Otto Wittgen

Nationalsozialistischer Oberbürgermeister von Koblenz (1881-1941)

Petra Weiß (Koblenz)

Das bekannteste Foto von Oberbürgermeister Otto Wittgen. (Stadtarchiv Koblenz)

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Der Re­gie­rungs- und Ge­wer­be­rat Ot­to Witt­gen wur­de am 16.3.1933 zu­nächst kom­mis­sa­risch in sein Amt als Ober­bür­ger­meis­ter der Stadt Ko­blenz ein­ge­führt. Er trat an die Stel­le des zwangs­be­ur­laub­ten Dr. Hu­go Ro­sen­dahl. Un­ter der Ägi­de des Al­ten Kämp­fers Witt­gen fand die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche I­deo­lo­gie ins­be­son­de­re über die ri­go­ro­se Gleich­schal­tung des Be­am­ten­ap­pa­rats Ein­gang in die täg­li­che Pra­xis der Stadt­ver­wal­tung. Ob­wohl sich Par­tei und Re­gie­rung schon bald un­zu­frie­den mit ihm zeig­ten, konn­te sich Witt­gen mit er­staun­li­cher Zä­hig­keit bis Mit­te 1939 auf sei­nem Pos­ten hal­ten.

 

Ot­to Witt­gen wur­de am 6.8.1881 in Neun­kir­chen (Ober­wes­ter­wald) als Sohn des Haupt­leh­rers Phil­ipp Witt­gen (1856-1926) und sei­ner Frau Char­lot­te ge­bo­re­ne Deu­ßer (ge­bo­ren 1857) ge­bo­ren. Er be­such­te das Re­al­gym­na­si­um in Wies­ba­den und nach ei­ner Tä­tig­keit in der Ei­sen­bahn-Haupt­werk­stät­te in Frank­furt am Main stu­dier­te er von 1900 bis 1902 Ma­schi­nen­bau an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Han­no­ver. Dort wur­de er ak­ti­ves Mit­glied des Stu­den­ten­bun­des Po­ly­tech­ni­ker-Ge­sang-Ver­ein (P.G.V.) Han­no­ver (heu­te Tur­ner­schaft Han­sea im Mar­bur­ger Kon­vent; er blieb zeit­le­bens Al­ter Herr und Bun­des­bru­der. Als Ein­jäh­rig-Frei­wil­li­ger dien­te Witt­gen 1902/1903 beim 2. Nas­saui­schen Feld-Ar­til­le­rie-Re­gi­ment Nr. 63 in Mainz und setz­te dann von 1903 bis 1905 sein Ma­schi­nen­bau­stu­di­um an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Darm­stadt fort. 1905 ab­sol­vier­te er die Re­gie­rungs­bau­füh­rer-Prü­fung und ar­bei­te­te bis En­de des Jah­res bei der Hes­si­schen Dampf­kes­sel-In­spek­ti­on Darm­stadt. An­fang 1906 wur­de Witt­gen Ge­wer­be­re­fe­ren­dar beim Ge­wer­be­auf­sichts­amt Wies­ba­den, 1909 be­stand er sei­ne Prü­fung als Ge­wer­be­as­ses­sor. Ne­ben sei­ner be­ruf­li­chen Tä­tig­keit nahm er von 1907 bis 1909 ein Stu­di­um der Rechts- und Staats­wis­sen­schaf­ten an den Uni­ver­si­tä­ten Frank­furt am Main und Ber­lin auf, das er je­doch nicht ab­schloss. 1909 bis 1912 ar­bei­te­te er als Hilfs­ar­bei­ter beim Ge­wer­be­auf­sichts­amt in Hirsch­berg (Schle­si­en).

Am 19.9.1910 hei­ra­te­te Witt­gen in Alt-Rahlstedt (heu­te Ham­burg) Con­stan­ze Rich­ter (1877-1957), die Toch­ter ei­nes Ham­bur­ger Be­am­ten.

