Abstimmungskampf und Rückgliederung des Saarlandes 1955-1959

Markus Gestier (Saarbrücken)

Plakate zum Referendum am 23.10.1955: Ältere Herren auf einer Bank vor einer Plakatwand, 1955, Foto: Erich Oettinger. (Landesarchiv Saarbrücken/ N PressPhA 207/8)

1. Einleitung

Am 23.10.1955 wa­ren die Men­schen im Saar­land auf­ge­ru­fen, in ei­nem Re­fe­ren­dum mit „Ja“ oder „Nein“ über das Eu­ro­päi­sche Saar­sta­tut zu ent­schei­den. Doch Be­völ­ke­rung und Par­tei­en wa­ren in der Ab­stim­mungs­fra­ge tief ge­spal­ten in Be­für­wor­ter und Geg­ner des Sta­tuts. Die Be­für­wor­ter hoff­ten, mit ei­ner An­nah­me wer­de das Saar­land zu ei­nem ers­ten Bau­stein ei­ner künf­ti­gen eu­ro­päi­schen Staa­ten­ge­mein­schaft. Die Geg­ner ver­ban­den mit ih­rem „Nein“ ein Be­kennt­nis zur Zu­ge­hö­rig­keit zu Deutsch­land. So schlu­gen wäh­rend des Ab­stim­mungs­kamp­fes im Som­mer und Herbst 1955 die Wo­gen hoch an der Saar.[1]

2. Vorgeschichte

Das Saar­land, bis zur Wie­der­ver­ei­ni­gung 1990 das jüngs­te Bun­des­land der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, ist kein his­to­risch ge­wach­se­nes po­li­ti­sches Ge­bil­de mit tra­di­tio­nel­len Gren­zen.[2] Die Saar­ge­gend war nach­ein­an­der Grenz­land, mi­li­tä­ri­sches Boll­werk, be­setz­tes Ge­biet, Völ­ker­bunds­man­dat, wie­der­um be­setz­tes Ge­biet, au­to­no­mer Staat und schlie­ß­lich Bun­des­land. Den­noch eint die Be­woh­ner die­ses Lan­des ein star­kes Be­wusst­sein re­gio­na­ler Iden­ti­tät. Grund­la­ge da­für ist die zwei­ma­li­ge his­to­risch-po­li­ti­sche Son­der­stel­lung des Ge­bie­tes an der mitt­le­ren Saar im 20. Jahr­hun­dert: Von 1920 bis 1935 und dann von 1945 bis 1957/1959 er­leb­te das Saar­land ei­ne ei­gen­stän­di­ge, vom üb­ri­gen deut­schen Staat ab­wei­chen­de Ent­wick­lung.

1919 war als Er­geb­nis des Ver­sailler Frie­dens­ver­tra­ges das Saar­ge­biet aus Tei­len Preu­ßens und Bay­erns ent­stan­den. Das klei­ne Land wur­de dem Völ­ker­bund zur Re­gie­rung un­ter­stellt. In Ver­sailles wur­de au­ßer­dem be­schlos­sen, dass die Saar­län­der nach 15 Jah­ren über ih­re po­li­ti­sche Zu­kunft ent­schei­den soll­ten. Sie durf­ten wäh­len zwi­schen dem Sta­tus Quo, das hei­ßt der Bei­be­hal­tung der Völ­ker­bunds­ver­wal­tung, der Rück­kehr zu Deutsch­land oder dem An­schluss an Frank­reich. Als am 13.1.1935 die Men­schen zu 90 Pro­zent für die Rück­kehr zu Deutsch­land stimm­ten, war dies kei­ne Ent­schei­dung für Hit­ler, son­dern für Deutsch­land.[3] Am 1.3.1935 wur­de das Saar­ge­biet nach Deutsch­land zu­rück­ge­glie­dert und durch­lief dann bis Kriegs­en­de 1945 die Ent­wick­lung des gan­zen Deut­schen Rei­ches.

Am 21.3.1945 kam mit der Be­set­zung des Saar­ge­biets durch Sol­da­ten der 15. US-Ar­mee auch an der Saar das En­de des Krie­ges und der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ge­walt­herr­schaft. Krieg und NS-Herr­schaft hat­ten ih­re ver­hee­ren­den Spu­ren hin­ter­las­sen, das Land war ver­wüs­tet, Trüm­mer und Zer­stö­run­gen be­herrsch­ten das Stra­ßen­bild, je­de staat­li­che Ord­nung war zu­sam­men­ge­bro­chen. Vie­le Fa­mi­li­en hat­ten To­te, Kriegs­ver­sehr­te und Ver­miss­te zu be­kla­gen. Oberst Louis G. Kel­ly (1897-1970),[4] US-Be­fehls­ha­ber in Saar­brü­cken, er­nann­te am 4.5.1945 mit Rechts­an­walt Dr. Hans Neu­reu­ter (1901-1953) ei­ne po­li­tisch un­be­las­te­te Per­sön­lich­keit zum Re­gie­rungs­prä­si­den­ten für das Saar­ge­biet (Amts­zeit bis 8.10.1946). Ge­mäß den Pots­da­mer Ver­ein­ba­run­gen über die Zo­nen­ein­tei­lung Deutsch­lands, wur­den die ame­ri­ka­ni­schen Trup­pen am 10.7.1945 von fran­zö­si­schen Ein­hei­ten un­ter Ge­ne­ral Louis-Con­stant Mor­liè­re (1897-1980) ab­ge­löst.

Re­gie­rungs­prä­si­dent Neu­reu­ther er­klär­te am 31.7.1945 un­ter Be­zug­nah­me auf ei­nen Er­lass der fran­zö­si­schen Be­sat­zungs­macht, dass das Saar­ge­biet hin­fort ei­ne ei­ge­ne, von an­de­ren ad­mi­nis­tra­ti­ven Bin­dun­gen un­ab­hän­gi­ge ver­wal­tungs­mä­ßi­ge Ein­heit als ‚Re­gie­rungs­prä­si­di­um Saar’ dar­stel­le.[5] Da­mit hat­te die Son­der­ent­wick­lung des Saar­lan­des ih­ren An­fang ge­nom­men.

Die In­ter­es­sen Frank­reichs an der Saar wa­ren haupt­säch­lich wirt­schaft­li­cher Na­tur. Die ei­ge­ne In­dus­trie­pro­duk­ti­on soll­te ge­stärkt, das deut­sche Wirt­schafts­po­ten­ti­al ge­schwächt wer­den. So wur­de die Saar­in­dus­trie aus der deut­schen Wirt­schaft her­aus­ge­löst und mit der fran­zö­si­schen, die drin­gend der saar­län­di­schen Koh­le be­durf­te und an der Saar ei­nen neu­en gro­ßen Ab­satz­markt er­war­te­te, ver­bun­den. Am 3.1.1946 wur­den die Saar­gru­ben un­ter fran­zö­si­sche Ver­wal­tung ge­stellt.

Auf staat­li­cher Ebe­ne wur­de das Saar­land der Zu­stän­dig­keit des al­li­ier­ten Vier­mäch­te-Kon­troll­ra­tes für Deutsch­land ent­zo­gen und war da­mit kein Teil Deutsch­lands mehr.[6] Die aus­wär­ti­gen Be­zie­hun­gen und die mi­li­tä­ri­sche Si­che­rung ob­la­gen Frank­reich. In­nen­po­li­tisch soll­te sich das Saar­land in­ner­halb der durch den Wirt­schafts­an­schluss ge­zo­ge­nen Gren­zen selbst ver­wal­ten, sich ein ei­ge­nes Staats­bür­ger­schafts­recht und ei­ne ei­ge­ne Ver­fas­sung ge­ben. Kon­se­quen­ter­wei­se wur­de am 18.12.1946 ei­ne Zoll­gren­ze zwi­schen der Saar und der üb­ri­gen fran­zö­si­schen Zo­ne er­rich­tet. Po­li­tisch schlug das Saar­ge­biet nun ei­ne von den vier Be­sat­zungs­zo­nen in Deutsch­land ge­son­der­te Ent­wick­lung ein. Am 16.6.1947 lös­te die „Saar­mar­k“ die bis da­hin noch gül­ti­ge Reichs­mark als Zah­lungs­mit­tel ab. Schon am 15.11.1947 wur­de die Wäh­rungs­uni­on des Saar­lan­des mit der Fran­zö­si­schen Re­pu­blik durch die Ein­füh­rung des Franc Wirk­lich­keit. Da­mit wa­ren die drei we­sent­li­chen Merk­ma­le saar­län­di­scher Staat­lich­keit nach dem Zwei­ten Welt­krieg fest­ge­legt: Der Wirt­schafts­an­schluss an Frank­reich, die in­ne­re Au­to­no­mie und die gleich­zei­ti­ge Tren­nung von Deutsch­land.

