Hans Jonas

Philosoph (1903-1993)

Susan Gottlöber (Maynooth)

Hans Jonas, Porträtfoto, Foto: © Isolde Ohlbaum.

Hans Jo­nas war ein Re­li­gi­ons- und Wert­phi­lo­soph und Ver­tre­ter ei­ner an­ti­zi­pie­ren­den Zi­vi­li­sa­ti­ons­ethik. Er ge­hört zu den be­deu­tends­ten Na­tur­ethi­kern und Den­kern des 20. Jahr­hun­derts und gilt als Mit­be­grün­der des Um­welt­be­wusst­seins.

Hans Jo­nas wur­de am 10.5.1903 als Sohn des Tex­til­fa­bri­kan­ten Gus­tav Jo­nas in Mön­chen­glad­bach ge­bo­ren. Sei­ne Mut­ter Ro­sa, ge­bo­re­ne Ho­ro­witz, war die Toch­ter des Kre­fel­der Ober­ra­bi­ners Ja­kob Ho­ro­vitz. Wie der Gro­ß­teil sei­ner Ge­ne­ra­ti­on be­zeich­net auch er in sei­ner Au­to­bio­gra­phie den Aus­bruch des Ers­ten Welt­krie­ges als ei­nes der prä­gends­ten Er­eig­nis­se sei­ner Mön­chen­glad­ba­cher Ju­gend­zeit. Nach dem En­de des Krie­ges wand­te sich der jun­ge Jo­nas – ge­gen den Wil­len des Va­ters – dem Zio­nis­mus zu und trat ei­nem zio­nis­ti­schen Zir­kel in sei­ner Hei­mat­stadt bei. Da der Va­ter gro­ßen Wert auf Bil­dung leg­te, konn­te sein Sohn Hans sei­ne Stu­di­en­rich­tun­gen frei und un­ab­hän­gig von der Aus­sicht auf spä­te­ren Brot­er­werb wäh­len. Die Wahl fiel auf die Fä­cher Theo­lo­gie, Phi­lo­so­phie und Kunst­ge­schich­te. Da­für ging Jo­nas 1921 nach Frei­burg, wo er bei Ed­mund Hus­serl (1859-1938) und Mar­tin Hei­deg­ger (1989-1976) sein Phi­lo­so­phie­stu­di­um be­gann. Zeit­gleich wur­de er Mit­glied in der zio­nis­ti­schen Stu­den­ten­ver­bin­dung IVRIA.

Schon zum Win­ter­se­mes­ter des­sel­ben Jah­res im­ma­tri­ku­lier­te er sich in Ber­lin, und zwar gleich­zei­tig an der Hoch­schu­le für die Wis­sen­schaft des Ju­den­tums und an der Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät. Er hör­te in die­ser Zeit vor al­lem bei Edu­ard Spran­ger (1882-1963), aber auch bei Ernst Tro­eltsch (1865-1923). 1923 zog es ihn er­neut nach Frei­burg und 1924 wei­ter nach Mar­burg, wo ne­ben Hei­deg­ger vor al­lem der pro­tes­tan­ti­sche Theo­lo­ge Ru­dolf Karl Bult­mann (1884-1976) prä­gend für sei­ne phi­lo­so­phi­sche Ent­wick­lung wer­den soll­te. Jo­nas be­geg­ne­te in die­ser Zeit nicht nur Karl Lö­with (1897-1973) und Hans-Ge­org Ga­da­mer (1900-2002), hier be­gann auch sei­ne le­bens­lan­ge – un­ge­ach­tet ei­nes zwei Jah­re dau­ern­den Zer­würf­nis­ses we­gen ih­rer Po­si­ti­on im Pro­zess ge­gen Adolf Eich­mann – Freund­schaft mit Han­nah Arendt (1906-1975). Im Jahr 1928 schlie­ß­lich folg­te die Pro­mo­ti­on bei Hei­deg­ger zum The­ma „Der Be­griff der Gno­sis".

Die „Macht­er­grei­fung" 1933 er­leb­te Jo­nas in Köln, wo er, wie auch in Hei­del­berg, Frank­furt und Pa­ris, sei­ne Dis­ser­ta­ti­on für die Ver­öf­fent­li­chung vor­be­rei­te­te. Er ging zu­nächst nach Lon­don, emi­grier­te aber schon ein Jahr spä­ter nach Pa­läs­ti­na. Sein be­reits in Lon­don ab­ge­schlos­se­ner ers­ter Teil zur Gno­sis er­schien 1934 un­ter dem Ti­tel „Gno­sis und spät­an­ti­ker Geist. Ers­ter Teil: Die my­tho­lo­gi­sche Gno­sis" – dank des En­ga­ge­ments Bult­manns so­gar in Göt­tin­gen.