1912 bis 1914 war Witt­gen als Ge­wer­be­as­ses­sor beim Ge­wer­be­auf­sichts­amt Han­no­ver tä­tig, be­vor er am 1.4.1914 als Ge­wer­bein­spek­tor Lei­ter des Ge­wer­be­auf­sichts­am­tes in It­ze­hoe wur­de. Von Sep­tem­ber 1914 bis Au­gust 1918 nahm Witt­gen am Ers­ten Welt­krieg teil. Ne­ben dem Ei­ser­nen Kreuz II. Klas­se wur­de er mit dem Meck­len­bur­gisch-Schwe­ri­ner Mi­li­tär­ver­dienst­kreuz II. Klas­se, dem Ham­bur­ger Han­sea­ten­kreuz und dem Ver­dienst­kreuz für Kriegs­hil­fe aus­ge­zeich­net. Nach Kriegs­en­de kehr­te er nach It­ze­hoe zu­rück. Am 1.10.1921 wur­de er zum Re­gie­rungs- und Ge­wer­be­rat be­för­dert und ar­bei­te­te bei den Re­gie­run­gen in Düs­sel­dorf und Wies­ba­den. Schlie­ß­lich kam Witt­gen am 1.6.1924 zur Re­gie­rung in Ko­blenz. Sein Pri­vat­ver­mö­gen hat­te er zu die­sem Zeit­punkt durch die In­fla­ti­on rest­los ver­lo­ren, wäh­rend er in It­ze­hoe noch als ziem­lich ver­mö­gend ge­gol­ten hat­te.

Otto Wittgen als Student, um 1900-1902, Porträtfoto. (Stadtarchiv Koblenz)

 

Von April 1919 bis April 1932 ge­hör­te Witt­gen der rechts­li­be­ra­len Deut­schen Volks­par­tei an. In Ko­blenz wur­de er 1926 Mit­glied der tra­di­ti­ons- und ein­fluss­rei­chen Ca­si­no-Ge­sell­schaft. Als En­de Ju­li 1932 das Ver­bot der Mit­glied­schaft in der NS­DAP für preu­ßi­sche Be­am­te auf­ge­ho­ben wur­de, trat Witt­gen der Par­tei so­fort zum 1.8.1932 bei. Sei­ne Frau war be­reits zwei Jah­re zu­vor Par­tei­mit­glied ge­wor­den.

Witt­gen stand bei den Kom­mu­nal­wah­len am 12.3.1933 nur auf Platz 9 der NS­DAP-Lis­te. Bis zu die­sem Zeit­punkt dürf­te er für wei­te Tei­le der Ko­blen­zer Öf­fent­lich­keit ein un­be­schrie­be­nes Blatt ge­we­sen sein. Sei­ne po­li­ti­sche Zu­ver­läs­sig­keit stand für die Par­tei aber au­ßer Fra­ge. Er ver­kehr­te zu­sam­men mit Al­ten Kämp­fern re­gel­mä­ßig an ei­nem 1930 ge­grün­de­ten Stamm­tisch, der sich „Tisch der deut­schen Frei­heits­be­we­gun­g“ nann­te. Bald nach sei­nem Par­tei­ein­tritt en­ga­gier­te sich Witt­gen ak­tiv für die Be­we­gung, in­dem er sich an der Grün­dung des „Ver­eins zur Um­schu­lung frei­wil­li­ger Ar­beits­kräf­te Ko­blenz e.V.“ be­tei­lig­te und als Vor­sit­zen­der zur Ver­fü­gung stell­te. Spä­ter wur­de Witt­gen für sei­ne Ver­diens­te um den Ver­ein, der im Reichs­ar­beits­dienst auf­ging, eh­ren­hal­ber der Rang ei­nes Ober­feld­füh­rers ver­lie­hen. Auf of­fi­zi­el­len Fo­tos trägt er stets die RAD-Uni­form mit der cha­rak­te­ris­ti­schen Müt­ze. Die För­de­rung des Reichs­ar­beits­diens­tes blieb Witt­gen stets ein be­son­de­res An­lie­gen.

