1815 bis 1848 - Vom Wiener Kongress zur Revolution
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1. Einführung
Die Ära vom Wiener Kongress 1814/1815 bis zur Revolution von 1848 war eine Zeit des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbruchs. Vielfältige Traditionen des Ancien Régime mischten sich mit Ansätzen der nachfeudalen, bürgerlichen Gesellschaft.
Die als überwiegend positiv empfundenen Erfahrungen mit der französischen Verwaltungs- und Rechtspraxis rechts und vor allem links des Rheins hatte einen nicht mehr rückgängig zu machenden gesellschaftlichen Wandel eingeleitet, der die Umstellung auf die monarchische, dem Absolutismus verhafteten Herrschaftsordnung Preußens erheblich erschwerte. Neue soziale Schichten, zuerst vor allem das Bürgertum, später auch die Arbeiterschaft, forderten Teilhabe an Staat und Gesellschaft. Der Adel hatte seine führende Rolle eingebüßt. Welche Perspektiven ergaben sich für das Rheinland, das in keinerlei Hinsicht mit der in den preußischen Ostprovinzen vorherrschenden ständischen Gesellschaftsordnung in Einklang zu bringen war? Ob sich die Bürgerrechte als eine bedeutende Hinterlassenschaft der französischen Zeit auch unter preußischer Herrschaft erhalten und weiter entwickeln konnten, blieb indes zunächst offen. Im wirtschaftlichen Bereich prallten das traditionelle handwerkliche Gewerbe und die einsetzende Phase der Frühindustrialisierung aufeinander. Die Verelendung großer Bevölkerungsteile, der Pauperismus der 1840er Jahre, wirkte sicht nicht nur auf die soziale Existenz von Bauern, Heimarbeitern, Tagelöhnern und Handwerkern, sondern auch auf das politische Verhalten der Menschen aus. Die sich zuspitzenden politischen und sozioökonomische Missstände führten zur Herausbildung jener politischen Anschauungen, die zur ideologischen Basis der radikalen demokratisch-republikanischen Kräfte in der Revolution von 1848/1849 werden sollten.
2. Die Besitzergreifung des Rheinlands durch Preußen
Als der Wiener Kongress 1814/1815 das europäische Staatensystem neu ordnete, wurden auch die Grenzen am Rhein neu gezogen. Das Königreich Bayern erhielt im Südwesten die Pfalz mit den Städten Zweibrücken, Speyer und Kaiserslautern. Dem Großherzogtum Hessen wurde das linksrheinische (nun so genannte) Rheinhessen zugeschlagen, ein Territorium, das auch die Städte Worms und Bingen sowie die Bundesfestung Mainz einschloss. Der Löwenanteil des Rheinlands fiel aber an Preußen. Zusätzlich zu seinen älteren Besitzungen in Kleve, Geldern, Moers und den durch die Säkularisation unter preußische Hoheit gelangten ehemaligen Reichsstiften Essen, Elten und Werden, erhielt Preußen weitere Gebiete: das rechtsrheinisch gelegene Großherzogtum Berg, den Niederrhein mit dem ehemaligen Herzogtum Jülich, dem Kurfürstentum Köln und den Reichsstädten Köln und Aachen, die kleineren Herrschaftsgebiete in der Eifel, dem Hunsrück und an der Saar und nicht zuletzt die Gebiete des ehemaligen Kurfürstentums Trier an Mittelrhein und Mosel mit den Städten Koblenz und Trier.
Zunächst in die beiden Provinzen Niederrhein und Jülich-Kleve-Berg untergliedert, wurde dieser Raum 1822 zu den „Rheinprovinzen“ vereinigt, für die sich ab 1830 die Bezeichnung „Rheinprovinz“ durchsetzte. Bereits 1818 wurde die Universität Bonn gegründet. Der Sitz der Verwaltung (das Oberpräsidium) befand sich seit 1822 in Koblenz, der des Provinziallandtages seit 1824 in Düsseldorf. Köln hingegen, die größte rheinische Stadt, gleichzeitig aber eine Hochburg des Katholizismus, blieb nicht zuletzt wegen der dort vorherrschenden antipreußischen Stimmung weitgehend unberücksichtigt.
Diese großen Gebietszugewinne im Westen hatte Preußen allerdings nicht angestrebt. Es hatte vielmehr eine territoriale Erweiterung seines Staatsgebietes auf Kosten des Königreichs Sachsen gefordert. England und Russland wiesen Preußen jedoch die Rolle eines Grenzhüters gegen französische Hegemonialbestrebungen zu. Die Wiener Entscheidung wurde allein von diplomatisch-militärischen Gesichtspunkten geleitet. Das enorme wirtschaftliche Wachstumspotential dieser Region spielte hingegen keine Rolle. In politisch-ökonomischer Hinsicht sollte sich die Industrialisierung des Rheinlands, die in den 1840er Jahren verstärkt einsetzte, zu einem 1815 noch nicht vorhersehbaren Glücksfall für Preußen entwickeln, da sie die politische und militärische Macht Preußens wesentlich stärken sollte.
Unzweifelhaft ist, dass sich die Staatsmänner des Wiener Kongresses im Stil des Ancien Régime verhalten und den Wünschen der rheinischen Bevölkerung keine Beachtung geschenkt hatten. Die Rheinländer beriefen sich dagegen auf verbriefte Rechte und betrachteten sich, gerade aus der konstitutionellen Tradition der französischen Herrschaft im Linksrheinischen heraus, als mitbestimmende Bürger.
Die Beziehungen der ostdeutschen Großmacht Preußen zur rheinischen Bevölkerung waren von Beginn an problematisch .Die Verzahnung von preußischem Absolutismus und rheinischem Bürgersinn erwies sich als ein zentrales Problem dieser Zeit. Einige Spannungsverhältnisse offenbarten sich rasch.
Die sozialpolitische Vorherrschaft des Adels im preußischen Kernland, dessen patrimoniale, das heißt auf eigenständiger Verfügungsgewalt basierende Herrschaft, auf seinen ostelbischen Güter noch fortlebte, stand in scharfem Widerspruch zu den wirtschaftlichen und politischen Zuständen am Rhein. Dort hatte der Adel in Folge der Französischen Revolution von 1789 seine führende Rolle in Verwaltung, Wirtschaft und Politik längst verloren. Der ausgeprägte Protestantismus Preußens erwies sich mit dem rheinischen Katholizismus als schwer vereinbar und erzeugte erhebliche kirchenpolitische Spannungen, die zum Kölner Kirchenstreit 1837-1840 und zum Kulturkampf der 1870er Jahren führten.
Im Vergleich zum französischen Regierungssystem und früheren Herrschaften empfanden die Rheinländer die preußische Verwaltungsordnung als schwerfällig, unzugänglich und hierarchisch aufgesetzt. Aus wirtschaftlicher Sicht betrachteten rheinische Kaufleute Preußen nicht zuletzt als ein kapitalarmes Land, mit dem man weitaus weniger günstige Geschäfte machen konnte, als mit den Franzosen. In diesem Zusammenhang hat der Kölner Bankier Abraham Schaaffhausen den bekannten Spruch geäußert: „Jesses, Maria, Josef, do hierode mir ävver in en ärm Famillisch!” Resümierend spitzte der Historiker Pierre Ayçoberry (1925-2012) die weit verbreitete Ansicht der Rheinländer dahin gehend zusammen: „Preussen ist arm, protestantisch und autoritär”.
In der Rheinprovinz prallten somit zwei in vielerlei Hinsicht gegensätzliche Mentalitäten aufeinander. Der gelassene Pragmatismus und die kompromissbereite Haltung, mit denen sich das rheinische Bürgertum mit der französischen Herrschaft abgefunden hatte, stand im Gegensatz zu dem strammen Verhalten des preußischen Beamtentums.
