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Hermann Heinrich Gossen war ein bedeutender Volkswirtschaftler des 19. Jahrhunderts, dessen bahnbrechende Theorien jedoch erst Jahrzehnte nach seinem Tod Anerkennung fanden.
Die Gossenschen Gesetze und damit ihr Erfinder sind heute jedem Studenten der Volkswirtschaftslehre ein Begriff – wider Hermann Heinrich Gossens ausdrücklichen Plan. Er hatte kurz vor seinem Tod alle auffindbaren Ausgaben seines einzigen Buches „Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln" vernichtet, verbittert über die Ignoranz seiner Mitmenschen, die seine Theorie nicht zur Kenntnis nehmen wollten.
Erst 20 Jahre nach seinem Tod machte ein aufmerksamer Kollege aus Manchester, Robert Adamson (1852-1902), dank einer Fußnote eines der letzen Exemplare seines Werkes in einem Antiquariat ausfindig, gab es an seinen Freund und Kollegen William Stanley Jevons (1835-1882) weiter, der seinerseits den bedeutenden französischen Ökonomen Léon Walras (1834-1910) darauf hinwies. Letzterem ist zu verdanken, dass heute immerhin spärliche Informationen über das Leben des Nationalökonomen Gossen verfügbar sind, denn Walras trat in Kontakt mit Hermann Kortum (1836-1904), Mathematikprofessor und Neffe Gossens, der Walras mit einigen biographischen Daten versorgte, woraufhin dieser 1885 den berühmt gewordenen Artikel „Un economiste inconnu: Hermann Henri Gossen" im Journal des Economistes veröffentlichte.
Hermann Heinrich Gossen wurde am 7.9.1810 in Düren als Sohn des kaiserlich-französischen Steuereintreibers Georg Joseph Gossen (1780-1847) und dessen aus Aachen stammender Ehefrau Anna Mechthilde Scholl (geboren 1768) geboren.
Von der streng katholischen Erziehung seiner Mutter distanzierte sich Gossen später vollständig, pries stattdessen eine hedonistische Lebensweise und machte aus seinen antiklerikalen Ansichten keinen Hehl. 1824 zog die Familie nach Muffendorf nahe Bad Godesberg (heute Stadt Bonn) um. Nach dem Abitur nahm Gossen widerwillig das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Bonn auf – ein Wunsch des Vaters, der für ihn eine Beamtenlaufbahn vorgesehen hatte. Ebenso wenig behagte Gossen die daran anschließende Referendarsstelle in Köln, die er 1834 antrat.
13 Jahre harrte er in dem ungeliebten Beruf aus, allerdings ohne sich sehr zu engagieren: Gossen war als faul bekannt, erntete vielerlei Kritik von seinen Vorgesetzten und wurde häufig versetzt. Er widmete sich lieber der Mathematik und gesellschaftlichen Fragen oder vertrieb sich die Zeit in Wirtshäusern. Seiner Entlassung entging er 1847 dadurch, dass er selbst kündigte. Kurz zuvor war sein Vater gestorben, dem die Enttäuschung über seinen Sohn damit erspart blieb; Gossen erhielt ein ansehnliches Erbe und war fortan finanziell unabhängig. 1849 gründete er gemeinsam mit einem Belgier eine Versicherungsgesellschaft, zog sich jedoch schon ein Jahr später wieder zurück.
Endlich entschied er sich, seinem lang gehegten Wunsch zu folgen und die Ergebnisse seiner privaten Studien zu veröffentlichen. Insgeheim hoffte er, ihm werde sich dadurch die Möglichkeit einer akademischen Laufbahn eröffnen. Während er an seiner „Entwickelung" schrieb, führten ihm seine beiden Schwestern den Haushalt. 1853 vollendete er sein Werk – und fand zu seiner Enttäuschung keinen Verleger. Frustriert finanzierte er die Veröffentlichung schließlich selbst. Im selben Jahr erkrankte er an Typhus, was seine Gesundheit dauerhaft schwächte. 1854 erschien die „Entwickelung" – und wurde weitgehend ignoriert. Die Fachwelt nahm das Werk kaum zur Kenntnis. Möglicherweise waren Gossens Lobpreis des Hedonismus und die außerordentlich selbstbewusste Einleitung zu seinem Buch – Gossen hielt sich für einen Kopernikus der Sozialwissenschaften – wenig geeignet, eine wohlwollende Kenntnisnahme zu begünstigen. Gossen war zutiefst enttäuscht. Kurz vor seinem Tod kaufte er dem Verlag die restlichen Exemplare seines Buches ab und benutzte sie als Heizmaterial. Verbittert starb er am 13.2.1858 an Lungentuberkulose in Köln.