Nach Wittgens Amtseinführung auf dem Rathausbalkon: Wittgen in der Mitte über der Hakenkreuzfahne, links neben ihm Gauleiter Gustav Simon, 16. März 1933. (Stadtarchiv Koblenz)

 

Witt­gen war ein er­fah­re­ner Ver­wal­tungs­be­am­ter, er war in sei­ner neu­en Po­si­ti­on als Ober­bür­ger­meis­ter al­so kein rei­ner Par­tei­buch­be­am­ter. Al­ler­dings be­weg­te er sich in ei­nem be­grenz­ten tech­ni­schen Fach­ge­biet. Witt­gen selbst ver­stand sich als „alt­preu­ßi­scher“ Be­am­ter, wor­auf er im­mer wie­der ver­wies. Die 1933 vie­ler­orts zu be­ob­ach­ten­de Ver­jün­gung an der Stadt­spit­ze ist mit Witt­gen nicht ein­ge­tre­ten. Er war bei sei­nem Amts­an­tritt be­reits 51 Jah­re alt. Ei­ne Be­son­der­heit stell­te die Tat­sa­che dar, dass Witt­gen evan­ge­li­scher Kon­fes­si­on war und da­mit der ers­te Nicht­ka­tho­lik an der Spit­ze ei­ner Stadt, de­ren Ein­woh­ner zu fast 80 Pro­zent ka­tho­lisch wa­ren.

Die Ein­füh­rung Witt­gens in sein Amt durch den Re­gie­rungs­prä­si­den­ten voll­zog sich am 16.3.1933 im Ko­blen­zer Rat­haus. An­schlie­ßend zeig­te sich der neue kom­mis­sa­ri­sche Ober­bür­ger­meis­ter den Schau­lus­ti­gen auf dem Bal­kon, um­ge­ben von NS­DAP-Funk­tio­nä­ren, dar­un­ter Gau­lei­ter Gus­tav Si­mon. No­ch am sel­ben Nach­mit­tag traf Witt­gen die ers­ten per­so­nel­len Ent­schei­dun­gen und lei­te­te da­mit die po­li­ti­sche „Säu­be­run­g“ der Stadt­ver­wal­tung ein. Es gab die ers­ten Zwangs­be­ur­lau­bun­gen, de­nen in den nächs­ten Wo­chen und Mo­na­ten wei­te­re folg­ten. Be­trof­fen wa­ren vor al­lem Be­am­te in lei­ten­den Po­si­tio­nen, die eben­so wie sein Amts­vor­gän­ger Ro­sen­dahl fast aus­nahms­los auf­grund des Ge­set­zes zur Wie­der­her­stel­lung des Be­rufs­be­am­ten­tums vom 7.4.1933 zwangs­pen­sio­niert wur­den. Witt­gen zeig­te sich in den da­mit zu­sam­men­hän­gen­den Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren un­nach­gie­big, selbst wenn die Vor­wür­fe noch so lä­cher­lich und of­fen­kun­dig kon­stru­iert wa­ren und die Pen­sio­nen die oh­ne­hin fi­nanz­schwa­che Stadt zu­sätz­lich be­las­te­ten. Über­haupt war die Per­so­nal­po­li­tik der Be­reich, durch den die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Grund­sät­ze in die täg­li­che Ver­wal­tungs­pra­xis ein­si­cker­ten. Witt­gen be­gnüg­te sich da­bei nicht nur mit der vom NS-Staat vor­an­ge­trie­be­nen Gleich­schal­tung des Be­am­ten­ap­pa­rats durch stän­di­ge Schu­lungs-, Dis­zi­pli­nie­rungs- und Kon­troll­maß­nah­men, die auch in das Pri­vat­le­ben hin­ein­reich­ten. Er zeig­te auch die Ten­denz, sol­chen Maß­nah­men vor­zu­grei­fen und sie auf An­ge­stell­te und Ar­bei­ter aus­zu­wei­ten.

Die NSDAP-Stadtverordneten-Fraktion mit Oberbürgermeister Wittgen (unten Mitte), Frühjahr 1933. (Stadtarchiv Koblenz)

 

Eben­falls noch am 16. März setz­te Witt­gen die ers­ten bei­den po­li­ti­schen Kom­mis­sa­re ein. Er be­rief zwei NS­DAP-Stadt­ver­ord­ne­te und Mit­glie­der der Gau­lei­tung, die mit weit rei­chen­den Be­fug­nis­sen und Hilfs­kräf­ten aus­ge­stat­tet wur­den, dar­un­ter Gau­schatz­meis­ter Lud­wig Christ (1900-1938). Mit dem spä­te­ren eh­ren­amt­li­chen Bei­ge­ord­ne­ten der Stadt Ko­blenz und Ober­bür­ger­meis­ter von Trier ver­band Witt­gen ein freund­schaft­li­ches Ver­hält­nis. Ziel die­ser bis zum Som­mer 1933 tä­ti­gen „Re­vo­lu­ti­ons­kom­mis­sa­re“ war es, Vet­tern­wirt­schaft, Kor­rup­ti­on und Ver­schwen­dung in der Stadt­ver­wal­tung auf­zu­de­cken und für die Ent­fer­nung der po­li­tisch miss­lie­bi­gen Be­am­ten Be­weis­ma­te­ri­al zu sam­meln.