Seit dem Mittelalter waren die Städte des Rheinlands westeuropäisch orientiert gewesen. Niederrheinische Geschäftsleute trieben Handel und Gewerbe mit Brabant und den Niederlanden und sprachen mit einander in ähnlichen Dialekten. Seit dem 17. Jahrhundert war Frankreich der entscheidene Impulsgeber für die kulturelle Entwicklung im Rheinland. Preußische Offiziere und Beamten klagten daher über die „französische Gesinnung” der Rheinländer und bezeichneten sie abschätzig als „Halb-Franzosen”.
Der preußische Offizier und spätere Staatsminister Friedrich Carl Freiherr von Müffling (1775-1851), der 1814 an der Eroberung des Rheinlands teilgenommen hatte, bemerkte: „Bei den Bewohnern des linken Rheinufers fanden wir eine stumpfe Gleichgültigkeit gegen Deutschland, gegen seine Sprache und Sitten vorherrschend. Alle Interessen hatten sich nach Frankreich gewendet.” Melchior Boisserée, der Kölner Patrizier, bestätigte diese Einstellung im selben Jahr: „Man hört nur zu oft das frevelhafte Wort: noch lieber französisch als preußisch”. In spöttischem Geist haben Rheinländer dagegen preußische Beamte und Offiziere als „Pommern“ oder sogar „Lithauer” bezeichnet. Die geographische Verortung wies auf Preußens prekäre Beziehung zur westlichen Zivilisation hin (Jürgen Herres).
Bei diesen gegenseitigen Vorbehalten ist die Aufrechterhaltung der so genannten „rheinischen Institutionen” nicht zu unterschätzen. Nach der Besitzergreifung durch Preußen bestand die Aussicht, dass die Rheinprovinz sich auch dem preußischen Rechtswesen anpassen müsste. Obwohl sich das 1795 eingeführte „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ (ALR) in vielerlei Hinsicht als fortschrittlich erwiesen hatte, war es ein Produkt des Ancien Régimes gewesen. Es bewahrte die Privilegien des Adels, konfrontierte Gewerbe und Großhandel mit mangelhaften bis schädlichen Maßnahmen und erkannte Zünfte und Innungen weiterhin an. Im Vergleich dazu gewährleisteten der napoleonische Code Civil (1804) und der Code de Commerce (1808) nicht nur die Gewerbefreiheit, sondern auch günstige Rechtsbedingungen bei der Bildung von Aktiengesellschaften, Hypothekengeschäften, Handelskammern sowie Handels- und Gewerbegerichten.
Noch wichtiger war, dass die Rheinländer ihr französisches Rechtswesen als das Fundament ihrer bürgerlichen Gesellschaft ansahen. Zivil- und Strafrecht, Gerichtsverfassung (vor allem die Geschworenengerichte), Freiheit der Person und des Eigentums, Gleichheit vor dem Gesetz, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverhandlungen, religiöse Freiheit, Trennung von Kirche und Staat und eine effiziente Zentralverwaltung waren unter französischer Herrschaft realisierte Errungenschaften, die die Rheinländer nicht einbüßen wollten. Nach 1814 wurden diese französischen Reformen zu „rheinischen Institutionen“. Führende rheinische Bürger setzten sich für die Rettung des Rheinischen Rechts ein. Nach ausführlicher Debatte entschied sich der preußische Staat 1818, das französische Recht im Rheinland aufrechtzuerhalten.
Mit diesem Zugeständnis wurde der Integrationsprozess der Provinz in den preußischen Gesamtstaat erheblich erleichtert. Von Preußens zehn Provinzen besaß nur die Rheinprovinz ein eigenes Partikularrecht. Die „rheinischen Institutionen“ bildeten einen unverzichtbaren rechtlichen Rahmen für weitere Reformen. Wichtige strukturelle Elemente der westeuropäischen Zivilgesellschaft, die das Zeitalter der Revolution in Nordamerika und Westeuropa hervorbrachten, entwickelte sich auch im Rheinland weiter fort. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819, die die politische Öffentlichkeit streng beschränkten, erhielt das Rechtswesen sogar den Charakter eines Ersatzkonstitutionalismus. Die Identifikation mit diesen Institutionen zeigt, dass sich bereits früh das Bewusstsein einer rheinischen politischen Kultur entwickelt hatte.
3. Die Verfassungsfrage und der Provinziallandtag
Im Besitzergreifungspatent vom 5.4.1815 kündigte König Friedrich Wilhelm III. (Regierungszeit 1797-1840) die „Bildung einer Repräsentation” an. Dieses Versprechen einer Verfassung löste bei der rheinischen Bevölkerung Hoffnung aus, blieb aber unerfüllt. Obwohl Württemberg, Baden und Bayern in den Jahren 1815-1818 Verfassungen verkündeten, wurde keine entsprechende preußische Urkunde erlassen, durch die der Grundbestand von Bürgerrechten fixiert und eine Volksvertretung eingerichtet worden wäre.
In den Jahren 1817 und 1818 nutzten mehrere rheinischen Städte die Gelegenheit königlicher Besuche, um König und Kronprinz an das Verfassungsversprechen zu erinnern. 1817 unterbreiteten städtische Delegationen aus Trier und Köln, 1818 aus Koblenz und Kleve Petitionen. Die Stadt Koblenz verfasste eine zweite im Januar 1818, die über 3.000 Bürger unterschrieben. Joseph Görres, der ehemalige Jakobiner und Publizist aus Koblenz, überreichte die Petition an Staatsminister Karl August von Hardenberg (1750-1822), während verschiedene Zeitungen und Zeitschriften die städtischen Adressen verbreiteten. Die so hergestellte Öffentlichkeit erregte Diskussionen im deutschen Publikum, aber Entrüstung bei der Regierung. Es war die Geburtsstunde des rheinischen Liberalismus.
Entgegen früherer Versprechen schuf König Friedrich Wilhelm III. anstelle eines überregionalen Parlaments getrennte Vertretungen für jede Provinz, die zudem nach ständischen Prinzipien gebildet wurden. Der in Düsseldorf tagende Rheinische Provinziallandtag setzte sich aus 80 Abgeordneten in vier Ständen zusammen: Fürsten (5), Ritter (25), Städte (25) und Landgemeinden (25). Zum ersten Mal tagte er 1826, danach kam die Körperschaft alle zwei oder drei Jahre zusammen. Die Landtagsdebatten waren nicht öffentlich.
Der König schrieb dem Landtag Verwaltungsaufgaben wie Kataster- und Gesundheitswesen zu, legislative Befugnisse, wie ein Steuerbewilligungsrecht oder Mitbestimmung bei der Gesetzgebung, waren nicht vorgesehen. Trotzdem fand eine Politisierung des rheinischen Provinziallandtags statt. Auf dem ersten Landtag wiesen Abgeordnete den Wunsch der Regierung, das preußische Gesetzbuch zu übernehmen, entschieden zurück. Während der 1830er und 1840er Jahre diskutierte der Provinziallandtag eine Reihe von politisch sensiblen Fragen: die Kinderarbeit in den neu entstandenen Fabriken, die Gefangennahme des Erzbischofs von Köln, das königliche Verfassungsversprechen und eine schon seit den 1820er Jahren diskutierte rheinische Gemeindeordnung (1845). Abgeordnete wie Ludolf Camphausen, August von der Heydt (1801-1874) und Hermann Beckerath wurden dadurch zu bekannten Persönlichkeiten. David Hansemann erklärte dem König Friedrich Wilhelm III. in zwei Schriften 1830 und 1834 die Anschauungen des gemäßigten Konstitutionalismus der rheinischen Liberalen, denen vor allem die neu begründete konstitutionelle Monarchie in Belgien entgegenkam. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. (Regierungszeit 1840-1858) den Thron bestiegen hatte, kam es zu einer Erneuerung der Verfassungsdebatte. Mit der Frage der Revision des rheinischen Strafrechts setzte 1845 eine neue Welle städtischer Petitionen an den Landtag ein, die diesen als Vertretung des Volkes in die Pflicht nahmen. Ebenso grundlegend war der liberale Kampf für die Gleichberechtigung der Juden auf den Rheinischen Provinziallandtagen von 1843 und 1845. Dank des Engagements rheinischer Liberaler hob der preussische Staat 1845 etliche ökonomische Beschränkungen gegen jüdische Kaufleute auf und verkündete 1847 auf dem Vereinigten Landtag die öffentliche und legale Gleichstellung der jüdischen Konfessionen. Erst nach der Revolution von 1848 trat das Gesetz in Kraft.