Die Exis­tenz­ana­ly­se Hei­deg­gers nut­zend, zeig­te er auf, dass die My­then in der spät­an­ti­ken Gno­sis nicht wört­lich, son­dern als Aus­druck exis­ten­ti­el­ler Er­fah­run­gen ver­stan­den wer­den müs­sen, die durch ih­re sprach­li­che Ein­klei­dung trans­por­tiert und trans­po­niert wer­den. Jo­nas zu­fol­ge kann nur ein Be­trach­ter, der in der La­ge ist, sei­ne (zum Bei­spiel von psy­cho­lo­gi­schen oder so­zio­lo­gi­schen Mo­ti­ven ge­präg­te) ei­ge­ne Deu­tung zu­rück­zu­neh­men (ganz im Sin­ne der phä­no­me­no­lo­gi­schen epo­ché) das trans­por­tier­te Da­seins­ver­ständ­nis frei­le­gen. Jo­nas meint da­mit zu ei­nem gnos­ti­schen Welt- und Selbst­ver­ständ­nis vor­zu­drin­gen, das sich durch­aus mit in die abend­län­di­sche Tra­di­ti­on der In­ner­lich­keit von Au­gus­ti­nus (354-430) bis Sö­ren Kier­ke­gaard (1813-1855) ein­ord­nen las­se und ge­nau nicht auf an­de­re an­ti­ke An­sät­ze zu­rück­zu­füh­ren sei.

Ei­ne sol­che In­ter­pre­ta­ti­on legt na­he, nun um­ge­kehrt die neu­zeit­li­che Phi­lo­so­phie von der Gnos­tik her aus­zu­le­gen; ei­ne Le­sung, die ge­ra­de auch in den dua­lis­ti­schen und spä­ter in ni­hi­lis­ti­schen und na­tur­phi­lo­so­phi­schen Strö­mun­gen (bis hin zu den Na­tur­wis­sen­schaf­ten) ei­ne Ver­wandt­schaft zur Gno­sis auf­spürt, die dar­in be­steht, den Men­schen als ei­nen ver­las­se­nen Fremd­ling in der Welt zu in­ter­pre­tie­ren, der an­ge­sichts ei­nes un­end­li­chen und me­cha­nis­tisch funk­tio­nie­ren­den (und da­mit in­dif­fe­ren­ten) Uni­ver­sums von Ent­set­zen ge­packt wird.

Im Jahr 1938 nahm Jo­nas ei­ne Do­zen­tur in Je­ru­sa­lem an, un­ter­brach je­doch sei­ne Lehr­tä­tig­keit, um von 1940-1945 als Sol­dat in der bri­ti­schen Ar­mee zu die­nen. Wäh­rend die­ser Zeit, 1943, hei­ra­te­te er Lo­re Wei­ner in Hai­fa. Erst nach Kriegs­en­de er­fuhr er von der Er­mor­dung sei­ner Mut­ter in Ausch­witz. 1946 kehr­te er nach Je­ru­sa­lem zu­rück und nahm sei­ne Lehr­tä­tig­keit wie­der auf. Drei Jah­re spä­ter sie­del­te Jo­nas nach Ka­na­da über, wo er bis 1950 zu­nächst Fel­low an der McGill-Uni­ver­si­tät in Mon­tre­al war, be­vor er 1950-1954 ei­ne Pro­fes­sur in Ot­ta­wa in­ne­hat­te. In die­ser Zeit er­folg­ten auch Ru­fe nach Je­ru­sa­lem und Kiel, die er je­doch ab­lehn­te. Von 1955-1976 lehr­te Jo­nas in New York und un­ter­nahm wäh­rend­des­sen vie­le Vor­trags­rei­sen, un­ter an­de­rem nach Deutsch­land. 1964, hielt er sei­nen Vor­trag „Hei­deg­ger and the Theo­lo­gy", der vor al­lem we­gen sei­ner Hei­deg­ger-Kri­tik Auf­se­hen er­reg­te.