Schon bald hat­te sich Witt­gen mit par­tei­in­ter­nen Kri­ti­kern aus­ein­an­der­zu­set­zen, die ihm vor­war­fen, ein Klei­nig­keits­krä­mer und Pe­dant zu sein. Tat­säch­lich gibt es kaum ei­ne Ak­te aus sei­ner Amts­zeit, in der nicht we­nigs­tens Hand­zei­chen Witt­gens zu fin­den sind. Häu­fig un­ter­schrieb er die Kor­re­spon­denz per­sön­lich. Mehr­fach for­der­te er das städ­ti­sche Per­so­nal zu äu­ßers­ter Kos­ten­dis­zi­plin auf, wo­bei er selbst mit gu­tem Bei­spiel vor­an­ging. Gleich­zei­tig ver­lang­te Witt­gen von sei­nen Be­am­ten die stär­ke­re Ver­in­ner­li­chung des Dienst­leis­tungs­ge­dan­kens, die Ein­füh­rung ei­ner sys­te­ma­ti­sche­ren, ra­tio­nel­le­ren Ar­beits­wei­se und die Ver­bes­se­rung der Au­ßen­wir­kung sei­ner Ver­wal­tung. Die Be­diens­te­ten soll­ten sich den Bür­gern ge­gen­über takt­voll und ent­ge­gen­kom­mend ver­hal­ten. Bei län­ge­ren Be­ar­bei­tungs­zei­ten von An­trä­gen und Ge­su­chen soll­ten Zwi­schen­be­schei­de er­teilt wer­den. Für die Dienst­räu­me sprach der Zi­gar­ren­rau­cher Witt­gen ein Rauch­ver­bot aus, weil sich das Rau­chen nicht mit der Dienst­auf­fas­sung und Wür­de des Be­am­ten dem Pu­bli­kum ge­gen­über ver­tra­ge.

Wittgen mit SA-Chef Ernst Röhm auf der Festung Ehrenbreitstein, 21. August 1933. (Stadtarchiv Koblenz)

 

Witt­gen war stark ge­prägt vom Stan­des­be­wusst­sein ei­nes preu­ßi­schen Be­am­ten und dem Rang sei­nes Am­tes, dem Re­spekt ge­zollt wer­den soll­te. Ge­ra­de in der ers­ten Zeit nach der „Macht­er­grei­fung“ scheu­te er sich nicht, den bis­wei­len rü­den und for­dern­den Ton, den Amts­wal­ter von NS­DAP-Glie­de­run­gen ihm ge­gen­über an­schlu­gen, zu­rück­zu­wei­sen. Witt­gen kam aber den For­de­run­gen der Par­tei nach der Ein­stel­lung ar­beits­lo­ser Al­ter Kämp­fer weit­ge­hend ent­ge­gen und ver­letz­te da­bei so­gar Ein­stel­lungs­grund­sät­ze. Im Mai 1934 be­zif­fer­te er die Zahl der bei der Stadt un­ter­ge­kom­me­nen Al­ten Kämp­fer auf 75, bis 1937 wa­ren es schon 160. Witt­gen war ein strik­ter Ver­fech­ter des Füh­rer­prin­zips, das nicht nur von der NS­DAP ver­tre­ten wur­de. Das Preu­ßi­sche Ge­mein­de­ver­fas­sungs­ge­setz vom 15.12.1933 de­gra­dier­te eben­so wie die reichs­wei­te Deut­sche Ge­mein­de­ord­nung vom 30.1.1935 den Ge­mein­de­rat zu ei­nem rein be­ra­ten­den Gre­mi­um und mach­te den Ober­bür­ger­meis­ter zum al­lein ver­ant­wort­li­chen Füh­rer der Ver­wal­tung.