Ers­te An­fän­ge po­li­ti­schen Le­bens er­ga­ben sich schon vor der Zu­las­sung po­li­ti­scher Par­tei­en im Ja­nu­ar 1946: Re­mi­gran­ten wie Jo­han­nes Hoff­mann, ein ka­tho­li­scher Jour­na­list und vor der Ab­stim­mung 1935 ein Be­für­wor­ter des Sta­tus Quo, da­nach lan­ge auf der Flucht und in der Emi­gra­ti­on, be­stimm­ten das po­li­ti­sche Le­ben.[7] Sie hat­ten in Frank­reich ers­ten Schutz vor den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten er­lebt und wa­ren nun der Über­zeu­gung, nur im Ein­ver­neh­men mit Frank­reich und un­ter An­er­ken­nung von des­sen An­sprü­chen kön­ne die Zu­kunft ge­stal­tet wer­den.

Die grö­ß­te Auf­ga­be war der Wie­der­auf­bau des Lan­des: Die Ver­kehrs­we­ge muss­ten wie­der­her­ge­stellt, die In­dus­trie­pro­duk­ti­on in Gang ge­setzt wer­den. Da­bei ver­zich­te­te Frank­reich auf De­mon­ta­gen und er­laub­te die vor­zei­ti­ge Rück­kehr der Kriegs­ge­fan­ge­nen, wo­durch ein schnel­le­rer wirt­schaft­li­cher Auf­bau er­reicht wur­de. Ver­sorgt mit fran­zö­si­schen Le­bens­mit­tel­ra­tio­nen - dar­un­ter so exo­ti­schen Früch­ten wie Dat­teln -, gal­ten die Saar­län­der bei ih­ren Nach­barn in der Pfalz bald als „Speck­fran­zo­sen“, de­nen es we­sent­lich bes­ser ging als vie­len Deut­schen in den an­de­ren Be­sat­zungs­zo­nen. Da­zu trug auch die Über­nah­me fran­zö­si­scher So­zi­al­leis­tun­gen, bei­spiels­wei­se der Kriegs­op­fer- und Wit­wen­ren­ten so­wie die Ein­füh­rung des fran­zö­si­schen Fa­mi­li­en­zu­la­ge­sys­tems bei.

Ei­ne saar­län­di­sche Ver­fas­sung und ein saar­län­di­sches Par­la­ment fehl­ten noch: Am 13.2.1947 ord­ne­te das Au­ßen­mi­nis­te­ri­um am Pa­ri­ser Quai d’Or­say die Ein­set­zung ei­ner Ver­fas­sungs­kom­mis­si­on durch den Mi­li­tär­gou­ver­neur an.[8] Vor­sit­zen­der der Kom­mis­si­on wur­de Jo­han­nes Hoff­mann von der Christ­li­chen Volks­par­tei (CVP). Das 20-köp­fi­ge Gre­mi­um soll­te auf der Grund­la­ge ei­ner No­te der fran­zö­si­schen Re­gie­rung ei­nen Ver­fas­sungs­vor­schlag aus­ar­bei­ten. Am 25.9.1947 wur­de der Ver­fas­sungs­ent­wurf ver­öf­fent­licht, die Wahl ei­ner ver­fas­sung­ge­ben­den Ver­samm­lung, ei­ner „as­sem­blée lé­gis­la­ti­ve sar­roi­se“ für den 5. Ok­to­ber an­ge­ord­net.

Da Mi­li­tär­gou­ver­neur Gil­bert Grand­val (1904-1981) es ab­ge­lehnt hat­te, den Ver­fas­sungs­ent­wurf der saar­län­di­schen Be­völ­ke­rung zur Ab­stim­mung vor­zu­le­gen, hat­ten die Wäh­ler die Auf­ga­be, in­di­rekt – durch die Wahl ge­eig­ne­ter Volks­ver­tre­ter – über den Ver­fas­sungs­ent­wurf zu ent­schei­den. In ähn­li­cher Wei­se wur­de zwei Jah­re spä­ter in den drei west­li­chen Be­sat­zungs­zo­nen mit dem Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik durch die Wahl des ers­ten deut­schen Bun­des­ta­ges ver­fah­ren. Nur die Kom­mu­nis­ten hat­ten sich ge­gen den Wirt­schafts­an­schluss an Frank­reich aus­ge­spro­chen. Die christ­li­che CVP, die so­zia­lis­ti­sche SPS und die li­be­ra­le DPS stan­den auf dem Bo­den der fran­zö­si­schen Saar­po­li­tik.

Wahlveranstaltung der DPS in Völklingen, 29.7.1955, Foto: Erich Oettinger. (Landesarchiv Saarbrücken/ N PressPhA 48/18)

 

Bei ei­ner Wahl­be­tei­li­gung von 95,7 Pro­zent ent­fie­len auf die CVP 51,2 Pro­zent, die SPS 32,8 Pro­zent, KP 8,4 Pro­zent und DPS 7,6 Pro­zent. Am 8.11.1947 wur­de die Ver­fas­sung ver­ab­schie­det, mit 48 Ja-Stim­men von 49 an­we­sen­den Ab­ge­ord­ne­ten. Frank­reich hat­te so­mit auf dem We­ge über die Ver­fas­sungs­an­nah­me ei­ne de­mo­kra­ti­sche Le­gi­ti­mie­rung sei­nes Saar­kon­zep­tes er­langt. Die Prä­am­bel bil­de­te das staats­recht­li­che Fun­da­ment des neu­en Saar­staa­tes: Das Volk an der Saar,[ ...] grün­det sei­ne Zu­kunft auf den wirt­schaft­li­chen An­schluß des Saar­lan­des an die fran­zö­si­sche Re­pu­blik und die Wäh­rungs- und Zoll­ein­heit mit ihr, die ein­schlie­ßen: 

  • die po­li­ti­sche Un­ab­hän­gig­keit des Saar­lan­des vom Deut­schen Reich, 

  • die Lan­des­ver­tei­di­gung und die Ver­tre­tung der saar­län­di­schen In­ter­es­sen im Aus­land durch die fran­zö­si­sche Re­pu­blik,

  • die An­wen­dung der fran­zö­si­schen Zoll- und Wäh­rungs­ge­set­ze im Saar­land [...].

Im Üb­ri­gen stimm­te die Saar­ver­fas­sung im We­sent­li­chen mit den Ver­fas­sun­gen der deut­schen Län­der – vor al­lem von Rhein­land-Pfalz – über­ein.

Am 15.11.1947 trat die Ge­setz­ge­ben­de Ver­samm­lung erst­mals als „Land­tag des Saar­lan­des“ zu­sam­men und wähl­te den Vor­sit­zen­den der CVP, Jo­han­nes Hoff­mann, zum Mi­nis­ter­prä­si­den­ten. Fünf Ta­ge spä­ter stell­te die­ser sein Ko­ali­ti­ons­ka­bi­nett aus CVP und SPS vor. Mit der Ver­ab­schie­dung des saar­län­di­schen Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­set­zes am 15.8.1948 war die ers­te Pha­se der saar­län­di­schen Nach­kriegs­ent­wick­lung be­en­det. Die Kon­sti­tu­ie­rung der Ver­fas­sungs­or­ga­ne war ab­ge­schlos­sen, die Saar­fra­ge im Sin­ne Frank­reichs ent­schie­den.

