Die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland in der provisorischen Hauptstadt Bonn 1949/1950
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1. Einleitung
Am 10.5.1949 entschied sich der Parlamentarische Rat mit knapper Mehrheit für Bonn als vorläufigen Sitz des neuen westdeutschen Staates. Drei Monate später sollten die ersten Bundestagswahlen stattfinden, in der zweiten Septemberwoche die 402 frischgebackenen Parlamentarier und die Bundesratsvertreter anrücken. Bundesversammlung, Kanzlerwahl, Regierungsbildung und Arbeitsaufnahme der Ministerien waren die nächsten Schritte. Es blieben also ganze vier Monate, um in der kleinen Universitätsstadt am Rhein die Voraussetzungen zu schaffen. Zum Vergleich: Seit dem Verlegungsbeschluss von 1991 vergingen mehr als sieben Jahre, bevor die ersten Umzüge nach Berlin stattfanden. Und wo sich seinerzeit ein komplettes Ministerium um die Organisation kümmerte, befand sich 1949 buchstäblich nichts. Denn eine Bundesregierung existierte am 10. Mai noch nicht. Ihre Geburt stand sogar ziemlich weit am Ende der Staatsgründung.
2. Büro Bundeshauptstadt
Neben der hoch motivierten Bonner Stadtverwaltung fiel die Helferrolle dem Vorbereitungsland Nordrhein-Westfalen zu. Ministerpräsident Karl Arnold bildete einen besonderen Arbeitsstab in Bonn, das „Büro Bundeshauptstadt“. Die Leitung übertrug er Hermann Wandersleb, der als Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei seinerzeit die viel gelobten Arbeitsbedingungen des Parlamentarischen Rates geschaffen hatte. Der neue Mann war für sein Tempo berüchtigt, befand sich fast ständig in Bonn und Bad Godesberg (heute Stadt Bonn), warb das benötigte Personal an und schloss eigenverantwortlich zahlreiche Verträge ab.
Anfängliche Kompetenzstreitigkeiten wichen schnell einer vorbildlich engen Zusammenarbeit. Am 13. Juni vereinbarte man wöchentliche Samstagsbesprechungen aller Abteilungsleiter des Büros zusammen mit Vertretern der Stadtverwaltung und Oberstadtdirektor Johannes Langendörfer (1891-1985). Als Wandersleb Ende Juli häufig zu Verhandlungen nach Süddeutschland fuhr, ernannte er den Bonner Verwaltungschef zu seinem Stellvertreter und übertrug ihm das Recht, unaufschiebbare Entscheidungen zu treffen. Am 12. Juli erweiterte NRW-Wiederaufbauminister Fritz Steinhoff (1897-1969) die Kompetenzen des Büros Bundeshauptstadt per Erlass. „Sämtliche Landesbehörden [sollten] das Bauvorhaben Bundeshauptstadt mit Vorrang ... behandeln“. Die Behördenleiter waren angewiesen, „die betreffenden Arbeiten durch qualifizierte und zahlenmäßig ausreichende Kräfte erledigen zu lassen“.
3. Hauptstadt auf Widerruf
Je länger die Arbeit des Parlamentarischen Rates zurücklag, desto geringer wurde die Neigung, seine Bundessitzentscheidung vom 10.55.1948 zugunsten Bonns als verbindlich anzuerkennen. Unter Führung Hessens zogen einige Länder gar die Legitimität des Beschlusses selbst in Zweifel, indem sie der verfassungsgebenden Versammlung nun nachträglich die Berechtigung absprachen, über den Gegenstand zu befinden. Mit der Mehrheit der Ministerpräsidenten wurde die endgültige Entscheidung auf die Zeit nach der Wahl zum ersten Bundestag vertagt.
Am 30.6.1949, mehr als sieben Wochen nach der erneut umstrittenen Bestimmung Bonns zur provisorischen Hauptstadt, machten die Militärgouverneure der Bizone gegenüber den Ministerpräsidenten ihrem Unmut deutlich Luft. Als Verantwortlicher für die britische Zone, in der Bonn lag, nannte General Brian Robertson (1896-1974) die Situation „würdelos“. Sollten die Verantwortlichen dieses vergleichsweise kleine Problem nicht lösen können, müsse man an ihrer Kompetenz zur Bewältigung ungleich schwierigerer Fragen zweifeln.
Die Bundessitzfrage blieb jedoch weiterhin offen. Erhebliche Auswirkungen auf die praktische Vorbereitungsarbeit in Bonn kam dem Entschluss zu, die Vorbereitungen auf „das Maß zu beschränken, das erforderlich ist, um den ordnungsgemäßen Beginn der Tätigkeit der Bundesorgane zu gewährleisten“. Dieser Passus sollte in der Tat bei der praktischen Vorbereitung Bonns auf seine Aufgabe erhebliche Probleme bereiten und später immer wieder auftauchen, wenn Pannen einzuräumen oder Verzögerungen zu rechtfertigen waren. Dennoch hatten die Bonn-Gegner ein Ziel nicht erreicht: Der Bundestag, von dem nun jede weitere Entscheidung abhing, würde nach erfolgter Wahl zu seiner Konstituierung in jedem Falle am Rhein zusammentreten, eine weitere Abstimmung war nicht zwingend vorgeschrieben, lag jedoch im Ermessen des ersten westdeutschen Nachkriegsparlaments.