Auf dem Vereinigten Landtag von 1847 spielten rheinische Abgeordnete eine führende Rolle. Da preußische Gesetze staatliche Anleihen über 20 Millionen Taler ohne die Zusage einer nationalen Repräsentation nicht erlaubten, hatte der König diesen nunmehr gesamtpreußischen Landtag einberufen, um die Zustimmung zu einer Anleihe von 33 Millionen Taler für den Bau der so genannten Ostbahn von Berlin nach Ostpreußen zu erhalten. Rheinische Abgeordnete bestritten jedoch die gesetzgeberische Gewalt dieses Gremiums. Eine solche Zustimmung könne nur ein verfassungsmäßiges Parlament geben. Mit dieser oppositionellen Stellungnahme war das Darlehensgesuch gescheitert. Zu einem geflügelten Wort wurde Hansemanns Formulierung: „In Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf”. Damit war die Fähigkeit des verfassungslosen preußischen Staates, effektiv zu regieren, schwer erschüttert worden. Die Möglichkeiten der Einflussnahme des rheinischen Liberalismus auf preußische und deutsche Politik war dagegen überaus deutlich geworden.
4. Wirtschaft und Frühindustrialisierung
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Rheinland primär eine bürgerliche Gesellschaft, die sich freilich bereits im Umbruch befand. Großhandel und Finanzwesen, Handwerk und Lohnarbeit, Landwirtschaft und die industriellen Bereiche Textilproduktion, Bergbau und Eisenbahnbau waren die Hauptsektoren. Ob reich oder arm, beinahe alle Rheinländer lebten von Marktverhältnissen und von der Kaufkraft des Geldes. Die Teuerungskrise in den Jahren 1845-1848 führte auch Handwerkern und Bauern ihre Abhängigkeit von den städtischen Märkten und die unwägbaren Gefahren von Missernten und Hungersnöten vor Augen.
4.1 Handwerk
Obwohl Fabrikarbeit und Industrien wie Bergbau und Eisengießerei als neu aufkommende Leitsektoren galten, prägten vielfältige Sozialgruppen - Kleinproduzenten, Handwerker und Bauern - das Wirtschaftsleben. Kleinhändler und Handwerker bestimmten vielerorts noch immer das Stadtbild. Bäcker, Schuster, Schneider, Tischler, Schmiede, Fassbinder, Zimmerleute hatten ihre Gesellen, aber Lehrlinge und Gesellen durften für Löhne arbeiten und ihren eigenen Arbeitsweg selber bestimmen, da das Zunftwesen abgeschafft war. In vielen Städten arbeiteten Handwerker mit nur einem Lehrling oder beschäftigten über die eigene Arbeitskraft hinaus keine weiteren Hilfskräfte: 60-70 Prozent der Handwerksbetriebe in Trier waren zu dieser Zeit Einmannbetriebe. Die daraus resultierende Gefahr von Unterbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit erwies sich als äußerst prekär (Kurt Düwell). “Der Masse der vormärzlichen Handwerker,” schreibt Friedrich Lenger, “ging es kaum besser als den Gesellen oder den städtischen Tagelöhnern”.
Auf dem Land mischten sich Agrararbeit und gewerbliche Heimarbeit. 1828 wohnten 77 Prozent der Einwohner der Rheinprovinz auf dem Land. Neben der Landwirtschaft war das Handwerk im so genannten Verlagssystem weit verbreitet. Dabei stellten Landbewohner, zum Beispiel Weber, Schneider, Hutmacher oder Scherenmacher Waren für einen Kaufmann her, der als Gegenleistung einen Lohn auszahlte. Das Verlagssystem war auch ein bestimmender Faktor in der Krefelder Seidenfabrikation sowie in der Leinen- und Baumwollproduktion in den industrialisierten Zentren von Elberfeld und Barmen (heute Stadt Wuppertal). Zwischen 1815 and 1850 wuchs die Zahl der Heimarbeiter stetig an. 1826 wurden in der Rheinprovinz 5.876 handbetriebene Webstühle gezählt, 1850 waren es bereits 12.520.
Die Zunahme von mechanisierten Garnspinnereien und handgetriebenen Webstühlen bedingten einander, da die mechanisierte Spinnerei den Engpass zu einer höheren Produktion aufgelöst hatte. 1849 arbeiteten 12.000 bis 15.000 Menschen in rheinpreußischen Tuchfabriken, während 60.000 bis 63.000 Weber von Heimarbeit lebten. 50 Prozent der Fabrikarbeiter waren Frauen und vor allem Kinder unter 14 Jahren. Im Gegensatz zu dieser schweren körperlichen, aber ohne größere Vorkenntnisse auszuübenden Tätigkeit, wurden komplexere handwerkliche Arbeiten vor allem von Erwachsenen ausgeübt.
4.2 Rheinischer Unternehmergeist
Seit Jahrhunderten förderte der Rheinverkehr Handel, Gewerbe und Spedition. Durch den Fernhandel rheinischer (Hanse-)Städte mit Wein, Getreide, Kolonialwaren und anderen Gütern entwickelten sich enge Beziehungen mit Brabant, Holland und den norddeutschen Hansestädten. Die französische Herrschaft hatte die Bedingungen für einen regionalen Wirtschaftsraum, welcher Stadt und Land zusammenschloss, weiter verbessert. Dazu kam eine neue Nachfrage für koloniale Produkte aus Weltmärkten. So wurde Köln zum Beispiel ein Zentrum der Zuckerproduktion: zwischen 1821 und 1836 wurden 19 Betriebe gegründet, um Kolonialzucker zu raffinieren.
Das Wirtschaftsbürgertum modernisierte auch das Bank-, Kredit-, Versicherungs- und Hypothekenwesen. Die 1825 von dem Aachener Tuchkaufmann David Hansemann begründete „Aachener Feuerversicherungsgesellschaft” wurde bald führend in Deutschland. Rheinische Unternehmer beschafften unentbehrliche Kapitalfonds für die Frühindustrialisierung. Der Bankier Abraham Schaaffhausen dehnte sein traditionelles Geldgeschäft aus, um die regionale Montanindustrie zu fördern. Dagegen konzentrierte sich der Bankier Johann David Herstatt (1805-1879) auf die Textilindustrie am Niederrhein. Auf ähnliche Weise unternahm die Firma von Johann Heinrich Stein (1803-1879) Kreditgeschäfte mit den Eisen-, Stahl-, und Metallwarenfabriken in der Region. Salomon Oppenheim & Cie, eine weitere Kölner Bankfirma, beteiligte sich an Eisenbahngründungen sowie an Unternehmen im Metallgewerbe und in der Bergbauindustrie. Der aus Dülken stammende Gustav Mevissen fing als Tuchfabrikant in Krefeld an und stieg als Bankgründer bis zum Präsident der Rheinischen Eisenbahn auf.
Diese Beispiele illustrieren, wie es einer neuen Generation von Unternehmern gelang, das Rheinland zu einem führenden Zentrum der Industrie, des Handels und des Finanzwesen zu entwickeln. Sie begrüßten das Zeitalter des mobilen Kapitals und wetteiferten miteinander in ihrem Ehrgeiz, das industrielle Wachstum anzukurbeln.