Im wirt­schaft­li­chen Sin­ne war das Saar­land mit dem Zoll-, Wäh­rungs- und Wirt­schafts­an­schluss an Frank­reich ei­ne star­ke Ab­hän­gig­keit ein­ge­gan­gen. Die in­ne­re Au­to­no­mie war ge­währ­leis­tet, wur­de je­doch durch die Rech­te des Ho­hen Kom­mis­sars in al­len Be­rei­chen, die den wirt­schaft­li­chen An­schluss be­rühr­ten, über­la­gert und ge­schmä­lert. Im völ­ker­recht­li­chen Sin­ne war das Saar­land ein Pro­tek­to­rat, da Frank­reich als Pro­tek­tor die mi­li­tä­ri­sche Schutz­pflicht und die Lei­tung der aus­wär­ti­gen An­ge­le­gen­hei­ten über­nom­men hat­te. Die völ­ker­recht­li­che Hand­lungs­fä­hig­keit des Saar­lan­des war da­mit zu­min­dest stark ein­ge­schränkt.

An die­ser Stel­le sei­en noch ein­mal die Grund­prin­zi­pi­en saar­län­di­scher Staat­lich­keit nach 1945 wie­der­holt: Po­li­ti­sche Tren­nung von Deutsch­land, wirt­schaft­li­che Uni­on mit Frank­reich und die in­ne­re Au­to­no­mie des Saar­lan­des. In der Fol­ge­zeit soll­ten im Ab­stim­mungs­kampf die­se staat­li­chen Grund­la­gen des Saar­lan­des in Fra­ge ge­stellt wer­den.

3. Abstimmungskampf 1955

Von der Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik im Herbst 1949 bis zur Zu­las­sung „deut­scher“ Par­tei­en im Saar­land Mit­te 1955

Die po­li­ti­schen Be­zie­hun­gen zwi­schen Frank­reich und dem Saar­land wur­den in zahl­rei­chen Kon­ven­tio­nen ge­re­gelt. Als im Herbst 1949 die Bun­des­re­pu­blik ge­grün­det wur­de, wi­der­setz­te sich der neue deut­sche Staat der Saar­au­to­no­mie. Bun­des­kanz­ler Kon­rad Ade­nau­er er­klär­te, die Saar­be­völ­ke­rung ha­be nie ihr Aus­schei­den aus dem deut­schen Staats­ver­band er­klärt. Die Bun­des­re­gie­rung fürch­te­te durch ei­ne An­er­ken­nung des Saar­sta­tus ein Prä­ju­diz für das Han­deln der So­wjet­uni­on in Be­zug auf die Oder-Nei­ße-Gren­ze zu schaf­fen. Sie hielt an ih­rem Rechts­stand­punkt, dass die Saar deutsch sei, fest und for­der­te ein Mit­spra­che­recht in al­len das Saar­land be­tref­fen­den po­li­ti­schen Fra­gen. An­de­rer­seits war Ade­nau­er be­reit, die Saar­fra­ge zu­vor­kom­mend un­ter dem As­pekt des Auf­baus von West­eu­ro­pa und der deutsch-fran­zö­si­schen Ver­söh­nung zu be­han­deln.[9] 

Die Saar­re­gie­rung Hoff­manns be­müh­te sich ih­rer­seits, in­ter­na­tio­na­le An­er­ken­nung zu er­lan­gen. 1950 wur­den die Bun­des­re­pu­blik und das Saar­land ge­mein­sam as­so­zi­ier­te Mit­glie­der des Eu­ro­pa­ra­tes. Die Mit­glied­schaft in der Mon­tan­uni­on wur­de al­ler­dings nicht er­reicht. Ei­ne ei­ge­ne Olym­pia­mann­schaft, 1952 in Hel­sin­ki am Start, und ei­ne Fuß­ball­na­tio­nal­mann­schaft wa­ren äu­ße­re Zei­chen der Ei­gen­staat­lich­keit.

An den Land­tags­wah­len 1952 durf­ten Par­tei­en, die ge­gen Au­to­no­mie und Wirt­schafts­an­schluss wa­ren – mit Aus­nah­me der Kom­mu­nis­ten – nicht teil­neh­men. Die DPS war aus die­sem Grund ver­bo­ten wor­den, die neu ge­grün­de­ten Par­tei­en CDU-Saar und SPD wur­den zur Wahl nicht zu­ge­las­sen. Die nicht­zu­ge­las­se­nen Par­tei­en, for­der­ten auf, „wei­ß“ zu wäh­len, das hei­ßt un­gül­tig zu stim­men. 24,5 Pro­zent der Wäh­ler folg­ten die­sem Auf­ruf. Wie­der­um er­reich­te die CVP die ab­so­lu­te Mehr­heit und re­gier­te mit der SPS von Ri­chard Kirn (1902-1988). Ein­zi­ge Op­po­si­ti­ons­par­tei war die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei.[10] 

In bi­la­te­ra­len deutsch-fran­zö­si­schen Ge­sprä­chen wur­de ver­sucht, die Saar­fra­ge, die im­mer mehr zu ei­ner Be­las­tung zwi­schen Bonn und Pa­ris wur­de, durch ei­ne Eu­ro­päi­sie­rung oder In­ter­na­tio­na­li­sie­rung zu lö­sen. Erst­ma­lig im Zu­ge der Grün­dungs­ver­hand­lun­gen zur „Eu­ro­päi­schen Ge­mein­schaft für Koh­le und Stahl“ wur­de die Eu­ro­päi­sie­rung der Saar ernst­haft er­wo­gen („Na­ters-Plan“). Der Plan, Saar­brü­cken zum Sitz wich­ti­ger eu­ro­päi­scher Be­hör­den zu ma­chen, stand im Raum. Die be­tref­fen­den deutsch-fran­zö­si­schen Wirt­schafts­ver­hand­lun­gen schei­ter­ten je­doch, so­dass es erst wei­te­rer In­itia­ti­ven des Eu­ro­pa­rats be­durf­te, bis es in den Pa­ri­ser Ver­trä­gen von 1954 zu greif­ba­ren Er­geb­nis­sen kam. Im Zu­sam­men­hang mit den Ver­hand­lun­gen über den Bei­tritt der Bun­des­re­pu­blik zur West­eu­ro­päi­schen Uni­on und der NA­TO so­wie der Wie­der­er­lan­gung der Sou­ve­rä­ni­tät wur­de zwi­schen Deutsch­land und Frank­reich am 23.10.1954 ein Ab­kom­men über das Sta­tut der Saar als Teil der Pa­ri­ser Ver­trä­ge ab­ge­schlos­sen.

Frank­reich woll­te mit ei­nem eu­ro­päi­schen Sta­tus für die Saar er­rei­chen, dass die Tren­nung von Deutsch­land end­gül­tig fest­ge­schrie­ben wur­de und sei­ne wirt­schaft­li­chen In­ter­es­sen ge­wahrt blie­ben. Die Bun­des­re­gie­rung ih­rer­seits er­streb­te vol­le de­mo­kra­ti­sche Rech­te für die Saar­be­völ­ke­rung und die Ver­flech­tung der saar­län­di­schen Wirt­schaft mit der west­deut­schen. Die end­gül­ti­ge Re­ge­lung der Saar­fra­ge soll­te in ei­nem Frie­dens­ver­trag er­fol­gen.[11] 

Über das Ab­kom­men wur­de ge­nau ein Jahr spä­ter ab­ge­stimmt. Kern­punk­te die­ses Sta­tus wa­ren:
 

  • Das Saar­land soll­te im Rah­men der West­eu­ro­päi­schen Uni­on ein eu­ro­päi­sches Sta­tut er­hal­ten, das nach sei­ner An­nah­me im We­ge der Volks­ab­stim­mung […] bis zum Ab­schluss ei­nes Frie­dens­ver­tra­ges nicht mehr in Fra­ge ge­stellt wer­den durf­te.[12] 

  • Bei ei­nem Frie­dens­ver­trag mit Deutsch­land soll­ten die Saar­län­der dann ein zwei­tes Mal über das Sta­tut ent­schei­den.

  • Die so­ge­nann­ten „deut­schen Par­tei­en“ wur­den zu­ge­las­sen. Erst­mals konn­ten da­mit CDU und SPD im Saar­land le­gal tä­tig wer­den.