In der kon­sti­tu­ie­ren­den Sit­zung der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung un­ter Witt­gens Vor­sitz am 29.3.1933 wur­de Adolf Hit­ler (1889-1945) zum Eh­ren­bür­ger der Stadt ge­wählt. Der Ober­bür­ger­meis­ter stell­te die ein­stim­mi­ge Wahl fest, ob­wohl zwei pro­tes­tie­ren­de so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Stadt­ver­ord­ne­te von SS-Män­nern aus dem Saal der fest­lich ge­schmück­ten Stadt­hal­le ge­führt wur­den. In ih­rer Sit­zung vom 4. Au­gust wähl­ten die noch ver­blie­be­nen Stadt­ver­ord­ne­ten Witt­gen ein­stim­mig zum Stadt­ober­haupt.

Zu den her­aus­ra­gen­den Er­eig­nis­sen sei­ner Amts­zeit ge­hör­te die Ein­wei­hung der zwei­ten Brü­cke über die Mo­sel am 22.4.1934, de­ren Bau noch un­ter sei­nem Vor­gän­ger be­gon­nen wor­den war. Witt­gen setz­te sich er­folg­reich da­für ein, dass Hit­ler die Zu­stim­mung gab, sie nach ihm zu be­nen­nen. Am 26.8.1934 war der Reichs­kanz­ler und Reichs­prä­si­dent dann Haupt­red­ner der Saar­treu­e­kund­ge­bung auf der Fes­tung Eh­ren­breit­stein. Hit­ler er­hielt aus Witt­gens Hand ei­ne Fest­schrift über die Ko­blen­zer Brü­cken über­reicht, doch zur gro­ßen Ent­täu­schung der Ko­blen­zer be­such­te er die Rhein-Mo­sel-Stadt bei die­ser Ge­le­gen­heit nicht. Witt­gen schick­te dem Eh­ren­bür­ger we­nig spä­ter ei­ne schrift­li­che Ein­la­dung zum Be­such der Stadt, in der er die ent­täusch­te Vor­freu­de ih­rer Bür­ger an­sprach.

Auf die bei­den be­deu­tends­ten und nach­hal­tigs­ten Er­eig­nis­se hat­te Witt­gen kei­nen Ein­fluss: die Re­mi­li­ta­ri­sie­rung des Rhein­lands am 7.3.1936, die aus Ko­blenz wie­der ei­ne Gar­ni­son­stadt mach­te, so­wie die Ein­ge­mein­dung meh­re­rer um­lie­gen­der Ge­mein­den zum 1.7.1937, zu de­ren Vor­be­rei­tung er und der Land­rat 1935 vom Re­gie­rungs­prä­si­den­ten im Ein­ver­neh­men mit dem Gau­lei­ter be­auf­tragt wor­den wa­ren.

Hitler auf der Ehrentribüne anlässlich der Saartreuekundgebung auf der Festung Ehrenbreitstein, links hinter ihm Wittgen, 26. August 1934. (Stadtarchiv Koblenz)

 

Gleich zu Be­ginn sei­ner Amts­zeit hat­te Witt­gen die Stadt­ver­wal­tung und ih­re Be­diens­te­ten in den Boy­kott jü­di­scher Ge­schäf­te ein­be­zo­gen. Dem Boy­kott­auf­ruf des Gau­ak­ti­ons­aus­schus­ses zum 1.4.1933 füg­te er hin­zu, dass er auf des­sen Be­fol­gung durch sei­ne Be­am­ten und An­ge­stell­ten ver­traue. Am 6. April ver­bot er dann die Be­lie­fe­rung der Stadt durch jü­di­sche und mar­xis­ti­sche Ge­schäf­te. Er bat die städ­ti­schen Be­diens­te­ten, die­sen Grund­satz auch bei pri­va­ten Ein­käu­fen zu be­rück­sich­ti­gen.