Gossens Kollege Jevons war alles andere als begeistert, als er 1878 herausfand, dass Gossen 25 Jahre vor ihm bereits eine Grenznutzenlehre formuliert und das so genannte „Wertparadoxon" gelöst hatte, das die ökonomische Zunft lange in Atem gehalten hatte: Die klassische Theorie vermochte nicht zu erklären, warum ein lebensnotwendiges Gut wie Wasser weniger kostete als ein eigentlich nutzloses Gut wie Diamanten. Adam Smith (1723-1790) hatte den (objektiven) Tauschwert (value in exchange) und den Gebrauchswert (value in use) von Gütern unterschieden, damit das Paradox aber nicht aufgelöst, sondern letztlich nur schärfer formuliert. Er konnte nicht erklären, weshalb Wasser einen hohen Gebrauchs-, aber einen niedrigen Tauschwert hatte – und weshalb es sich bei Diamanten umgekehrt verhielt. Gossen – und später Jevons – schlugen nun eine subjektive Wertlehre vor. Der Preis eines Gutes errechne sich aus dem Grenznutzen, das heißt aus dem Nutzen der letzten konsumierten Einheit eines Gutes. Im so genannten „Ersten Gossenschen Gesetz" des abnehmenden Grenznutzens formulierte Gossen:
„Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt."
Eine im Grunde banale Beobachtung: Einem Durstigen verschafft Wasser zunächst großen Nutzen, doch mit jedem getrunkenen Glas nimmt dieser Nutzen ab, der Durst wird gestillt, bis derjenige irgendwann kein weiteres Glas Wasser mehr trinken möchte. Entsprechend ist er bereit, für Wasser zu zahlen: Zunächst viel, später wenig bis gar nichts mehr. Damit wurde erklärbar, warum Wasser, das zwar überlebenswichtig war, aber in Fülle zur Verfügung stand, weniger kostete als Diamanten: Der Preis entspricht dem Grenznutzen, der sinkt, wenn ein Gut reichhaltig vorhanden ist, und steigt, wenn es selten ist.
Auf dieser Grundlage machte sich Gossen Gedanken über den optimalen Konsumplan eines Haushaltes und formulierte das „Zweite Gossensche Gesetz":
„Der Mensch, dem die Wahl zwischen mehreren Genüssen frei steht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten, muß, wie verschieden auch die absolute Größe der einzelnen Genüsse sein mag, um die Summe seines Genusses zum Größten zu bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle theilweise bereiten, und zwar in einem solchen Verhältniß, dass die Größe eines jeden Genusses in jedem Augenblick, in welchen seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt."
Was Gossen hier zu Papier brachte, ist eine ähnlich nahe liegende Folgerung wie obige: Der Grenznutzen der letzten verwendeten Sekunde – oder, wie Gossens Gesetz heute meist gefasst wird, des letzten verwendeten Euro – muss für alle Güter gleich sein, will ein Mensch das Optimum erreichen, andernfalls würde es sich lohnen, Zeit oder Geld anders aufzuteilen. Gossen, der ein großer Mathematik-Liebhaber war und es für unmöglich hielt, „die wahre Nationalökonomie ohne Hülfe der Mathematik vorzutragen", formalisierte sein Grenznutzen-Theorem als Optimierungsproblem unter Nebenbedingungen und schuf damit die Form, die heute fester Bestandteil volkswirtschaftlicher Lehrbücher ist. Damit wurde er zum Gründervater der modernen Mikroökonomik, die jedoch erst dank Jevons und Walras die ökonomische Fachwelt in Aufruhr versetzte.
Weniger bekannt ist, was Gossen eigentlich motivierte: Ihm ging es primär nicht darum, eine Wirtschaftslehre zu schaffen, sondern er wollte den „wahren Lebenszweck des Menschen", den „sein Schöpfer gewollt hat", enthüllen und damit die „wahre Religion" etablieren. Dafür müsse man sich endlich den Naturwissenschaften – zu denen er die Nationalökonomie zählte – zuwenden, da sie den Weg wiesen, den Schöpfungsplan zu durchschauen. Gott habe genaue Berechnungen über das Zusammenwirken der Elemente angestellt, die der Mensch dank seiner Vernunft nachvollziehen könne. So werde sichtbar, dass die Kirchen den Hedonismus zu Unrecht verketzerten, denn das egoistische Handeln der Einzelnen sei sozial gesehen wertvoll; die Schöpfung erweise sich deshalb als vollkommen – eine Art Leibniz’scher Theodizee. Die religiöse Einbettung der Wirtschaftstheorie Gossens wurde jedoch nicht rezipiert; Jevons und Walras empfanden sie als störend.
Werk
Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854.
Literatur
Behrens, Fritz, Hermann Heinrich Gossen oder Die Geburt der „wissenschaftlichen Apologetik" des Kapitalismus, Leipzig 1949.
Georgescu-Roegen, Nicholas, Hermann Heinrich Gossen. His Life And Work in Historical Perspective, Einleitung zu: Gossen, Hermann Heinrich, The Laws of Human Relations and the Rules of Human Action Derived Therefrom, übersetzt von Rudolph C. Blitz, Cambridge 1983.
Kurz, Heinz D., Hermann Heinrich Gossen (1810-1858), in: Kurz, Heinz D. (Hg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, München 2008, S. 197-217.
Riedle, Hermann, Hermann Heinrich Gossen (1810-1885). Ein Wegbereiter der modernen ökonomischen Theorie, Winterthur 1953.
Online
Kurz, Heinz D., Hermann Heinrich Gossen (Veröffentlicht auf der Homepage der Universität Graz).
Mahr, Alexander, Artikel "Gossen, Hermann Heinrich", in Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 649-650.
Gossensche Gesetze (Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung).
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Streeck, Nina, Hermann Heinrich Gossen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-heinrich-gossen/DE-2086/lido/57c6d4a79880e2.20826584 (abgerufen am 29.03.2024)