Der eu­ro­päi­sche As­pekt des Saar­sta­tuts fand sei­nen Aus­druck in der Un­ter­stel­lung des Saar­lan­des un­ter die Ge­walt ei­nes von der WEU er­nann­ten und ihr ver­ant­wort­li­chen eu­ro­päi­schen Kom­mis­sars. Die­ser soll­te zu­stän­dig sein für die aus­wär­ti­gen An­ge­le­gen­hei­ten, die Lan­des­ver­tei­di­gung und die Be­ach­tung des Sta­tuts. In al­len an­de­ren Be­rei­chen blieb das Saar­land po­li­tisch au­to­nom. Wirt­schaft­lich soll­ten zur Bun­des­re­pu­blik Be­zie­hun­gen her­ge­stellt wer­den, wie sie zu Frank­reich schon be­stan­den, al­ler­dings durf­te da­durch nicht die fran­zö­sisch-saar­län­di­sche Wirt­schafts­uni­on ge­fähr­det wer­den. Frank­reich und Deutsch­land ver­spra­chen ge­mein­sam da­für ein­zu­tre­ten, dass der Sitz der Mon­tan­uni­on nach Saar­brü­cken ver­legt wer­den wür­de. Mi­nis­ter­prä­si­dent Hoff­mann sprach da­von, das Saar­land kön­ne nun sei­ne Auf­ga­be, Brü­cke zwi­schen Frank­reich und Deutsch­land zu sein, voll und ganz er­fül­len. Das Saar­land soll­te die Keim­zel­le Eu­ro­pas wer­den.[13] 

Ab­stim­mungs­kampf Ju­li bis Ok­to­ber 1955

Nach­dem der saar­län­di­sche Land­tag die vom Pa­ri­ser Saarab­kom­men vor­ge­schrie­be­nen Ge­set­ze ver­ab­schie­det hat­te, lief die drei­mo­na­ti­ge Vor­be­rei­tungs­zeit für die Volks­ab­stim­mung an. Die Pres­se- und Ver­samm­lungs­frei­heit war nun ge­währ­leis­tet. Al­len po­li­ti­schen Be­we­gun­gen wur­de die freie Be­tä­ti­gung zu­ge­si­chert, neue Par­tei­en konn­ten sich grün­den. Ne­ben CVP, SPS und KP tra­ten die bis­lang ver­bo­te­nen be­zie­hungs­wei­se nicht zu­ge­las­se­nen Par­tei­en DPS, CDU und DSP (spä­ter SPD) an. Von der Pres­se der drei „deut­schen“ Par­tei­en, die in den Jah­ren zu­vor po­li­tisch nicht tä­tig sein durf­ten, ist der 23.7.1955 als Tag des „Aus­bruchs der Frei­heit“ be­zeich­net wor­den. 

Plakat der Christlichen Volkspartei Saar (CVS) zum Referendum, 1955. (Landesarchiv Saarbrücken/ Plakat 167 1)

 

Im Ab­stim­mungs­kampf 1955 stan­den sich so­ge­nann­te Ja- und Nein-Sa­ger ge­gen­über, die für be­zie­hungs­wei­se ge­gen das Eu­ro­päi­sche Sta­tut ar­gu­men­tier­ten. Die „Ja-Ein­heits­fron­t“ trat für das Sta­tut ein, ihr ge­hör­ten CVP und SPS, so­wie die bei­den Eu­ro­pa­be­we­gun­gen „Nou­vel­les Equi­pes In­ter­na­tio­na­les (NEI)“ Sek­ti­on Saar und „Eu­ro­pa-Uni­on“ des Saar­lan­des, so­wie klei­ne­re Split­ter­grup­pen an. Die Geg­ner des Sta­tuts fan­den sich im „Deut­schen Hei­mat­bun­d“ zu­sam­men. Es wa­ren dies CDU Saar, DSP und DPS. Im La­ger der Nein-Sa­ger stand auch die KP, es gab je­doch kei­ne Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen Hei­mat­bund und Kom­mu­nis­ten.[14] 

Drei Mo­na­te lang kämpf­ten die Men­schen im Saar­land für und ge­gen das Sta­tut. Freund­schaf­ten zer­bra­chen, Ar­beits­kol­le­gen spra­chen nicht mehr mit­ein­an­der, gan­ze Fa­mi­li­en und Sip­pen ver­fein­de­ten sich.[15] 

Im Grun­de ging es bei die­sem Re­fe­ren­dum um die Fra­ge, ob das Saar­land un­ter eu­ro­päi­scher Auf­sicht als teil­au­to­no­mer Staat wei­ter­exis­tie­ren oder mit Deutsch­land wie­der­ver­ei­nigt wer­den soll­te. Vie­le Saar­län­der ga­ben aber im Ab­stim­mungs­kampf auch ih­rem Un­mut über das „Hoff­mann-Sys­te­m“ Aus­druck. Die Un­ter­drü­ckung jeg­li­cher po­li­ti­scher Op­po­si­ti­on, die Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit, po­li­zei­staat­li­che Me­tho­den der „Su­re­té“ und der „P6“,[16]  Ab­hör­maß­nah­men und Aus­wei­sun­gen woll­ten sie nicht län­ger hin­neh­men und mit der Ab­stim­mung über das Eu­ro­päi­sche Sta­tut auch das gan­ze „Hoff­mann-Re­gi­me“ be­sei­ti­gen.

Plakat der Sozialdemokratischen Partei des Saarlands zum Referendum, 1955. (Landesarchiv Saarbrücken/ Plakat 122 1)

 

CVP, SPS und die Eu­ro­pa­be­we­gun­gen sa­hen in der An­nah­me des Sta­tuts die Chan­ce, der eu­ro­päi­schen Zu­sam­men­ar­beit neu­en Auf­trieb und dem Saar­land ei­ne gu­te wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung zu ge­ben. Deut­sches Volks­tum und deut­sche Kul­tur sei­en an der Saar ge­si­chert. Ge­ra­de letz­te­res wur­de von den Geg­nern des Sta­tuts en­er­gisch be­strit­ten. Sie mach­ten die Ent­schei­dung des 23.10. zu ei­ner Ent­schei­dung für oder ge­gen Deutsch­land. Die CDU-Saar pro­kla­mier­te wört­lich: Der Weg nach Eu­ro­pa führt nicht über die Ver­leug­nung des Va­ter­lan­des – des­halb kein Eu­ro­pa oh­ne Va­ter­land![17] Der Wahl­kampf wur­de mit ei­ner Lei­den­schaft ge­führt, die auch in Ge­walt von bei­den Sei­ten mün­de­te.[18] 

Die Par­tei­en des spä­te­ren Hei­mat­bun­des be­gan­nen be­reits in der ers­ten Wo­che der drei­mo­na­ti­gen Vor­be­rei­tungs­zeit zur Volks­ab­stim­mung mit ei­ner aus­ge­dehn­ten Ver­samm­lungs­wel­le im gan­zen Land. Die Ver­samm­lungs­lo­ka­le wa­ren meist mit Fah­nen in den Far­ben Schwarz-Rot-Gold, Par­tei­em­ble­men und Trans­pa­ren­ten, die in ih­ren In­schrif­ten das Deutsch­tum der Saar fest­stell­ten („Deutsch ist die Saar“) oder den Auf­ruf zu „Ei­nig­keit und Recht und Frei­heit“ ent­hiel­ten, aus­ge­schmückt. Im An­schluss an die Kund­ge­bung san­gen die Teil­neh­mer das Deutsch­land­lied und „Deutsch ist die Saar“ auf die Me­lo­die des tra­di­tio­nel­len Berg­ar­bei­ter­lie­des „Glück auf der Stei­ger komm­t“. Letz­te­res war dem grö­ß­ten Teil der Saar­be­völ­ke­rung noch aus dem Ab­stim­mungs­kampf 1935 wohl­be­kannt. Mit dem Ab­sin­gen die­ses Saar­lie­des soll­te ei­ne Be­zie­hung her­ge­stellt wer­den zwi­schen dem na­tio­na­len Be­kennt­nis der Saar­län­der 1935 und der Ab­stim­mung über das Saar­sta­tut 1955. Au­ßer­dem wur­de mit dem ge­mein­sa­men Sin­gen des Saar­lie­des so­wie mit Sprech­chö­ren wie „Der Di­cke muß we­g“ (ge­meint war CVP-Mi­nis­ter­prä­si­dent Jo­han­nes Hoff­mann, der die­sen all­seits be­kann­ten Spitz­na­men auf Grund sei­ner Kör­per­fül­le trug), ein ge­ra­de für noch Un­ent­schlos­se­ne ein­drucks­vol­ler So­li­da­ri­sie­rungs­ef­fekt un­ter den Nein­sa­gern er­reicht. 