Durch die Un­acht­sam­keit sei­ner Ehe­frau stol­per­te Witt­gen 1935 in ei­ne Af­fä­re, die ihn fast sein Amt kos­te­te. Im an­ti­se­mi­ti­schen Hetz­blatt „Der Stür­mer“ er­schien am 12. Ju­li ein Le­ser­brief, der den Ein­kauf von Witt­gens Ehe­frau in ei­nem jü­di­schen Kauf­haus und ih­ren dar­auf­hin er­folg­ten Par­tei­aus­schluss the­ma­ti­sier­te. Laut­stark rie­fen die Zei­tungs­ver­käu­fer die­se Neu­ig­kei­ten in den Ko­blen­zer Stra­ßen aus; die Zei­tung hing au­ßer­dem in meh­re­ren Schau­käs­ten. Witt­gens so­for­ti­ge Ver­su­che, das Aus­ru­fen und den Ver­kauf durch den NS­DAP-Gau­lei­ter und NS­DAP-Kreis­lei­ter un­ter­bin­den zu las­sen, blie­ben oh­ne Er­folg. HJ-Ge­biets­füh­rer Rolf Kar­bach (1908-1990), Rats­herr der Stadt, ver­lang­te bei Gau­lei­ter Si­mon, Witt­gen müs­se um­ge­hend sein Amt nie­der­le­gen. In ei­ner Rund­ver­fü­gung de­men­tier­te Witt­gen zwar den Par­tei­aus­schluss, doch tat­säch­lich war Con­stan­ze Witt­gen im Mai vom NS­DAP-Kreis­ge­richt aus­ge­schlos­sen wor­den, weil sie am 1. März zu­sam­men mit ih­rem Nef­fen im Kauf­hof ei­nen Fast­nachts­hut ge­kauft hat­te. Ih­re Be­schwer­de beim Gau­ge­richt wur­de im Ok­to­ber in letz­ter In­stanz vom Obers­ten Par­tei­ge­richt ab­ge­wie­sen. Witt­gen selbst hat­te dort um Klä­rung ge­be­ten, ob die West­deut­sche Kauf­hof AG als ge­tarn­tes jü­di­sches Un­ter­neh­men gel­te. Es gä­be ei­ne künst­lich er­zeug­te Er­re­gung in der Be­völ­ke­rung, dar­über kön­ne die Ge­sta­po – die den Vor­fall tat­säch­lich re­gis­triert hat­te – Aus­kunft ge­ben. Er ver­mu­te­te ei­ne In­tri­ge: Draht­zie­her woll­ten sei­ne Stel­lung als Ober­bür­ger­meis­ter un­ter­gra­ben.

Wenn auch ein Par­tei­aus­schluss von Witt­gen selbst, der mit ho­her Wahr­schein­lich­keit den Ver­lust sei­nes Am­tes nach sich ge­zo­gen hät­te, kei­ne Be­für­wor­ter in den Par­tei­in­stan­zen fand, so scha­de­te die gan­ze Af­fä­re sei­nem An­se­hen in Öf­fent­lich­keit, Par­tei und Ver­wal­tung doch er­heb­lich. Zu­min­dest nach au­ßen wur­den die Wo­gen wie­der ge­glät­tet. Dies hing wahr­schein­lich mit dem Be­such von Reichs­ar­beits­dienst­füh­rer Kon­stan­tin Hierl (1875-1955) zu­sam­men, der am 17.10.1935 aus der Hand Witt­gens den Eh­ren­bür­ger­brief er­hielt. Ein mit den lo­ka­len Par­tei­grö­ßen zer­strit­te­ner oder gar aus der Par­tei aus­ge­schlos­se­ner Ober­bür­ger­meis­ter hät­te kein gu­tes Licht auf die Ver­hält­nis­se in der Gau­haupt­stadt ge­wor­fen. Doch Witt­gen blieb an­ge­schla­gen. Er wur­de öf­fent­lich zu­rück­ge­setzt; das Par­tei­or­gan „Na­tio­nal­blat­t“ er­wähn­te ihn kaum noch. Ei­nen Hö­he­punkt mar­kier­te da­bei der Kurz­be­such von Reich­sin­nen­mi­nis­ter Wil­helm Frick (1877-1946) am 1.4.1938. Gau­lei­ter Si­mon ver­hin­der­te ei­nen ge­plan­ten Emp­fang durch den Ober­bür­ger­meis­ter im Rat­haus, in­dem er ge­gen­über Frick mit dem Par­tei­aus­schluss von Witt­gens Frau und die lau­fen­den Be­mü­hun­gen um sei­ne Ab­set­zung ar­gu­men­tier­te.