4.3 Frühindustrialisierung
Die Durchsetzung der mechanisierten Fabrikarbeit markiert in der Rheinprovinz den Beginn eines rasanten Modernisierungsprozesses. Während das Ruhrgebiet als Kernregion der Hochindustrialisierung bekannt ist, stieg der Raum Aachen seit der Frühindustrialisierung zu einem Zentrum der textilverarbeitenden Industrie - aber auch des Bergbaus auf. Während 1850 1.350 Textilarbeiter und 2.300 Metallarbeiter in den Ruhrstädten tätig waren, arbeiteten im Aachener Raum 17.800 in der Textil- und 2.300 in der Metallbranche. Aachen gehörte zwei wichtigen Industriegürteln an: dem Textildreieck Eupen-Verviers-Aachen sowie dem Bergbauzentrum von Eschweiler-Burtscheid-Stolberg. Die zentralisierte Mechanisierung der Wollproduktion ging anderen Wirtschaftsbranchen voraus. Während der 1820er Jahre versuchten Aachener Kaufleute die Heimweberei abzuschaffen, um Dampfmaschinen einzuführen. Während der 1830er Jahren verfügten 67 Aachener Wolltuchfabriken über 1.850 mechanisierte Webstühle und beschäftigten 6.500 Arbeiter. Von den 7.000 in Eupen beschäftigten Tucharbeitern waren 5.000 in Fabriken tätig. Nach 1830 war also das moderne geschlossene Fabriksystem ein fester Bestandteil der Aachen-Eupener Wirtschaft (Düwell). 1850 verfügte jede Aachener Fabrik über mindestens eine Dampfmaschine.
Neben Aachen ragten die Wuppertaler Städte Elberfeld und Barmen und deren Umgebung während der Frühindustrialisierung als Zentren der Farb- und Tuchindustrie heraus. Als Sohn eines pietistischen Tuchfabrikanten aus Barmen wurde Friedrich Engels Zeuge des sich durch die „Industrielle Revolution“ verursachten sozioökonomischen Wandlungsprozesses. Ihre langfristigen Folgen offenbarten sich ihm während seiner kaufmännischen Ausbildung bei einer Baumwollspinnerei im englischen Manchester. Dort hat er 1842–1844 die verheerenden Lebensverhältnisse der englischen Arbeiterklasse beobachtet, und sein Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ verfasst - ein unentbehrliches Zeitdokument der ersten Industrialisierung. 1844 begann seine lebenslängliche Zusammenarbeit mit Karl Marx.
Aufgrund der raschen Mechanisierung der Arbeit, die niedrigere Löhne sowohl für Weber als auch für Fabrikarbeiter zur Folge hatte, kam es in der Rheinprovinz zu Unruhen. 1821 zerstörten Eupener Arbeiter neu gelieferte Kämmmaschinen, 1828 demolierten Krefelder Seidenweber die Comptoirs mehrerer Seidenkaufleute wegen einer Reduzierung ihrer Löhne um 15 Prozent. 1830 fand ein großer Tumult von etwa 4.000 Textilarbeitern aus Aachen, Eupen und Verviers statt, weil einige Arbeiter eine 16-prozentige Lohnsenkung hinnehmen mussten. Nach der Zerstörung mehrerer Häuser von Fabrikbesitzern nahmen Gendarmen und Soldaten 150 Arbeiter fest. Der letztere Konflikt ist jedoch auch im Zusammenhang mit den politischen Revolutionen in Frankreich und Belgien zu sehen Die Revolutionsnachrichten lösten Unruhen in mehreren rheinischen Städte aus, wo sich sozioökonomische Unzufriedenheit mit politischer Kritik mischte. Während der 1840er Jahre fanden auch einige Eisenbahnarbeiter-Streiks statt. Es brach eine Zeit industrieller Konflikte an.
Die intensive Industrialisierung des Ruhrgebiets begann erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, doch wurde das Fundament bereits in den 1830er Jahren gelegt. Zu den Pionieren des Kohlenhandels und Tiefbaus im Ruhrgebiet gehörte der Mülheimer Unternehmer Matthias Stinnes, der im Jahr 1808 die nach ihm benannte Firma Stinnes gründete. Als er 1845 starb, besaß er 36 Zechen zwischen Mülheim und Essen. Während der 1840er Jahre erwirtschafteten rheinische Unternehmer erfolgreich das Kapital, um die nötige Infrastruktur und die Erschließung von Tiefgruben zu finanzieren.
4.4 Eisenbahnbau
Die steigende Nachfrage nach Kohle und Eisen hing eng mit dem Eisenbahnbau zusammen. Bau, Verwaltung und Finanzierung der Eisenbahnen waren Triebfedern der Frühindustrialisierung. Ihr riesiger Bedarf an Kapital und Arbeit hatte Koppelungseffekte mit anderen industriellen Branchen zur Folge und führte zur Erschließung neuer Märkte. Dadurch wurde der Eisenbahnbau zum Hauptkatalysator der Take-off-Phase der ersten Industrialisierung. Im Rheinland waren drei Linien entscheidend für den regionalen Handel und die Industrie. Seit Jahrzehnten versuchten rheinische Unternehmer, Hollands Zwischenhandelsmonopol im Rheinverkehr zu umgehen. Erst mit der Trennung Belgiens vom Königreich der Vereinigten Niederlande 1830 konnte Ludolf Camphausen seine Vision eines „eisernen Rheins” zwischen Köln und Antwerpen verwirklichen. 1837 entstand die Rheinische Eisenbahn nach lebhaften Verhandlungen zwischen Vertretern der Aachener und Kölner Wirtschaftsinteressen. 1844 wurde der Verkehrsbetrieb aufgenommen. Die von Hansemann gegründete Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft (1843) verwirklichte eine Linie, die Rohstoffe und Güter der Rheinprovinz in die Weserhäfen, nach Berlin und in die östlichen Provinzen transportieren konnte. Damit entstand das bedeutendste Verkehrsmittel der Rheinprovinz für östlich gelegene Märkte. Ausschlaggebend für die rheinische Frühindustrialisierung war ebenfalls die 1835 gegründete Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn. Dieses Unternehmen war die erste Linie in Deutschland, die primär für den Güterverkehr gebaut wurde. Die zentrale Stellung dieser Eisenbahnen während der ersten Industrialisierung ist nicht zu überschätzen.
Auch die Rheinschifffahrt erfuhr durch die Dampfkraft eine Veränderung. Im Vormärz setzte sich deren Mechanisierung durch – für den stromaufwärts führenden Verkehr bedeutete dies eine erhebliche Erleichterung.
5. Die Politisierung der rheinischen Gesellschaft
5.1 Pauperisierung
Obwohl die 1830er Jahre gute Ernten, niedrige Brotpreise und neue Arbeitsmöglichkeiten in Fabriken und auf den Eisenbahnbaustellen brachten, muss man diese gesamte Periode eher mit düsteren Farben malen. Die Jahre 1817-1819, 1830-1831 und 1846-1849 waren Krisenjahre. Schlechte Ernten, Cholera und eine Teuerungskrise, die Landwirtschaft und Gewerbe erfasste, machten diese Jahrzehnte insgesamt schwierig für viele Kleinbauern und Handwerker. Darüber hinaus ist die starke Zunahme der Bevölkerung in der Rheinprovinz zu beachten. Im Jahre 1815 lebten 1.870.908 Menschen in der Rheinprovinz, 1849 waren es bereits 2.830.936. Das Bevölkerungswachstum nahm vor allem in den Städten rasch zu: in Köln verdoppelte sich die Einwohnerzahl beispielsweise von 46.657 auf 94.789, während diejenige von Elberfeld zwischen 1803 und 1834 von 13.000 auf 32.000 wuchs.
Die Mechanisierung der Industrie wirkte sich negativ auf zahlreiche Branchen des Handwerks aus. Handwerker und Tagelöhner litten unter niedrigen Löhnen und unverkäuflichen Produkten. In der Stadt Köln hatten 60 Prozent der Bevölkerung 1848 ein jährliches Einkommen von 100 Talern und weniger; das reichte für eine Familie in keiner Weise zum Leben aus. Die überlieferten Statistiken der Armenfürsorge zeigen eine Gesellschaft mit erstaunlich hohen Armutsraten. In Köln sank der Anteil der unterstützten Armen nie unter 17 Prozent, in Krisenjahren stieg er auf 33 Prozent. In Aachen erhielt im Vormärz einer von sieben Arbeitern städtische Hilfe. Wegen Armut befreite die Düsseldorfer (Bezirks-) Regierung in den 1840er Jahren zwischen 12 und 14,9 Prozent der Bevölkerung von jeder Steuerzahlung, die Aachener Regierung 17,4 bis 20,3 Prozent. In Trier zählte ein Drittel der Stadteinwohner zu den Unterstützungsbedürftigen, während 28 Prozent der Koblenzer Bevölkerung mit billigem Brot versorgt wurden.