1966, ver­öf­fent­lich­te er die Schrift „Pheno­me­non of life. Toward a Phi­lo­so­phi­cal Bio­lo­gy", die erst 1973 un­ter dem Ti­tel „Or­ga­nis­mus und Frei­heit. An­sät­ze zu ei­ner phi­lo­so­phi­schen Bio­lo­gie" auf deutsch er­schien. In den dar­in vor­ge­tra­ge­nen Über­le­gun­gen ver­such­te er, der sich in sei­ner ers­ten den­ke­ri­schen Pha­se eher ge­schicht­li­chen Pro­ble­men zu­ge­wandt hat­te, nun in ei­ner zwei­ten ge­gen­warts­ori­en­tier­ten Pha­se mit ei­nem le­bens­phi­lo­so­phi­schen An­satz die Ein­sam­keit und Ab­ge­trennt­heit des Men­schen von und in der Welt zu über­win­den. Zen­tral sind da­bei die Grund­nah­men der Selbst­sor­ge als Merk­mal al­ler Na­tur­we­sen und die un­um­stö­ß­li­che Über­zeu­gung, dass die Psy­che nicht auf phy­si­ka­li­sche oder bio­che­mi­sche Pro­zes­se rück­führ­bar sei. Es ist die­se Be­stim­mung des Le­bens als et­was, das als Le­ben­di­ges im­mer schon Trä­ger sei­ner ei­ge­ne Sterb­lich­keit ist und die dar­aus ge­zo­ge­ne Schluss­fol­ge­rung, die Sor­ge, dem ei­ge­nen Tod zu ent­ge­hen, als exis­ten­ti­el­len Ur­zu­stand al­les le­ben­di­gen Sei­en­den zu in­ter­pre­tie­ren, die Jo­nas trotz al­ler Dif­fe­ren­zen als Hei­deg­ger-Schü­ler aus­weist. Nur der Mensch ist Jo­nas zu­fol­ge fä­hig, sich über den „Adel des Se­hens" von die­sen Struk­tu­ren zu dis­tan­zie­ren und so ei­nen sor­ge­frei­en Blick, ein Welt­bild im ur­sprüng­li­chen Sinn des Wor­tes, zu ent­wi­ckeln.

Im Jahr 1979 er­schien sein Haupt­werk „Das Prin­zip Ver­ant­wor­tung", für das er 1987 den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels er­hielt und mit dem ei­ne den­ke­ri­sche Pha­se ein­setz­te, in der sich Jo­nas der Zu­kunft und der prak­ti­schen Phi­lo­so­phie zu­wand­te. In die­ser Schrift ver­such­te er, ei­ne Phä­no­me­no­lo­gie ethi­schen Han­delns zu ent­wer­fen, die sich in Aus­ein­an­der­set­zung und Ab­gren­zung von Ernst Blochs (1885-1977) „Prin­zip Hoff­nung" ver­steht. Von der Be­zie­hungs­dy­na­mik zwi­schen Na­tur und Mensch aus­ge­hend for­dert Jo­nas, mit zu­neh­men­der Mach­ter­wei­te­rung der Tech­nik müs­se auch ei­ne Er­wei­te­rung ei­ner an Zu­kunft ori­en­tier­ten Ethik voll­zo­gen wer­den. Das Bild des „end­gül­tig ent­fes­sel­ten Pro­me­theus" steht bei ihm für ei­ne von Wis­sen­schaft und Tech­nik do­mi­nier­te Zi­vi­li­sa­ti­on, die ei­ne neue Ethik un­ab­ding­bar ma­che, wenn ver­hin­dert wer­den soll, dass das Be­stre­ben, die Na­tur zum Wohl des Men­schen zu un­ter­wer­fen, nicht nur aus der bis­he­ri­gen Ver­hei­ßung in Dro­hung um­schlägt – was längst ge­sche­hen ist – son­dern dar­über hin­aus ihr zer­stö­re­ri­sches Po­ten­ti­al voll zur Ent­fal­tung ge­langt. Denn zum ers­ten Mal, so die Aus­gangs­the­se des Bu­ches, ste­he der Mensch ei­ner Si­tua­ti­on ge­gen­über, in der er die Macht ha­be, die Welt zu zer­stö­ren, für die aber bis­her kei­ne Ethik ver­füg­bar sei, al­so Nie­mands­land be­tre­ten wer­de: Der Mensch müs­se erst­ma­lig die Ver­ant­wor­tung da­für über­neh­men, die Welt als Ge­samt­heit zu be­wah­ren. Da­bei ste­he aber mehr als nur das blo­ße Über­le­ben auf dem Spiel, denn letzt­lich ge­he es dar­um, die Wür­de von Mensch und Na­tur zu be­wah­ren. Da­mit ent­wirft Jo­nas die on­to­lo­gi­sche Fun­die­rung ei­ner Ethik der Ver­ant­wor­tung, die sei­nen An­satz we­sent­lich von bis­he­ri­gen Ver­ant­wor­tungs­ethi­ken ab­grenzt.