Am 13.8. fand die ers­te Gro­ß­ver­an­stal­tung der Ja-Par­tei­en CVP und SPS als Eu­ro­pakund­ge­bung un­ter dem Mot­to „Eu­ro­pa oder Cha­os“ in der Saar­brü­cker Wart­burg statt. Tau­sen­de wur­den mit kos­ten­lo­sen Stra­ßen­bahn- und Au­to­bus­fahr­ten in das Ver­samm­lungs­lo­kal ge­bracht. Schon wäh­rend der Ver­samm­lung kam es zu Zwi­schen­ru­fen, da­nach zu or­ga­ni­sier­ten Sprech­chö­ren, die „Jo­ho“ zum Rück­tritt auf­for­der­ten. Zahl­rei­che Per­so­nen be­gan­nen beim Ab­gang der Red­ner, die ei­nen Not­aus­gang be­nut­zen muss­ten, Deutsch­land­lied und „Deutsch ist die Saar“ zu sin­gen. 

Zu schwe­ren Aus­schrei­tun­gen kam es bei ei­ner CVP-Ver­an­stal­tung mit Mi­nis­ter­prä­si­dent Hoff­mann in St. Ing­bert am 18. Au­gust. Im Po­li­zei­be­richt ist da­zu ver­merkt:

Durch ei­ne strik­te Ein­gangs­kon­trol­le wur­den An­hän­ger der pro­deut­schen Par­tei­en und Kom­mu­nis­ten am Be­tre­ten der Ver­samm­lungs­stät­te ge­hin­dert. Den­noch hat­ten sich zu Be­ginn der Ver­an­stal­tung um 20 Uhr ei­ni­ge Geg­ner der CVP un­ter die 1200 Be­su­cher ge­mischt. We­gen Über­fül­lung wur­de das Lo­kal ge­schlos­sen. Ein ers­ter Stö­rer wur­de gleich zu Be­ginn der Ver­samm­lung aus dem Saal ent­fernt und durch die Voll­zugs­po­li­zei vor­läu­fig fest­ge­nom­men.

Kundgebung der Europa-Union in der Wartburg in Saarbrücken: Ein großes Polizeiaufgebot ging vor dem Veranstaltungsort gegen die Demonstranten vor, 13.8.1955, Foto: Erich Oettinger. (Landesarchiv Saarbrücken/ N PressPhA 285/21)

 

Wäh­rend im Saal Mi­nis­ter­prä­si­dent Hoff­mann sei­ne Re­de nun­mehr un­ge­stört hal­ten konn­te, kam es vor dem Ver­samm­lungs­ge­bäu­de zu Tu­mul­ten. Fer­nand De­hous­se - Lei­ter der eu­ro­päi­schen Kom­mis­si­on für die Volks­ab­stim­mung - wur­de bei sei­nem Ein­tref­fen vor dem Ver­samm­lungs­ge­bäu­de von kom­mu­nis­ti­schen Stör­trupps mit lau­ten Pfui­ru­fen emp­fan­gen. Ent­ge­gen der vor­he­ri­gen Ab­spra­che wur­de die Re­de Hoff­manns mit Laut­spre­chern ins Freie über­tra­gen, wo sich ca. 4.000 Per­so­nen ver­sam­melt hat­ten. 

Mit Pfui­ru­fen und im­mer stär­ker wer­den­den Sprech­chö­ren „der Di­cke muss weg" wur­de die Re­de im Frei­en kom­men­tiert. Als or­ga­ni­sier­te Stör­trupps ver­such­ten zur Ein­gangs­tür des Ver­samm­lungs­lo­kals zu ge­lan­gen, wur­de der Laut­spre­cher vom po­li­zei­li­chen Ein­satz­lei­ter ab­ge­stellt und die Men­ge zum Zu­rück­tre­ten auf­ge­for­dert. So­fort san­gen sie das Deutsch­land- und Saar­lied, was von der Po­li­zei­füh­rung als un­er­laub­te Ge­gen­kund­ge­bung un­ter frei­em Him­mel in­ter­pre­tiert wur­de. In der Fol­ge kam es zu tu­mult­ar­ti­gen Aus­schrei­tun­gen, wo­bei man da­zu über­ging, mit Pflas­ter­stei­nen, Bier­fla­schen und sons­ti­gen har­ten Ge­gen­stän­den die Glas­schei­ben des Lo­kal­ein­gan­ges zu be­wer­fen bzw. zu zer­trüm­mern.

Der Ein­satz­lei­ter gab Be­fehl zur so­for­ti­gen und gänz­li­chen Räu­mung des Be­rei­ches vor dem Ver­samm­lungs­lo­kal und ließ ei­nen ge­tarnt ste­hen­den Was­ser­wer­fer vor­zie­hen, nach­dem er die Men­schen­men­ge mehr­fach auf­ge­for­dert hat­te, sich zu ent­fer­nen. Da die Men­ge mit Pfui­ru­fen ant­wor­te­te und ste­hen blieb, setz­te mit der Räu­mungs­ket­te, wel­che die Hieb­waf­fe ge­brau­chen muss­te, der Was­ser­wer­fer ein. Es wur­de ver­sucht, die Men­ge ab­zu­drän­gen, der Räu­mungs­pro­zess wur­de je­doch aus Rich­tung der ge­gen­über­lie­gen­den Wirt­schaft (mit ei­nem) star­ken Stein­ha­gel be­ant­wor­tet, wo­durch meh­re­re Po­li­zei­be­am­te durch Stein­wür­fe im Ge­sicht schwer ver­letzt wur­den. Nach An­ga­ben des an­we­sen­den Ro­ten Kreu­zes St. Ing­bert er­lit­ten 7 Zi­vi­lis­ten Ver­let­zun­gen leich­te­rer Na­tur. Bei der Räu­mung wur­den 6 Per­so­nen vor­läu­fig fest­ge­nom­men.

Als der Was­ser­wer­fer in ei­ne an­gren­zen­de Stra­ße hin­auf­fuhr, kam ihm ein von un­be­kann­ten Tä­tern in Be­we­gung ge­setz­ter füh­rer­lo­ser Pkw ent­ge­gen und prall­te ge­gen die­sen. Es ge­lang schlie­ß­lich die Men­schen­men­ge wei­ter zu­rück­zu­drän­gen und auf­zu­lö­sen. Die Räu­mung war ge­gen 21.40 Uhr be­en­det und die öf­fent­li­che Ord­nung wie­der her­ge­stellt.[19] 

Die Hoff­mann-Par­tei sprach dar­auf­hin vom schlimms­ten Stra­ßen­ter­ror ge­gen (die) Eu­ro­pa-Idee, aus­ge­übt von Halb­wüch­si­gen, Aus­wär­ti­gen und Aus­län­dern.[20] In der CDU-Pres­se, den „Neu­es­ten Nach­rich­ten“ wur­den die Kra­wal­le den Ter­ror­me­tho­den Hoff­manns zu­ge­schrie­ben. Die Un­ru­hen sei­en nicht durch deut­sche Par­tei­en or­ga­ni­siert wor­den, es ha­be sich viel­mehr um ei­ne er­neu­te spon­ta­ne Wil­lens­kund­ge­bung der Be­völ­ke­rung […], die sich ge­gen das ge­gen­wär­ti­ge Re­gime an der Saar rich­tet ge­han­delt.