Schon seit Mit­te 1936 war die Ab­lö­sung von Ober­bür­ger­meis­ter Witt­gen Ge­gen­stand von Be­ra­tun­gen zwi­schen Gau­lei­ter, Re­gie­rungs­prä­si­dent, Ober­prä­si­dent und Reich­sin­nen­mi­nis­te­ri­um. Da­bei las­sen sich we­der ein kon­kre­ter An­lass noch Ver­feh­lun­gen Witt­gens als Aus­lö­ser für die­se Be­stre­bun­gen aus­ma­chen. Die Stür­mer-Af­fä­re hat­te aber schon of­fen­kun­dig ge­macht, dass Witt­gen ein ech­ter Rück­halt in­ner­halb der NS­DAP fehl­te und er nur man­gels per­so­nel­ler Al­ter­na­ti­ven ge­hal­ten wur­de. Er ge­hör­te we­der dem en­ge­ren Zir­kel um den Gau­lei­ter an noch üb­te er ir­gend­ein wich­ti­ges Par­tei­amt aus, das ihm ein ge­wis­ses Ge­wicht oder gar ei­ne Haus­macht ver­schafft hät­te.

Die Re­mi­li­ta­ri­sie­rung des Rhein­lands 1936 und die Ver­grö­ße­rung der Gau­haupt­stadt durch meh­re­re Ein­ge­mein­dun­gen 1937 schu­fen ein Ent­wick­lungs­po­ten­ti­al, für das sich Par­tei und Ober­be­hör­den ei­nen dy­na­mi­sche­ren Ober­bür­ger­meis­ter wünsch­ten. Die Vor­wür­fe lau­te­ten In­itia­tiv­lo­sig­keit und Füh­rungs­schwä­che. Die In­ter­es­sen­la­gen wa­ren aber kei­nes­wegs de­ckungs­gleich: Die Re­gie­rung setz­te den Ak­zent pi­kan­ter­wei­se auf die man­geln­de Durch­set­zungs­kraft ge­gen­über der Par­tei. Für die Par­tei, die sich als „jun­ge Be­we­gun­g“ ver­stand, war Witt­gen im Ver­gleich zu vie­len ört­li­chen Par­tei­funk­tio­nä­ren zu alt und da­her „un­be­weg­li­ch“. So war zum Bei­spiel der „Be­auf­trag­te der Par­tei“ ge­mäß Deut­scher Ge­mein­de­ord­nung, Kreis­lei­ter Ro­bert Claus­sen (1909-1941), 28 Jah­re jün­ger. Durch sei­nen zä­hen Wi­der­stand und sei­ne be­harr­li­che Hin­hal­te­tak­tik schaff­te es Witt­gen aber, sich noch drei Jah­re lang im Amt zu hal­ten, bis ihn der Wunsch­kan­di­dat von Gau­lei­ter Si­mon, Theo­dor Ha­bicht, der frü­he­re Lan­des­in­spek­teur der NS­DAP in Ös­ter­reich, ab­lös­te.

Witt­gen stell­te sich ein­fach stur, poch­te auf sei­ne zwölf­jäh­ri­ge Amts­zeit und ver­han­del­te im­mer wie­der neu. Er lie­fert ein ein­drucks­vol­les Bei­spiel da­für, dass es der Par­tei bei hart­nä­cki­gem Wi­der­stand schwer fal­len konn­te, ei­nen un­lieb­sam ge­wor­de­nen Ober­bür­ger­meis­ter aus dem Amt zu drän­gen, und das selbst dann, wenn die staat­li­chen Auf­sichts­be­hör­den am sel­ben Strang zo­gen. Der Ober­prä­si­dent stell­te ihm schlie­ß­lich ver­är­gert ein Ul­ti­ma­tum für sein „frei­wil­li­ge­s“ Pen­sio­nie­rungs­ge­such, das Witt­gen ein­reich­te, nach­dem er ei­ne Zu­sa­ge für ei­ne ein­ma­li­ge Bei­hil­fe von 10.000 Reichs­mark als Här­teaus­gleich er­hal­ten hat­te. Am 1.7.1939 ging Witt­gen in Ur­laub, sein of­fi­zi­el­les Pen­sio­nie­rungs­da­tum war der 30.9.1939.