Wegen der allmählichen Absenkung des Lebensstandards für Arbeiter wuchs die Kluft zwischen dem Wirtschaftsbürgertum und den vor allem im Kleingewerbe tätigen Schichten. Lebensbedrohliche Hungerzustände in einigen Mittelgebirgsregionen der Rheinprovinz ließen Zeitgenossen in Anspielung auf die Hungerkatastrophe in Irland ab 1849 von “irischen Verhältnissen” reden. Im Hunsrück und in der Eifel litten die Bauern, Schäfer und Heimarbeiter besonders stark. Aus solchen Armutszuständen entstand Verzweiflung und Zorn. Die Erhebung von Steuern und Zöllen - vor allem die Mahl- und Schlachtsteuer - erschwerte weiterhin das Leben des Kleinbürgertums. Dererlei wirtschaftliche Probleme bargen ein hohes politisches Konfliktpotential. Frühzeitig zeichnete sich somit die sozioökonomische Dimension der Revolution von 1848/1849 ab, in der sozialrevolutionäre Motive eine entscheidende Rolle spielen sollten.
5.2 Vereine
Der freie Meinungsaustausch gleichberechtigter Menschen gehört zu den wichtigen Voraussetzungen einer bürgerlichen Gesellschaft. Seit der Aufklärung waren Vereine zu einer Stätte der Meinungsbildung informierter Bürger geworden. Die Karlsbader Beschlüsse und die Sechs Artikel von 1832 hatten Rede- und Versammlungsfreiheit erheblich eingeschränkt, die Mitgliedschaft in nunmehr illegalen politischen Vereinigungen war bei Androhung schwerster Strafen verboten. Doch förderten auch vermeintlich unpolitische Vereine eine Öffentlichkeit, die sowohl Interesse als auch Kritik am Staatsleben weckte.
Hunderte von Vereinen entstanden in dieser Zeit zu allerlei Zwecken. Allein in der Stadt Elberfeld gab es im Vormärz über 90 Vereine für Bildungs-, Wohlfahrts-, Religions-, Unterhaltungs- und Verwaltungszwecke. Dieses Vereinwesen ist ein Beleg für die Kompetenz und den Willen rheinischer Stadtbürger, sich selbst zu regieren (Eberhard Illner). Mit Korrespondenzen, Tagungen und Ausflügen formten solche Vereine Netzwerke, die auch Diskussion und Organisation auf überregionaler Ebene förderten. Gesangs-, Turn-, Schiess- und Schutzvereine mischten Unterhaltung mit nationalliberalen Inhalten. Philhellenen- und Polenvereine brachten die Unterstützung von Griechenland und Polen, aber auch liberale und nationale Gesinnungen für deutsche Einheit und Freiheit unverkennbar zum Ausdruck. Im Rheinland entstanden auch karitative Organisationen. In den Westprovinzen Preußens bildeten sich zwei Drittel der Lokalvereine des 1844 gegründeten Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klasse, dessen Hauptanliegen die Milderung der Verelendung breiter Volksschichten sein sollte (Jürgen Reulecke).
Für die Wahrnehmung von Aufgaben im Kulturbereich und in der Armenfürsorge waren die rheinischen Städte und der preußische Staat auf das Vereinswesen angewiesen. Selbst der Fortbau des Kölner Doms wurde von einem Bauverein organisiert. 1823 nutzten Kölner Bürger das Vereinswesen, um die Tradition des Karnevals am Rhein zu reformieren. Schnell verbreitete sich der neue Vereinskarneval auch in Düsseldorf, Aachen, Mainz, Koblenz, Trier und anderen Städten. Neben öffentlichen Festumzügen und Spielen veranstalteten die Karnevalsvereine geschlossene Sitzungen, wo der Brauch des Büttenredens neu belebt wurde. Die Bütt war ein altes Karnevalsymbol der Ehrlichkeit. In ihr wurde die schmutzige Wäsche der Gesellschaft gewaschen. Die politisch eingefärbte Persiflage der Büttenrede wurde zum Wahrzeichen des Rheinischen Karnevals. Wegen ihrer Verse, Reden und Flugblätter gerieten Karnevalisten in Trier, Bonn, Düsseldorf, Köln und Mainz in Schwierigkeiten mit den Behörden. Die Karnevalsvereine trugen während der 1840er Jahre entscheidend zur Verbreitung liberaler und demokratischer Ideen bei. Führende Persönlichkeiten der Revolution von 1848/1849 wie Gottfried Kinkel, Franz Raveaux, Carl d'Ester und Franz Zitz (1803-1877) begannen ihre Karriere als politische Redner im Karneval. Später als populäre Rhetoriker bekannt, erlernten sie hier die Kunst der pointierten Rede und die Fähigkeit, ihre politische Kritik öffentlichkeitswirksam und in humoristischer Form vorzutragen.
5.3 Presse und Zensur
Trotz Zensurmaßnahmen von Deutschem Bund und Preußischem Staat versuchten Teile des rheinischen Bürgertums, auf publizistischer Basis eine politische Öffentlichkeit zu entwickeln. In den 1840er Jahren wandelte sich die Trierer Zeitung zu einer radikalen, wohl der ersten sozialistischen Zeitung Deutschlands (Dieter Dowe). Kurz danach entschieden Ludolf Camphausen und andere Kölner Wirtschaftsbürger, eine zeitgemäße liberale Zeitung am Rhein zu gründen. Als Chefredakteur stellten sie ab Oktober 1842 den 23-jährigen Karl Marx an, der die „Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe“ zu einem scharfsinnigen Organ des rheinischen Liberalismus entwickelte. Ein Jahr nach der ersten Ausgabe vom 1.1.1842 entzog die Regierung der Zeitung die Druckkonzession und das Unternehmen musste im März 1843 eingestellt werden. 1845 gab der Verleger Joseph Dumont der „Kölnischen Zeitung“, eine unabhängige katholische Zeitung, eine stärker liberale Ausrichtung. Nicht weniger einflussreich waren die „Düsseldorfer Zeitung“ und die „Bonner Zeitung“, die sich auch als Sprachrohr des rheinischen Liberalismus verstanden. Lesezirkel dieser Zeit zeigen deutlich, dass Rheinische Bürger auch auswärtige und ausländische Zeitungen bezogen und mit großem Interesse lasen.
5.4 Religion und Politik
Im Vormärz bargen Kirche und Religion am Rhein ein hohes Konfliktpotential. Auf die Verkündigung der Kirchenordnung von 1817 durch Friedrich Wilhelm III., welche die vielen lutherischen und reformierten Gemeinden in einer Synode zusammenfasste, reagierten die rheinischen Protestanten mit scharfer Kritik. Darüber hinaus verweigerten viele den neuen Regeln den Gehorsam. Einige Gläubige wanderten aus. Erst mit einem neuen Abkommen im Jahre 1835 konnten sich die pietistischen Gemeinden abfinden.
Der Kölner Kirchenstreit (1837-1841) offenbarte die problematischen preußisch-rheinischen Beziehungen in besonderer Weise. Im November 1837 nahm die preußische Regierung den Kölner Erzbischof Clemens August von Droste zu Vischering in Haft und entfernte ihn aus Köln und seiner Diözese. Ohne gerichtlichen Prozess blieb der Erzbischof für vier Jahre in Gefangenschaft. Diese staatliche Willkür erregte die rheinischen Katholiken und schlug ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Preußen und den Katholiken auf.