In der Füh­rungs­grup­pe der CVP um Jo­han­nes Hoff­mann wur­de ernst­haft über den Sinn der Ab­stim­mung und ei­ne Fort­füh­rung des Ab­stim­mungs­kamp­fes dis­ku­tiert. Teil­wei­se wur­de er­wo­gen, das Saar­sta­tut ab­zu­leh­nen – Jo­han­nes Hoff­mann, un­ter­stützt von der gro­ßen Mehr­heit in der CVP und nach Be­ra­tung mit Ro­bert Schu­man (1886-1963), konn­te sich für die­se Lö­sung je­doch nicht ent­schei­den, da er sei­ner neun­jäh­ri­gen Po­li­tik nicht un­treu wer­den woll­te.[21] 

Hoff­mann schreibt in sei­nem Buch „Das Ziel war Eu­ro­pa“: Nach mei­ner Auf­fas­sung konn­ten wir als Part­ner des Saar­sta­tuts, dem wir un­se­re Zu­stim­mung ge­ge­ben hat­ten, un­mög­lich die Pa­ro­le Nein zum Sta­tut aus­ge­ben, wenn wir nicht selbst un­glaub­wür­dig wer­den woll­ten, so­wohl ge­gen­über un­se­rer ei­ge­nen Be­völ­ke­rung wie ge­gen­über der WEU. […] Aber ich trug mich sehr wohl mit dem Ge­dan­ken, not­falls den Ab­stim­mungs­kampf ab­zu­bre­chen, um vor al­ler Welt zu de­mons­trie­ren, dass in­fol­ge des Ver­hal­tens der Nein­sa­ger ei­ne freie und un­ge­hin­der­te Ab­stim­mung zur Zeit nicht mög­lich sei.[22] 

Der Prä­si­dent der WEU-Kon­troll­kom­mis­si­on, Fer­nand De­hous­se (1906-1976), er­reich­te nach den ge­walt­tä­tig ver­lau­fe­nen ers­ten Ver­samm­lun­gen durch sei­ne Ap­pel­le an al­le Par­tei­en ei­ne Be­ru­hi­gung in der Fol­ge­zeit. Den Geg­nern des Sta­tuts war es bes­ser als den Be­für­wor­tern ge­lun­gen, die Mas­sen mit ih­ren Pa­ro­len in den Bann zu schla­gen. Bei Hoff­mann, CVP, SPS und Eu­ro­pa­be­we­gun­gen ver­brei­te­ten sich Ent­täu­schung und Mut­lo­sig­keit.[23] 

Hoff­nung schöpf­ten die Ja-Sa­ger erst wie­der, als Bun­des­kanz­ler Ade­nau­er sich am 2.9. in Bo­chum an­läss­lich des 10. Jah­res­ta­ges der Grün­dung der west­fä­li­schen CDU für die An­nah­me des Sta­tuts aus­sprach. Ade­nau­er bat die Saar­be­völ­ke­rung, Ru­he zu be­wah­ren. Er ver­ste­he, dass sie die Re­gie­rung Hoff­manns nicht mehr wol­le. Der Weg, zu ei­ner an­de­ren Re­gie­rung zu kom­men, sei je­doch ers­tens, das Sta­tut an­zu­er­ken­nen und zwei­tens ei­nen Land­tag zu wäh­len, der in sei­ner Zu­sam­men­set­zung ge­gen die Re­gie­rung Hoff­mann ge­rich­tet sei. Trotz al­ler Ent­mu­ti­gun­gen und trotz al­ler Schwie­rig­kei­ten müs­se es die Auf­ga­be blei­ben, ein ei­ni­ges Eu­ro­pa zu schaf­fen.

Die CVP be­grü­ß­te die Er­klä­rung Ade­nau­ers und nutz­te sie pro­pa­gan­dis­tisch, um den Ge­gen­satz zwi­schen Bun­des-CDU und Saar-CDU her­aus­zu­stel­len. Die Saar-CDU sah sich ge­zwun­gen, ih­re ab­wei­chen­de Auf­fas­sung klar her­aus­zu­ar­bei­ten. Vor­sit­zen­der Hu­bert Ney (1892-1984) er­klär­te, die CDU-Saar wer­de auch wei­ter­hin das Saar­sta­tut ab­leh­nen.[24] 

CVS-Kundgebung in Saaarbrücken-Burbach am Vorabend der Abstimmung: Ministerpräsident Hoffmann am Rednerpult, 22.10.1955, Foto: Erich Oettinger. (Landesarchiv Saarbrücken/ N PressPhA 75/38)

 

Als di­rek­te Fol­ge der Bo­chu­mer Er­klä­rung Ade­nau­ers schlos­sen sich ei­nen Tag spä­ter, am 3.9.1955 CDU Saar, DPS und DSP (die spä­te­re SPD-Saar) zum Deut­schen Hei­mat­bund zu­sam­men. In zeit­ge­mä­ßem Pa­thos ver­kün­de­ten die drei Par­tei­vor­sit­zen­den Ney, Hein­rich Schnei­der (1907-1974) und Kurt Con­rad (1911-1982):

  • ent­ge­gen al­len in­ne­ren und äu­ße­ren Ein­flüs­sen am deut­schen Va­ter­land fest­zu­hal­ten,

  • die deut­sche Kul­tur an der Saar ge­gen al­les Be­stre­bun­gen der Ent­frem­dung zu ver­tei­di­gen, ge­gen je­de Ver­fäl­schung des wah­ren Volks­wil­lens ein­zu­tre­ten,

  • die deutsch-fran­zö­si­sche Ver­stän­di­gung im Geis­te der Wahr­haf­tig­keit durch ei­ne ge­rech­te Lö­sung der Saar­fra­ge zu för­dern und

  • als Deut­sche mit­zu­ar­bei­ten an der Ver­ei­ni­gung Eu­ro­pas auf der Grund­la­ge der Gleich­be­rech­ti­gung al­ler eu­ro­päi­schen Völ­ker.

Der Zu­sam­men­schluss von drei welt­an­schau­lich völ­lig ver­schie­de­nen Par­tei­en mit christ­de­mo­kra­ti­scher, li­be­ra­ler und so­zia­lis­ti­scher Aus­rich­tung un­ter Zu­rück­stel­lung die­ser ideo­lo­gi­schen Dif­fe­ren­zen um des ge­mein­sa­men Zie­les der Wie­der­ver­ei­ni­gung der Saar mit West­deutsch­land wil­len – wie es hieß, mach­te gro­ßen Ein­druck auf die Be­völ­ke­rung.[25] 

Die Be­für­wor­ter des Sta­tuts wur­den mit dem Vor­wurf des Se­pa­ra­tis­mus ge­brand­markt, sei­ne Geg­ner un­dif­fe­ren­ziert als Na­tio­na­lis­ten oder gar als Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ver­un­glimpft. In al­len Or­ten des Saar­lan­des gab es in den drei Mo­na­ten des Ab­stim­mungs­kamp­fes bei­na­he täg­lich Kund­ge­bun­gen oder Ver­samm­lun­gen. Die Par­tei­mit­glie­der en­ga­gier­ten sich beim Ver­tei­len von Flug­blät­tern, Kle­ben von Pla­ka­ten, beim Ent­fer­nen der­sel­ben und auch in hand­greif­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen.

Plakat der Demokratischen Partei Saar (DPS) zum Referendum, 1955. (Landesarchiv Saarbrücken/ Plakat 10 a-c 1)

 

Am Tag der Ab­stim­mung sa­ßen in den Wahl­lo­ka­len neu­tra­le aus­län­di­sche Be­ob­ach­ter, vor al­lem Ita­lie­ner und Eng­län­der so­wie vie­le von den Par­tei­en be­nann­te Ver­tre­ter. Bei ei­ner sehr ho­hen Wahl­be­tei­li­gung von 96,7 Pro­zent, der höchs­ten Wahl­be­tei­li­gung in der deut­schen Nach­kriegs­ge­schich­te, stimm­ten am 23.10.1955 67,7 Pro­zent ge­gen das Sta­tut.