Im Ru­he­stand er­krank­te Witt­gen schwer. Trotz­dem küm­mer­te er sich noch wei­ter um die Fer­tig­stel­lung des Schän­gel-Brun­nens, der ihm sehr am Her­zen lag und für den er we­sent­li­che ge­stal­te­ri­sche Im­pul­se ge­ge­ben hat­te. Im No­vem­ber 1939 zog Witt­gen mit Ehe­frau und Toch­ter Eli­sa­beth (1924-2013) aus der Dienst­vil­la in ein neu er­bau­tes Ein­fa­mi­li­en­hau­ses in Ko­blenz-Pfaf­fen­dorf, wo er am 31.1.1941 ei­nem Krebs­lei­den er­lag. Vier Ta­ge spä­ter wur­de der ers­te na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ober­bür­ger­meis­ter von Ko­blenz in ei­ner städ­ti­schen Eh­ren­grabstät­te auf dem Haupt­fried­hof be­er­digt.

Quellen

Bun­des­ar­chiv Ber­lin-Lich­ter­fel­de R 3901/100971; Best. ehem. BDC, OPG, Witt­gen, Ot­to.
Lan­des­haupt­ar­chiv Ko­blenz Best. 708 Nr. 60; Best. 403 Nr. 17248; Best. 441 Nr. 43657.
Stadt­ar­chiv Ko­blenz 623 Nr. 2615; Nr. 6137; 623,8 Nr. 155; Bau­ak­te Fach 158, El­lings­hohl 2-22.
Stan­des­amt Mit­tel­ho­fen (heu­te El­soff), Ge­burts­ein­trag Nr. 51/1881.
Stan­des­amt Alt-Rahlstedt (heu­te Ham­burg-Rahlstedt), Kreis Stor­marn, Hei­rats­ein­trag Nr. 35/1910.
Stan­des­amt Ko­blenz, To­des­ein­trag Nr. 143/1941.

Werke

Die Staub­be­sei­ti­gung und Ge­räusch­be­kämp­fung in Schot­ter­be­trie­ben. Im Auf­tra­ge des Tech­ni­schen Aus­schus­ses der Deut­schen Ge­sell­schaft für Ge­wer­be­hy­gie­ne, Ber­lin 1932.

Literatur

Bo­b­e­rach, Heinz, Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Dik­ta­tur, Nach­kriegs­zeit und Ge­gen­wart, in: Ge­schich­te der Stadt Ko­blenz, Band 2, Stutt­gart 1993, S. 170-223, 571-577.
Bu­cher, Pe­ter, Ko­blenz wäh­rend der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Zeit, in: Jahr­buch für west­deut­sche Lan­des­ge­schich­te 11 (1985), S. 211-245.
Den­zer, Hein­rich, Au­gen­rol­ler und Schän­gel­brun­nen. Zwei Wahr­zei­chen der Stadt, Ko­blenz 1990.
Das Deut­sche Füh­rer­le­xi­kon 1934/35, Ber­lin 1934, S. 535.
Kampmann, Hel­mut, Wenn Stei­ne re­den. Ge­denk­ta­feln und Er­in­ne­rungs­plat­ten in Ko­blenz, Ko­blenz 1992, S. 19-20.
Ro­meyk, Horst, Die lei­ten­den staat­li­chen und kom­mu­na­len Ver­wal­tungs­be­am­ten der Rhein­pro­vinz 1816-1945, Düs­sel­dorf 1994, S. 823.
Zi­bell, Ste­pha­nie, Ober­bür­ger­meis­ter Theo­dor Ha­bicht – Wer­de­gang ei­nes Na­tio­nal­so­zia­lis­ten, in: Ko­blen­zer Bei­trä­ge zur Ge­schich­te und Kul­tur NF 9/10 (1999/2000), S. 72-100, hier S. 89-92.

Online

Weiß, Pe­tra, Die Stadt­ver­wal­tung Ko­blenz im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, Diss. Fern­Uni­ver­si­tät Ha­gen 2012. [On­line]

Wittgen begrüßt den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring in den Rheinanlagen, 17. März 1936. (Stadtarchiv Koblenz)

 
Zitationshinweis

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Weiß, Petra, Otto Wittgen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/otto-wittgen/DE-2086/lido/57c932dada3954.44942600 (abgerufen am 23.04.2024)