Ausgelöst wurden die so genannten Kölner Wirren durch den Streit um die religiöse Erziehung der Kinder interkonfessioneller Ehen. Preußisches Recht verlangte, dass die Kinder die Religion des Vaters annehmen mussten, doch laut katholisch-kanonischem Recht mussten die Kinder katholisch erzogen werden, wenn die Ehe durch die katholische Kirche anerkannt werden sollte. Das Problem bestand darin, dass in der Regel aus den Ostprovinzen stammende protestantische Männer aus Armee und Verwaltung katholische rheinische Frauen ehelichten. De facto führte dies also zu einer nachhaltigen Schwächung des Katholizismus in Preußen zugunsten der Protestanten - was durchaus eingeplant war. Nachdem der frühere Kölner Erzbischof Graf Ferdinand von Spiegel diesem Konflikt ausgewichen und der Regierung entgegengekommen war, fühlte sich der 1835 ernannte Erzbischof von Droste zu Vischering diesen Abmachungen seines Vorgängers nicht verpflichtet und bestand auf der strengen Befolgung kirchlichen Rechts. Obwohl König Friedrich Wilhelm IV. den Kölner Kirchenstreit 1841 formal beendete, verstärkte dieser Konflikt, trotz des Entgegenkommens der preußischen Regierung, nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Staat, sondern schürte auch die insgesamt preußenfeindliche Stimmung in der Rheinprovinz.
Für viele Katholiken entstand der Eindruck, dass der preußische Staat die Freiheit der Religion zunehmend einschränkte. Sie sahen die konsequente Ausübung ihres Glaubens in Gefahr. 1837 entstand eine rege öffentliche Diskussion in ganz Deutschland über Sinn und Rechtmäßigkeit der Verhaftung des Erzbischofs. Tonangebend war Joseph Görres’ Schrift “Athanasius” - ein scharfer Angriff auf den preußischen Staat, in der die Notwendigkeit einer Verfassung für die Religion betont wurde. In der Tat entschieden sich viele sozialkonservative Katholiken, den Wert des Rechtsschutzes einer Verfassung anzuerkennen.
Nach 1837 entstand ein politischer Katholizismus im Rheinland, der auf zwei Fronten zu kämpfen versuchte: Erstens versuchte die Kirche, die neubelebte Frömmigkeit rheinischer Katholiken zu fördern, um ihre institutionelle Macht zu stärken. 1844 organisierte die Kirche eine sechswöchige Wallfahrt nach Trier. Eine halbe Million Katholiken pilgerten zur Ausstellung des Heiligen Rocks Christi.
Zweitens zogen viele Katholiken aus dem seit 1815 neu entstandenen kirchlichen Verhältnis zum Staat die Konsequenz, für den Konstitutionalismus als wichtigen Schutz zur Ausübung ihrer Religion einzutreten. Überhaupt kann man diesen Streit als Gründungsakt des politischen Katholizismus ansehen. Dieser Streit beeinflusste auch den jungen Peter Reichensperger, seinem gemäßigten Liberalismus jetzt eine konfessionelle Orientierung zu geben. Das Engagement Reichenspergers als Koblenzer Abgeordneter im Jahre 1848 für katholische Interessen und später bei der Gründung der Zentrumspartei gingen auf seine Erfahrung mit den Kölner Wirren zurück.
5.5 Populäre Politik
Lange Zeit haben Historiker die Politisierung der deutschen Gesellschaft primär als ein bürgerliches Phänomen dargestellt. Die neuere Sozialgeschichte zeigt aber, dass Vorstellungen von Volkssouveränität und politischen Rechten auch in die unterbürgerlichen Schichten eingedrungen waren. Nicht nur materielle und wirtschaftliche Faktoren trugen zu einer Politisierung der Arbeiterschicht bei. Auch kulturelle Elemente spielten eine wichtige Rolle. Der steigende Bildungsgrad der breiten Bevölkerung machte ihre Teilnahme am öffentlichen Diskurs möglich. Man geht für ganz Deutschland von einer Alphabetisierungrate von 40 Prozent der Bevölkerung im Jahre 1830 aus, doch belegen Forschungsergebnisse für das Rheinland wesentlich höhere Werte. Der einfache Leser lernte die politischen Ideen der Neuzeit vor allem durch politisierte Volkskalender, verbotene Flugblätter, politische Lieder, Karikaturen und lithographische Satiren kennen.
In Wirtshäusern war es üblich, Zeitungen vorzulesen. Handwerker und Lohnarbeiter nahmen an politischen Gesprächen und Debatten teil. In Rheinhessen, der Pfalz und in der Rheinprovinz sangen ländliche und städtische Unterschichten Freiheitslieder, pflanzten Freiheitsbäume und organisierten politisierte Katzenmusiken gegen Vertreter der staatlichen Behörden. Durch fliegende Blätter und Bänkellieder erfuhren sie von den die Zeit bewegenden Themen, von der griechischen Unabhängigkeit, dem polnischen Freiheitskampf gegen die russische Fremdherrschaft und der französischen Julirevolution im Jahr 1830, dem Hambacher Fest (1832) sowie dem schlesischen Weberaufstand (1844). Da Weber und Fabrikarbeiter aus rheinischen Grenzgebieten regelmäßig in Belgien und Holland arbeiteten, erlebten sie andere politische Verhältnisse und tauschten Ideen aus. Trotz der Beschränkung der Wanderjahre von Handwerkern konnten diese ähnliche Erfahrungen sammeln.
Der Einfluss Frankreichs auf die politische Volkskultur ist kaum zu überschätzen, besonders nach 1830, als in Belgien und Frankreich eine ältere Revolutionskultur wiederbelebt wurde. Durch Medien und Stätten der populären Kultur kamen Handwerker, Lohnarbeiter und Ackerarbeiter an politische Informationen und bildeten sich ihre politischen Meinungen. Es ist daher keine Überraschung, dass Arbeitervereine und Klubs während der Revolution von 1848 entstanden sind und dabei die sich entwickelnde parteipolitische Landschaft ergänzten.
Neben dieser Tendenz entwickelte sich daraus auch der Verbandskatholizismus, vor allem Adolf Kolpings Katholischer Gesellenverein, welcher sich 1849 als Rheinischer Gesellenbund begründete. Dieses Netzwerk von Herbergen bot nicht nur geborgene Unterkunft, sondern war gleichzeitig Erziehungsstätte für Religion, Politik und Fachwissenschaft.
6. Die Revolution von 1848/ 1849 im Rheinland: Eine Kurzfassung
6.1 Politische Vielfalt
Die Revolution von 1848/1849 war ein europäisches Ereignis mit vielen Schauplätzen in Deutschland. Neben den verfassungsgebenden Parlamenten in Frankfurt und Berlin spielte das Rheinland eine Vorreiterrolle für die Revolution in Preußen. Die neuere Forschung betont die unterschiedlichen Orte des politischen Handelns, wie Trier, Aachen, Koblenz, Düsseldorf und Köln. Auch die Teilnahme ländlicher Gemeinden an der Revolution wird in der aktuellen Forschung stärker beleuchtet. Köln war das Zentrum der Revolution im Westen Preußens. Die dort diskutierten politischen Vorstellungen griffen auf andere rheinische Städte über und beeinflussten die politischen Erhebungen im gesamten Rheinland.
Von den Zentren der revolutionären Bewegung verbreiteten sich die Forderungen nach einem modernen Verfassungsstaat, der die Bürgerrechte von Presse-, Rede-, Versammlungs-, und Religionsfreiheit gewährte. Eine nationale Staatsform wurde von fast allen gewünscht, als deren Symbol die schwarz-rot-goldene Fahne von vielen rheinischen Städten gehisst wurde. Umstritten war die Rolle des Volkes bei gesetzgeberischer Gewalt und die Beziehung der Monarchie zum künftigen Nationalstaat. Das Spannungsverhältnis zwischen Freihandel einerseits und dem von den Demokraten eingeforderten “Schutz der Arbeit” andererseits wurde im Revolutionsjahr immer deutlicher.
Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit ließen im Revolutionsjahr 1848 am Rhein eine intensive politische Öffentlichkeit entstehen. Zwischen 1848 and 1850 erschienen über 200 Tages- und Wochenzeitungen in 72 rheinischen Städten und Gemeinden – 70 von ihnen wurden im Revolutionsjahr gegründet. Rheinische Leser hatten also die Möglichkeit, sich aus allen politischen Richtungen zu informieren. Die „Kölnische Zeitung“ war der führende Meinungsmacher der Konstitutionellen. Ihre Auflage stieg von 9.000 Ende 1847 auf 17.000 im ersten Quartal 1848 (Heinz Boberach). Andere einflussreiche Blätter wie die Düsseldorfer Zeitung und die Trier’sche Zeitung steuerten einen demokratischen Kurs, während eine Reihe von katholischen Zeitungen entstanden, die nicht nur die Interessen der Kirchen vertraten, sondern auch die differenzierten Stellungnahmen von demokratischen, konstitutionellen und konservativen Katholiken enthielten. Neben Blättern für handwerkliche Interessen gab es auch politisch radikale Zeitungen. Karl Marx kehrte aus dem Exil zurück, um die demokratische Ideen verbreitende „Neue Rheinische Zeitung“ herauszugeben.
Auch Petitionen und Massenversammlungen trugen erheblich zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Als im Frankfurter Parlament die Grundrechtsdebatte geführt wurde, engagierten sich beispielsweise Katholiken für konfessionelle Rechte, vor allem in Bezug auf das Schulwesen. Im Juni 1848 wurden in Köln 4.700, in Koblenz 1.300 und in Aachen und Umgebung 7.600 Unterschriften für die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat gesammelt. Die zahlreichen Volksversammlungen erreichten ebenfalls beachtliche Teilnehmerzahlen: Am 17.9.1848 kamen bei Worringen ungefähr 10.000 Menschen zusammen, um gegen die Anerkennung des Malmöer Waffenstillstandes zu protestieren; im Moseltal bei Bernkastel versammelten sich am 8.10.1848 ebenfalls 10.000 Männer und Frauen.
Im Laufe des Revolutionsjahres entwickelten sich schließlich drei politische Hauptströmungen: der rheinische Liberalismus, der politische Katholizismus und die demokratische Bewegung.
Der rheinische Liberalismus trat für die Verwirklichung der seit Jahrzehnten artikulierten Forderungen nach einem gemäßigten Verfassungsstaat ein. Im Frühjahr 1848 beschäftigte man sich primär mit den Wahlen für die konstituierenden Versammlungen, deren politische Ausrichtung den weiteren Verlauf der Revolution bestimmte. Für das Rheinland gewann das „Kölner Zentralwahlkomitee“, das im April 1848 das Wahlprogramm des gemäßigten Liberalismus veröffentlichte, eine entscheidende Bedeutung. Bildungsbürger, Kaufleute und Beamte waren eine einflussreiche Minderheit der Bevölkerung, die sich für eine konstitutionelle Monarchie mit ungleichem Wahlrecht einsetzten. Liberale wie Hermann von Beckerath (Krefeld), Gustav von Mevissen (Köln), Gerhard Baum (1797-1882) (Düsseldorf), August von der Heydt (Elberfeld), und Peter Heinrich Merckens (1777-1854) (Köln) engagierten sich in den Parlamenten. Die zwei Regierungen von Camphausen-Hansemann (März-Juni 1848) und Auerwald-Hansemann (Juni-September 1848) stellten den Höhepunkt des Einflusses dieser politischen Sicht auf die preussische Staatspolitik dar.
Nachdem der Versuch parlamentarische Kontrolle über das Militär zu erlangen, gescheitert war, nahm der Einfluss des rheinischen Liberalismus allmählich ab.
Als zweite bedeutende politische Strömung organisierte sich der politische Katholizismus. Am 23.3.1848 wurde in Mainz der erste Pius-Verein gegründet. Die Pius-Vereine, benannt nach Papst Pius IX. (Pontifikat 1846-1848), breiteten sich rasch aus und organisierten einen politischen Wahlkampf für die Interessen der katholischen Kirche. Mit Petitionen, Zeitungen und Versammlungen verstanden es die Katholiken, ihre konfessionellen Interessen öffentlichkeitswirksam zu verbreiten. Die katholische Kirche, die in politischer Hinsicht gemäßigt konstitutionelle Interessen vertrat, engagierte sich bei Vorwahlen und Wahlen. Allerdings hatten sich einige gewählte Priester auch den radikalen Demokraten angeschlossen. Der politische Katholizismus entwickelte eine unerwartete Sammlungskraft. Zwischen Pfarrgemeinden und Piusvereinen - über 60 solche Vereine sind ermittelt worden - formten die Katholiken ein breites Netzwerk und schnitten daher bei den Wahlen gut ab. 10 Prozent der Wahlmänner Kölns waren Priester. Tonangebend war der politische Katholizismus vor allem in Aachen und Koblenz.
Schließlich gewannen auch die Anhänger der demokratisch-republikanischen Richtung großen Einfluss. In Köln, Düsseldorf, Elberfeld, Trier und Krefeld hatten Bürger, Handwerker und Arbeiter Vereine und Klubs gegründet, die sozioökonomische Forderungen auf die politische Tagesordnung setzten, vor allem den „Schutz der Arbeit”. Im Gegensatz zum „Kölner Zentralwahlkomitee“ entstand die „Demokratische Gesellschaft“, eine heterogene Mischung von Liberalen und Demokraten, deren Programm Volkssouveränität, gleiches Wahlrecht, die Errichtung eines Volksheeres und die Trennung von Kirche und Staat einschloss. Einige rheinische Abgeordnete traten auch für eine republikanische Staatsform ein. Der Trierer Abgeordnete Ludwig Simon verfasste 1848 eine Protestadresse an den preußischen Staat, in der er allgemeine und direkte Wahlen forderte. 1849 hielt er vor der Frankfurter Nationalversammlung eine brennende Rede für eine republikanische Verfassung. Der Kölner Arbeiterverein und die Volksklubs in Trier und Düsseldorf bestanden primär aus Republikanern, die sich ausdrücklich mit den Lebensumständen unterbürgerlicher Schichten befassten. Diese republikanischen Impulse spielten eine entscheidende Rolle in der Endphase der Revolution im Jahre 1849. Neben der demokratischen Richtung gab es auch Ansätze einer sozialistischen Richtung. Zwar spielte das im Februar 1848 veröffentlichte und von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste „Manifest der kommunistischen Partei“ nur eine geringe Rolle, doch nahm das Großbürgertum den sozialistischen und politischen Radikalismus als ernste Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung wahr.
6.2 Ablauf der Revolution
Das Echo der französischen Revolution im Februar 1848 fand im Rheinland einen sofortigen Widerhall. Schon am 3.3.1848 versammelten sich Arbeiter und Handwerker vor dem Kölner Rathaus, um einen Forderungskatalog zu übergeben. Diese Forderungen stellten die Basis der Revolution dar: Gesetzgebung durch das Volk, Rede- und Pressefreiheit, Aufhebung des stehenden Heeres, freies Vereinigungsrecht, Schutz der Arbeit und Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten.
Ausschreitungen unter Arbeitern und Handwerkern kamen bereits in den ersten Wochen der Revolution vor. Am 19. und 20.3.1848 stifteten arbeitslose Weber Unruhen in Krefeld an, und am 20. und 21. März und nochmals im April fanden Straßenkämpfe in Aachen statt, welche der Sozialnot der Fabrikarbeiter und Handwerker entsprangen. In Solingen, Elberfeld, Trier und in anderen Städten kamen Tumulte zwischen Arbeitern und Fabrikherren sowie zwischen Zivilisten und Militär vor. Überhaupt war die so genannte soziale Frage ein brennendes Thema unter Arbeitern. Eine Aachener Tucharbeiterversammlung verlangte im Mai die Errichtung von Arbeiter-Invalidenhäusern und die Bildung eines Arbeitsministeriums. Düsseldorfer Arbeiter setzten ein Arbeitsbeschaffungsprogramm durch.