4. Rückgliederung und Wiedervereinigung im Kleinen: Politisch (1.1.1957) und wirtschaftlich (6.7.1959 Tag X)

Jo­han­nes Hoff­mann zog noch in der Nacht der Nie­der­la­ge sei­ne Kon­se­quen­zen und trat zu­rück. Der Ent­schluss war nach Be­ra­tun­gen mit sei­nem Ka­bi­nett und füh­ren­den CVP-Po­li­ti­kern ge­fal­len. Vor al­lem der fran­zö­si­sche Bot­schaf­ter an der Saar hat­te ihn zu die­sem Schritt ge­drängt. Da­mit war der Weg frei für ei­ne par­tei­lo­se Über­gangs­re­gie­rung.[26] 

Ankunft von britischen Wahlbeobachtern der WEU-Kommission für die Volksabstimmung von 1955 auf dem Flughafen in Zweibrücken. (Landesarchiv Saarbrücken/ B 800 C)

 

Der un­mit­tel­bar nach dem Ab­stim­mungs­kampf ein­set­zen­de Land­tags­wahl­kampf wur­de teil­wei­se mit den glei­chen Ar­gu­men­ten und Pa­ro­len wie im Ab­stim­mungs­kampf ge­führt („Na­tio­na­lis­ten“ – „Se­pa­ra­tis­ten“). Das Er­geb­nis der Wahl vom 18.12.1955 bot den­noch ei­ne Über­ra­schung, da die al­ten Par­tei­en, vor al­lem die CVP, bes­ser ab­schnit­ten als all­ge­mein an­ge­nom­men wor­den war: Die CDU war zwar mit 25,4 Pro­zent stärks­te Par­tei, ihr folg­ten je­doch knapp da­hin­ter DPS und CVP mit 24,2 be­zie­hungs­wei­se 21,8 Pro­zent. Ins­ge­samt hat­ten aber die pro­deut­schen Hei­mat­bund­par­tei­en CDU, DPS und SPD die Mehr­heit und bil­de­ten un­ter Mi­nis­ter­prä­si­dent Ney (CDU) ei­ne ge­mein­sa­me Re­gie­rung. Er­klär­tes Ziel der Hei­mat­bund­re­gie­rung war die Wie­der­ver­ei­ni­gung mit Deutsch­land, das hei­ßt die Ein­glie­de­rung des Saar­lan­des als Bun­des­land in die Bun­des­re­pu­blik und die Auf­he­bung der Wirt­schafts­uni­on mit Frank­reich. Auch die CVP schloss sich kurz dar­auf die­ser For­de­rung an.[27] 

Frank­reich ak­zep­tier­te das Vo­tum der Saar­län­der, zu Deutsch­land zu­rück­zu­keh­ren, wünsch­te aber wirt­schaft­li­che Ga­ran­ti­en und Kom­pen­sa­tio­nen. In den nach­fol­gen­den Ver­hand­lun­gen mit der Bun­des­re­pu­blik hat Frank­reich in bei­spiel­haf­ter Wei­se das Selbst­be­stim­mungs­recht der Saar­län­der an­er­kannt, und die deut­sche Bun­des­re­gie­rung konn­te den ers­ten Fall ei­ner Wie­der­ver­ei­ni­gung deut­scher Ge­bie­te („Wie­der­ver­ei­ni­gung im Klei­nen“) ver­zeich­nen.

Die deutsch-fran­zö­si­schen Ver­hand­lun­gen über die Zu­kunft des Saar­lan­des en­de­ten am 27.10.1956 in Lu­xem­burg mit dem Saar­ver­trag, in dem als Zu­ge­ständ­nis an Frank­reich un­ter an­de­rem die Schiff­bar­ma­chung der Mo­sel ver­ein­bart wur­de. Das Saar­land soll­te am 1.1.1957 po­li­tisch zu­rück­ge­glie­dert wer­den.[28] 

Der saar­län­di­sche Land­tag er­klär­te dar­auf­hin am 14.10.1956 den Bei­tritt zum Gel­tungs­be­reich des Grund­ge­set­zes ge­mäß Ar­ti­kel 23 Grund­ge­setz. Im Ju­ni 1957 lös­te der neue CDU-Lan­des­vor­sit­zen­de Egon Rei­nert (1908-1959) Hu­bert Ney als Mi­nis­ter­prä­si­dent ab. Als Rei­nert am 23.4.1959 töd­lich ver­un­glück­te, folg­te ihm Franz Jo­sef Rö­der (1909-1979) im April 1959 nach. Er ver­starb im Amt am 25.6.1979.

Wäh­rend ei­ner Über­gangs­zeit blieb die Wäh­rungs- und Wirt­schafts­uni­on mit Frank­reich be­ste­hen. Am 6.7.1959 er­folg­te die Wäh­rungs­um­stel­lung. Die neue D-Mark brach­te dem Saar­land zum fünf­ten Mal in 40 Jah­ren ei­ne neue Wäh­rung. Die saar­län­di­sche Son­der­ent­wick­lung in den 1940er und 50er Jah­ren er­for­der­te ei­ne um­fang­rei­che Ge­setz­ge­bung auf al­len Ge­bie­ten, um die Po­li­tik der Ei­gen­staat­lich­keit und des fran­zö­si­schen Ein­flus­ses zu til­gen und die recht­li­che An­glei­chung an die west­deut­sche Ent­wick­lung zu er­rei­chen. Wich­ti­ge Ge­set­ze wa­ren un­ter an­de­rem das Kom­mu­nal­selbst­ver­wal­tungs­ge­setz, das Rund­funk­ge­setz, das Rich­ter­ge­setz und das Lan­des­or­ga­ni­sa­ti­ons­ge­setz über die all­ge­mei­ne Lan­des­ver­wal­tung. In der zwei­ten Hälf­te der 1960er Jah­re be­weg­te die Dis­kus­si­on um die christ­li­che Ge­mein­schafts­schu­le und die kon­fes­sio­nel­le Leh­rer­bil­dung die Ge­mü­ter. In teil­wei­se un­gu­ter Er­in­ne­rung ge­blie­ben ist die Ge­biets- und Ver­wal­tungs­re­form von 1974.[29] 

Wirt­schaft­lich war die Zeit vor dem Tag X ge­prägt von der Sor­ge um die Wah­rung des so­zia­len Be­sitz­stan­des und der Um­ori­en­tie­rung auf den deut­schen Markt. Die wirt­schaft­li­che Ein­glie­de­rung erst nach ei­ner Über­gangs­zeit er­mög­lich­te die be­hut­sa­me Lö­sung aus der pro­tek­tio­nis­ti­schen fran­zö­si­schen Au­ßen­han­dels­po­li­tik und die Um­ori­en­tie­rung auf neue Ab­satz­ge­bie­te. Letz­te­res brach­te für die hei­mi­sche In­dus­trie gro­ße Mü­hen mit sich. Durch bun­des­deut­sche För­de­run­gen konn­ten je­doch saar­län­di­sche Un­ter­neh­men mo­der­ni­siert und aus­ge­baut wer­den. Die Saar­berg­wer­ke wur­den 1957 wie­der als Ak­ti­en­ge­sell­schaft be­trie­ben, wo­bei der Bund 74 Pro­zent, das Land 26 Pro­zent hielt. Die Stein­koh­le­för­de­rung wur­de stän­dig ver­rin­gert, die För­der­stand­or­te wur­den re­du­ziert. Die 1960er Jah­re wa­ren ge­prägt von der Koh­le­kri­se und Be­mü­hun­gen, die Stand­ort­la­ge der Saar­hüt­ten­in­dus­trie zu ver­bes­sern. Es ge­lan­gen der An­schluss an das deut­sche Au­to­bahn­netz und der Aus­bau des Flug­ha­fens Ens­heim. Eben­so konn­ten An­sied­lungs­er­fol­ge in an­de­ren In­dus­trie­zwei­gen au­ßer­halb der tra­di­tio­nel­len Mon­tan­in­dus­trie ge­fei­ert wer­den. Die ge­wünsch­te Ko­ope­ra­ti­on im Zei­chen von Saar-Lor-Lux ließ je­doch da­mals wie heu­te zu wün­schen üb­rig.[30] 

5. Was bleibt? – Zur Bewertung des Abstimmungskampfes

Die po­li­ti­schen Kon­se­quen­zen des „Nein“ am 23. Ok­to­ber wa­ren fol­gen­de:[31] 

  • Mi­nis­ter­prä­si­dent Hoff­mann war der per­sön­li­che Ver­lie­rer der Ab­stim­mung: ge­gen sei­ne Per­son und Po­li­tik hat­ten sich die An­grif­fe der Nein-Sa­ger ge­rich­tet. Er trat von der po­li­ti­schen Büh­ne ab.

