mag, um die Sum­me sei­nes Ge­nus­ses zum Grö­ß­ten zu brin­gen, be­vor er auch nur den grö­ß­ten sich voll­aus be­rei­tet, sie al­le theil­wei­se be­rei­ten, und zwar in ei­nem sol­chen Ver­hält­niß, dass die Grö­ße ei­nes je­den Ge­nus­ses in je­dem Au­gen­blick, in wel­chen sei­ne Be­rei­tung ab­ge­bro­chen wird, bei al­len noch die glei­che bleibt." 

Was Gos­sen hier zu Pa­pier brach­te, ist ei­ne ähn­lich na­he lie­gen­de Fol­ge­rung wie obi­ge: Der Grenz­nut­zen der letz­ten ver­wen­de­ten Se­kun­de – oder, wie Gos­sens Ge­setz heu­te meist ge­fasst wird, des letz­ten ver­wen­de­ten Eu­ro – muss für al­le Gü­ter gleich sein, will ein Mensch das Op­ti­mum er­rei­chen, an­dern­falls wür­de es sich loh­nen, Zeit oder Geld an­ders auf­zu­tei­len. Gos­sen, der ein gro­ßer Ma­the­ma­tik-Lieb­ha­ber war und es für un­mög­lich hielt, „die wah­re Na­tio­nal­öko­no­mie oh­ne Hül­fe der Ma­the­ma­tik vor­zu­tra­gen", for­ma­li­sier­te sein Grenz­nut­zen-Theo­rem als Op­ti­mie­rungs­pro­blem un­ter Ne­ben­be­din­gun­gen und schuf da­mit die Form, die heu­te fes­ter Be­stand­teil volks­wirt­schaft­li­cher Lehr­bü­cher ist. Da­mit wur­de er zum Grün­der­va­ter der mo­der­nen Mi­kro­öko­no­mik, die je­doch erst dank Je­vons und Wal­ras die öko­no­mi­sche Fach­welt in Auf­ruhr ver­setz­te. 

We­ni­ger be­kannt ist, was Gos­sen ei­gent­lich mo­ti­vier­te: Ihm ging es pri­mär nicht dar­um, ei­ne Wirt­schafts­leh­re zu schaf­fen, son­dern er woll­te den „wah­ren Le­bens­zweck des Men­schen", den „sein Schöp­fer ge­wollt hat", ent­hül­len und da­mit die „wah­re Re­li­gi­on" eta­blie­ren. Da­für müs­se man sich end­lich den Na­tur­wis­sen­schaf­ten – zu de­nen er die Na­tio­nal­öko­no­mie zähl­te – zu­wen­den, da sie den Weg wie­sen, den Schöp­fungs­plan zu durch­schau­en. Gott ha­be ge­naue Be­rech­nun­gen über das Zu­sam­men­wir­ken der Ele­men­te an­ge­stellt, die der Mensch dank sei­ner Ver­nunft nach­voll­zie­hen kön­ne. So wer­de sicht­bar, dass die Kir­chen den He­do­nis­mus zu Un­recht ver­ket­zer­ten, denn das ego­is­ti­sche Han­deln der Ein­zel­nen sei so­zi­al ge­se­hen wert­voll; die Schöp­fung er­wei­se sich des­halb als voll­kom­men – ei­ne Art Leib­niz’scher Theo­di­zee. Die re­li­giö­se Ein­bet­tung der Wirt­schafts­theo­rie Gos­sens wur­de je­doch nicht re­zi­piert; Je­vons und Wal­ras emp­fan­den sie als stö­rend. 

Werk

Ent­wi­cke­lung der Ge­set­ze des mensch­li­chen Ver­kehrs, und der dar­aus flie­ßen­den Re­geln für mensch­li­ches Han­deln, Braun­schweig 1854.

Literatur

Beh­rens, Fritz, Her­mann Hein­rich Gos­sen oder Die Ge­burt der „wis­sen­schaft­li­chen Apo­lo­ge­tik" des Ka­pi­ta­lis­mus, Leip­zig 1949.
Ge­or­ge­s­cu-Ro­egen, Ni­cho­las, Her­mann Hein­rich Gos­sen. His Life And Work in His­to­ri­cal Per­spec­tive, Ein­lei­tung zu: Gos­sen, Her­mann Hein­rich, The Laws of Hu­man Re­la­ti­ons and the Ru­les of Hu­man Ac­tion De­ri­ved The­re­from, über­setzt von Ru­dolph C. Blitz, Cam­bridge 1983.
Kurz, Heinz D., Her­mann Hein­rich Gos­sen (1810-1858), in: Kurz, Heinz D. (Hg.), Klas­si­ker des öko­no­mi­schen Den­kens, Mün­chen 2008, S. 197-217.
Ried­le, Her­mann, Her­mann Hein­rich Gos­sen (1810-1885). Ein Weg­be­rei­ter der mo­der­nen öko­no­mi­schen Theo­rie, Win­ter­thur 1953.

Online

Kurz, Heinz D., Her­mann Hein­rich Gos­sen (Ver­öf­fent­licht auf der Home­page der Uni­ver­si­tät Graz).
Mahr, Alex­an­der, Ar­ti­kel "Gos­sen, Her­mann Hein­rich", in Neue Deut­sche Bio­gra­phie 6 (1964), S. 649-650.
Gos­sen­sche Ge­set­ze (Home­page der Bun­des­zen­tra­le für po­li­ti­sche Bil­dung).

 
Zitationshinweis

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Streeck, Nina, Hermann Heinrich Gossen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-heinrich-gossen/DE-2086/lido/57c6d4a79880e2.20826584 (abgerufen am 29.03.2024)