Nach den blutigen Barrikadenkämpfen in Berlin am 18.3.1848 machte der preußische König weitgehende Zugeständnisse. Am 29. März verkündete er die Berufung eines “liberalen” Kabinetts unter der Führung der rheinischen Liberalen David Hansemann und Ludolf Camphausen. Mit der bevorstehenden Wahl eines preußischen Parlaments und mit einer vom Vorparlament verkündeten Wahl eines verfassungsgebenden Parlaments zu Frankfurt wurden wichtige parlamentarische Einrichtungen geschaffen.
In vielen rheinischen Städten organisierten sich Bürgerwehren, die die Revolution in Grenzen zu halten und eine Eskalation der Gewalt zu verhindern suchten.
Nach den im Mai stattgefundenen Wahlen ergab sich im Rheinland ein Gleichgewicht zwischen Liberalen, Katholiken und Demokraten. Überhaupt lässt sich die Periode zwischen März und September 1848 als eine hoffnungsvolle Zeit charakterisieren, die Reform und Fortschritt versprach.
Die Erfolgschancen liberaler und republikanischer Politik minderten sich jedoch in der Septemberkrise, nachdem in Reaktion auf die Ratifikation des Malmöer Waffenstillstands bei einem Aufstand der Linken in Frankfurt zwei konservative Abgeordnete ermordet worden waren. Mit der nun einsetzenden preußischen Gegenrevolution gerieten die parlamentarischen Errungenschaften der Revolution in ernsthafte Gefahr. Im Zusammenhang mit der Septemberkrise wurden auch in Köln Barrikaden gebaut. Übergriffe preußischer Soldaten auf die Zivilbevölkerung führten zu einer Zuspitzung der Lage. Die Kölner Bürgerwehr stellte sich auf die Seite der Bevölkerung - die Ausrufung des Belagerungszustandes und die Auflösung der Bürgerwehr war die Folge. Zwischen Mai und November 1848 wurde die militärische Belagerung von Trier, Mainz, Düsseldorf und Frankfurt am Main fortgesetzt. Während das Frankfurter Parlament noch über die Verfassung und die in ihr zu formulierenden Grundrechte debattierte, gewannen in Preußen bereits im November 1848 die reaktionären Kräfte die Überhand. Die preußische Regierung vertagte das Berliner Parlament und verlegte es in die Stadt Brandenburg. Um gegen diese staatliche Willkür zu protestieren, riefen rheinische Liberale und Demokraten vielerorts zum gesetzlich legitimierten Mittel der Steuerverweigerung auf. Im Moseltal versuchten preußische Soldaten, die Landtagsabgeordneten Peter Joseph Coblenz (1811-1854) und Eduard Kneisel (geboren 1818) in Haft zu nehmen, nachdem sie die Verweigerungsmaßnahmen öffentlich unterstützt hatten. 700-1000 bewaffneten Bernkasteler Bauern gelang es, die Festnahme zu verhindern - ein seltsamer Sieg populärer Kräfte über staatliche Gewalt (Walter Rummel). Die Episode unterstreicht die auch in ländlichen Gemeinden weit voran geschrittene Politisierung der Bevölkerung.
Im Dezember oktroyierte die preußische Regierung eine Verfassung. Obwohl nicht vom Parlament ausgehend, garantierte diese Verfassung weitgehende Bürgerrechte, welche zwischen 1849 und 1854 mehrmals verwässert wurden. Besonders bemerkenswert ist das 1849 eingeführte Dreiklassenwahlrecht, dessen Gewichtung den gemeinen Mann stark benachteiligte: ein Stimmzettel von Klasse III besass nur 1/17 der politischen Kraft einer Stimme aus Klasse I.
Die Rheinländer setzten ihre Hoffnungen zu Beginn des Jahres 1849 nochmals auf die in der Frankfurter Paulskirche tagende Nationalversammlung, die für ganz Deutschland die Verfassungs- und Nationalfrage lösen sollte. Im März 1849 verabschiedete sie die Reichsverfassung, eine vor allem von Seiten der Demokraten kritisierte Kompromisslösung, die eine nationalstaatliche Einigung Deutschlands als konstitutionelle Erbmonarchie unter preußischer Führung vorsah. Als eine aus hochrangigen, namhaften Abgeordneten der Nationalversammlung bestehende Deputation dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. am 3.4.1849 die Kaiserkrone antrug, war dessen Machtposition jedoch längst wieder gefestigt genug, um das Angebot, verächtlich zurückweisen zu können.
Während der Kölner Demokrat Franz Raveaux den Centralmärzverein, einen Dachverband demokratischer Vereine, nutzte, um eine nationale Unterstützung der Reichsverfassung zu organisieren, fand am Rhein eine allgemeine Radikalisierung der Politik statt. Bemerkenswert war vor allem die demokratische Agitation, die sich auf dem Land entfaltete. Kampfbereite, aber verzweifelte Arbeiter und Demokraten tauchten in Elberfeld, Düsseldorf, am linksrheinischen Niederrhein sowie im Eifel-Mosel-Gebiet auf. Am 9. und 10.5.1849 fielen 16 Menschen in Barrikadenkämpfen. In Elberfeld meldeten sich 2.000 bis 3.000 Freischärler zur Verteidigung der Reichsverfassung, während ein Sicherheitsausschuss sich als “provisorische Regierung der neu zu bildenden rheinischen Republik” ausgab. Doch es kam nur zu wenigen Gefechten. Die Kämpfe zur Durchsetzung der Reichsverfassung im Frühjahr 1849 verlagerten sich nach Baden und in die bayrische Pfalz. An ihnen nahmen zahlreiche Rheinländer, unter anderem Friedrich Engels, Franz Raveaux, Gottfried Kinkel und der Bonner Studentenführer Carl Schurz, teil. Aus Solidarität rief der Eupener Arbeiterverein zu einem Streik der Tucharbeiter auf. Nach der blutigen Niederschlagung der demokratischen Bewegung in Baden im Juni 1849 griffen die preußischen Behörden verstärkt zu repressiven Maßnahmen, um politisch oppositionelle Gruppierungen zu unterdrücken.
6.3 Ergebnisse
Vom Wiener Kongress bis zur Revolution von 1848 vollzog sich ein alle Gesellschaftsschichten und Lebensbereiche umfassender, rasant voranschreitender Umbruch - politische und die sozioökonomische Entwicklungen dieser Epoche beeinflussten sich gegenseitig. Die Frühindustrialisierung brachte soziopolitische Zustände hervor, die nicht nur die Regierungsfähigkeit des preußischen Ständestaats in Frage stellten, sondern auch das politische Selbstbewusstsein der verschiedenen sozialen Schichten weckte. Im Laufe dieser Epoche entwickelte das Rheinland das Gedankengut des Zeitalters der Französischen Revolution auf eigene Weise weiter und trug damit letztlich entscheidend zur Entwicklung einer auf Öffentlichkeit und Parlamentarismus aufbauenden politischen Kultur in ganz Deutschland bei.
In diesem Sinne war die Revolution von 1848/1849 kein Zufall. Im Rheinland, wo sich seit 1815 Einheimische und Preußen in nahezu allen Bereichen des politischen, religiösen und wirtschaftlichen Lebens in einem scharfem Gegensatz zueinander befanden, erfuhr diese eine besondere Ausprägung. Obwohl sie in ihren Bestrebungen mit dem Sieg der preußischen Gegenrevolution kurzfristig scheiterte, stellten die Ereignisse von 1848/1849 langfristig gesehen einen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte entscheidenden Zwischenschritt auf dem Weg zum Industrie-, Parteien- und Verfassungsstaat dar. Der Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft hatte sich vollzogen.
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Brophy, James M., 1815 bis 1848 - Vom Wiener Kongress zur Revolution, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Epochen/1815-bis-1848---vom-wiener-kongress-zur-revolution/DE-2086/lido/57ab241e7d1687.63686537 (abgerufen am 12.10.2024)