  • Die so­ge­nann­ten deut­schen Par­tei­en des Hei­mat­bun­des – in den Jah­ren zu­vor noch il­le­gal tä­tig und ver­bo­ten – wa­ren zum stärks­ten po­li­ti­schen Macht­fak­tor ge­wor­den. Sie be­stimm­ten fort­an die Po­li­tik in Saar­brü­cken.

  • Der deutsch-fran­zö­si­sche Ver­such, das Saar­pro­blem durch ei­ne „Eu­ro­päi­sie­run­g“ zu lö­sen, war ge­schei­tert. Die Eu­ro­pa-Idee hat­te ei­ne wei­te­re Nie­der­la­ge er­lit­ten.

  • Das Ab­stim­mungs­er­geb­nis – in Ver­bin­dung mit den Pa­ro­len des drei­mo­na­ti­gen Ab­stim­mungs­kamp­fes – zeig­te, dass die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Be­völ­ke­rung zu Deutsch­land zu­rück­keh­ren woll­te. Das Saar­land wur­de deut­sches Bun­des­land – die Wie­der­ver­ei­ni­gung im Klei­nen war ge­lun­gen. 

Im Saar­land hat­te sich ein Macht­wech­sel von grö­ß­ter Trag­wei­te voll­zo­gen, Ver­tre­ter von Par­tei­en, die jah­re­lang zu­vor noch ver­bo­ten ge­we­sen wa­ren und in der Il­le­ga­li­tät ar­bei­ten muss­ten, hat­ten gleich­sam über­gangs­los Po­li­ti­ker ab­ge­löst, de­ren Herr­schaft fast zehn Jah­re un­ge­fähr­det ge­we­sen war. Die La­ger des Ab­stim­mungs­kamp­fes stan­den sich je­doch im­mer noch ge­gen­über. Ob­wohl die Ein­sicht in die Not­wen­dig­keit auf­ein­an­der zu­zu­ge­hen wuchs, dau­er­te es noch mehr als drei Jah­re, bis bei­spiels­wei­se die Ein­heit des christ­li­chen La­gers von CDU und CVP er­reicht wur­de.

Der über­wäl­ti­gen­de Sieg des Nein ist nicht aus den Er­eig­nis­sen des drei­mo­na­ti­gen Ab­stim­mungs­kamp­fes zu er­klä­ren. Ihm war ein schon seit Jah­ren, et­wa 1950/1951 be­gin­nen­der län­ger­fris­ti­ger po­li­ti­scher Stim­mungs­wan­del vor­an­ge­gan­gen. Fünf Fak­to­ren ga­ben den Aus­schlag:

  • Die wach­sen­de wirt­schaft­li­che und po­li­tisch-na­tio­na­le At­trak­ti­vi­tät der jun­gen Bun­des­re­pu­blik, die ih­ren sicht­ba­ren sym­bo­li­schen Aus­druck fand im Fuß­ball­welt­meis­ter­sieg 1954 in Bern und dem Ge­fühl: „Wir sind wie­der wer“. Die all­ge­mei­ne Stim­mung von 1945, ge­prägt von mi­li­tä­ri­scher Nie­der­la­ge, Schuld und Ohn­macht, war ei­nem be­wun­dern­den Blick über die Gren­ze nach Deutsch­land ge­wi­chen. Hin­zu kam die Sog­kraft des deut­schen Wirt­schafts­wun­ders.

  • Die au­to­ri­tär-re­pres­si­ve Re­gie­rung Hoff­mann, die ih­ren Aus­druck fand in der Ver­let­zung de­mo­kra­ti­scher Frei­hei­ten wie der Pres­se-, Mei­nungs-, Ver­samm­lungs­frei­heit.

  • Nach­dem die un­mit­tel­ba­re ma­te­ri­el­le Nach­kriegs­not – Hun­ger, Zer­stö­rung, Woh­nen und Ar­beit – be­ho­ben, Voll­be­schäf­ti­gung er­reicht wor­den war (im Saar­land be­trug 1950 die Ar­beits­lo­sig­keit 2,5 Pro­zent ge­gen­über 12 Pro­zent in der Bun­des­re­pu­blik) und sich das Le­ben im­mer mehr nor­ma­li­siert hat­te, wur­den die An­sprü­che an den jun­gen Saar­staat im­mer hö­her, um­so kri­ti­scher wur­de auch die fran­zö­si­sche Po­li­tik be­trach­tet.

  • Die schwin­den­de An­zie­hungs­kraft und Des­il­lu­sio­nie­rung der eu­ro­päi­schen Idee (er­in­nert sei an das Schei­tern der Eu­ro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­ge­mein­schaft im Au­gust 1954 in der Pa­ri­ser Na­tio­nal­ver­samm­lung). Eu­ro­pa wur­de zu­neh­mend als et­was Abs­trak­tes be­grif­fen, zu­mal eu­ro­päi­sche Na­tio­nen wie ge­ra­de Frank­reich im­mer mehr das Na­tio­na­le be­ton­ten und im­mer we­ni­ger be­reit wa­ren, Kom­pe­ten­zen an ein star­kes Eu­ro­pa ab­zu­ge­ben.

  • Dass sich so­wohl die Kir­chen als auch die Ge­werk­schaf­ten mehr für die Na­ti­on als für Eu­ro­pa aus­spra­chen, tat ein Üb­ri­ges. 

Und den­noch bleibt die An­er­ken­nung für die Leis­tung de­rer, die nach 1945 bis zur Rück­glie­de­rung des Saar­lan­des po­li­tisch Ver­ant­wor­tung tru­gen.
So­wohl der Wie­der­auf­bau als auch die Er­rich­tung ei­nes vor­bild­li­chen So­zi­al­sys­tems und ein reich­hal­ti­ges kul­tu­rel­les Le­ben wa­ren Leis­tun­gen der Po­li­ti­ker um Jo­han­nes Hoff­mann. Al­le Saar­län­der pro­fi­tier­ten von der Öff­nung für die fran­zö­si­sche Kul­tur, dem Be­kennt­nis zu Eu­ro­pa und dem neu ent­stan­de­nen Be­wusst­sein re­gio­na­ler Ei­gen­stän­dig­keit. Erst­mals in ih­rer Ge­schich­te mach­ten sie Er­fah­run­gen mit ei­ner par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie, erst­mals wur­den sie von ein­hei­mi­schen Po­li­ti­kern re­giert. Das Saar­land agier­te auf der in­ter­na­tio­na­len eu­ro­päi­schen Büh­ne, war im Eu­ro­pa­rat ver­tre­ten und ent­sand­te 1952 ei­ne ei­ge­ne Olym­pia­mann­schaft nach Hel­sin­ki. Auch die Grün­dung der Uni­ver­si­tät Saar­brü­cken, von Kunst- und Mu­sik­hoch­schu­le, der Aus­bau re­gio­na­ler Rund­funk- und Fern­seh­an­stal­ten un­ter­stri­chen die­sen An­spruch auf staat­li­che Selbst­ge­stal­tung. 

Schlie­ß­lich bleibt als viel­leicht wich­tigs­te Tat­sa­che, die mit dem Ab­stim­mungs­kampf ver­bun­den ist, dass die Saar­be­völ­ke­rung erst­mals in ih­rer Ge­schich­te ab­stim­men konn­te, mit­hin ein Sieg des Selbst­be­stim­mungs­rech­tes der Völ­ker an der Saar mit dem 23.10. ge­fei­ert wer­den durf­te.

6. Quellen

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Nach­lass Bür­ger­meis­ter Ge­org Bleif, im Pri­vat­ar­chiv des Ver­fas­sers.

Neu­es­te Nach­rich­ten. 

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Plakat der Deutschen Sozialdemokratischen Partei (DSP) zum Referendum, 1955. (Landesarchiv Saarbrücken/ Plakat 93 1)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Gestier, Markus, Abstimmungskampf und Rückgliederung des Saarlandes 1955-1959, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/abstimmungskampf-und-rueckgliederung-des-saarlandes-1955-1959/DE-2086/lido/67d197c45a3ad8.41684901 (abgerufen am 28.03.2025)

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 13.03.2025