1988 er­hielt Jo­nas das Gro­ße Bun­des­ver­dienst­kreuz. Gleich­zei­tig wur­de er Eh­ren­bür­ger der Stadt Mön­chen­glad­bach. Es folg­ten Eh­ren­dok­tor­wür­den und –pro­mo­tio­nen in Bam­berg, Kon­stanz und Ber­lin.so­wie bis zu sei­nem Tod im­mer wie­der ei­ne ak­ti­ve Teil­nah­me am ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurs zum The­ma Zu­kunfts­ver­ant­wor­tung, wie sei­ne Dis­kus­si­on mit Karl-Ot­to Apel (ge­bo­ren 1922), Hans Küng (ge­bo­ren 1928) und Rein­hard Löw (1949-1994) auf der Kie­ler Kon­fe­renz „Ethik und Po­li­tik heu­te" im Jahr 1990.

Am 5. 2.1993 starb Hans Jo­nas in New Ro­chel­le bei New York.

Sei­ne Hei­mat­stadt Mön­chen­glad­bach er­rich­te­te am 3.6.1998 ein Hans-Jo­nas-Denk­mal, bei des­sen Über­ga­be der da­ma­li­ge Bun­des­prä­si­dent Jo­han­nes Rau ei­ne An­spra­che hielt. Au­ßer­dem ehr­te die Stadt Mön­chen­glad­bach Hans Jo­nas zu sei­nem 100. Ge­burts­tag 2003 mit ei­nem Hans-Jo­nas-Jahr.

Werke (Auswahl)

Er­in­ne­run­gen, Frank­furt a. M. 2003.
Gno­sis und spät­an­ti­ker Geist, Göt­tin­gen 1954.
Das Prin­zip Le­ben. An­sät­ze zu ei­ner phi­lo­so­phi­schen Bio­lo­gie, Frank­furt a. M. 1973.
Das Prin­zip Ver­ant­wor­tung. Ver­such ei­ner E­thi­k ­für die tech­no­lo­gi­sche Zi­vi­li­sa­ti­on, Frank­furt a. M. 1979.
Der Got­tes­be­griff nach Ausch­witz: ei­ne jü­di­sche Stim­me, Frank­furt a. M. 1987 .
_
Ge­samt­aus­ga­be _
Kri­ti­sche Ge­samt­aus­ga­be der Wer­ke von Hans Jo­nas (KGW­HJ), hg. von Diet­rich Böh­ler und Walt­her Ch. Zim­mer­li, 11 Bän­de, Frei­burg (Breis­gau) 2006-2012.

Literatur

End­ru­weit, Mei­ken / Sei­del, Ralf (Hg.), Prin­zip Zu­kunft: Im Dia­log mit Hans Jo­nas, Pa­der­born 2007.
Fa­sching, Wolf­gang, Ar­ti­kel "Jo­nas, Hans", in: Bio­gra­phisch-Bi­blio­gra­phi­sches Kir­chen­le­xi­kon 15 (1998), Sp. 763-773.
Mül­ler, Wolf­gang Erich (Hg.), Hans Jo­nas – von der Gno­sis­for­schung zur Ver­ant­wor­tungs­ethik, Stutt­gart 2003 .
Mül­ler, Wolf­gang Erich (Hg.), Hans Jo­nas. Phi­lo­soph der Ver­ant­wor­tung, Darm­stadt 2008.
Wetz, Franz Jo­sef, Hans Jo­nas zur Ein­füh­rung, Ham­burg 1994.

Online

Hans Jo­nas 1903-1993 (In­for­ma­ti­on auf der Home­page des Hans Jo­nas-Zen­trum e.V.). [On­line]

 
Zitationshinweis

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Gottlöber, Susan, Hans Jonas, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hans-jonas/DE-2086/lido/57c92f7c84a021.82498306 (abgerufen am 18.03.2024)