4. Die Taktik der Bonn-Befürworter
„Die Bundesregierung dürfe ... nicht mit der Raumpleite anfangen“, hatte Adenauer am 27.4.1949 im Parlamentarischen Rat gewarnt, eine prophetische Vorwegnahme der später tatsächlich eingetretenen Misere. Die äußerst knappen Finanzmittel und die missliche Tatsache, dass der Hauptstadtbeschluss des Verfassungsgremiums vom 10.5.1949 gestürzt werden konnte, legten den Bonn-Befürwortern nahe, in ihren Planungen mit zwei unterschiedlichen Zeithorizonten zu arbeiten. Erstes Etappenziel musste eine gelungene Konstitution von Bundestag und Bundesrat sein, unmittelbar gefolgt von einem reibungslosen Ablauf der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung. Nur durch die Überzeugung einer Mehrheit der entscheidungsberechtigten Bundestagsabgeordneten konnte schließlich ein Verlegungsbeschluss nach Frankfurt verhindert werden. Nach der Konstitution der Bundesorgane galt es dann wiederum sich Zeit zu verschaffen, um in einem zweiten Kraftakt die beiden wirklich heiklen Punkte des Bonner Unterbringungskonzepts - Ministerien und Wohnungen - anzugehen.
Auch hier ist Adenauers Kalkül, die endgültige Abstimmung nicht auf eine emotionsgeladene Bundestagsdebatte folgen zu lassen, sondern zunächst einen Prüfungsausschuss vorzuschalten, voll aufgegangen: Am 3.11.1949 sprach sich eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten gegen eine Verlegung des Bundessitzes aus. Große Teile der CDU/CSU folgten der Argumentation des Kanzlers, der junge Staat müsse auch in der Hauptstadtfrage seine Distanz zur Bizone und ihren Frankfurter Organen herausstellen.
5. Der Parlamentskomplex
Während des Hauptstadtstreits war er der manifeste Trumpf Bonns, jener weiße Bundestagskomplex an der Flussbiegung dem Siebengebirge gegenüber. Und besonders herausgestellt im Wettlauf mit der Mainmetropole wurde der großzügige Plenarsaal. Der Arbeitsplatz für die umworbenen Abgeordneten gehörte zum Feinsten, was im zerstörten und bitterarmen Nachkriegsdeutschland aufzubieten war. Das örtliche Vorbereitungsteam kam überein, die ehemalige Lehrerakademie fortan konsequent „Bundeshaus“ zu nennen. Nordrhein-Westfalen investierte auf eigenes Risiko großzügig in den Um- und Ausbau. Denn hätte man die von den Ministerpräsidenten erhaltene Vorbereitungsaufgabe zu restriktiv gehandhabt, wären im September 1949 Unzulänglichkeiten wahrscheinlich und Pannen zu befürchten gewesen. Dann konnte es heißen, die 100.000-Einwohner-Stadt habe erwartungsgemäß bereits im ersten Testlauf ihre fehlende Eignung hinlänglich bewiesen, und unter dem frischen Eindruck schlechter Arbeits- und Wohnbedingungen hätten die neuen Bundestagsabgeordneten den schnellstmöglichen Fortzug nach Frankfurt beschlossen.
Ursprünglich hatte Architekt Hans Schwippert (1899-1973) im Inneren des Plenarsaals eine kreisrunde Sitzordnung vorgesehen. Für die Regierung war ein Sektor des Kreises gedacht, ein Rednerpult fehlte, alle Redner sollten von ihren Plätzen aus sprechen. Regierung und Opposition in einem parlamentarischen Rund vereinigt, die vorweggenommene Idee einer Politik des „runden Tisches“, solch radikale Traditionsbrüche waren nicht mit Adenauers Vorstellungen eines politischen Wiederbeginns zu vereinbaren. In seinen Augen war es unerlässlich, an Traditionslinien der Vorkriegszeit anzuknüpfen, auch um die Jahre der NS-Diktatur zu relativieren. Wo Schwipperts ursprüngliches Konzept einen Neuanfang wagte, wollte Adenauer den jungen Staat wegen seiner noch stark beschränkten Souveränität zumindest nach außen als ernstzunehmende Größe ausgestattet sehen.
Weitgehend durchsetzen konnte der Architekt seine Vorstellungen bei der Konstruktion der Bürogebäude. Zwischen dem Bundestagsflügel im Süden und dem für den Bundesrat neu erbauten Nordflügel zog sich in ganzer Länge der eingeschossige Restaurantneubau mit seiner Glasfront zur Rheinseite hin. Seine Fenstertüren öffneten sich auf eine große Gartenterrasse. Mit einem Fassungsvermögen von 800 bis 1.000 Personen war das Restaurant ausgesprochen groß dimensioniert. Eine endgültige Unterteilung unterblieb zunächst, „um den entsprechenden Anordnungen des oder der künftigen Hausherren nicht vorzugreifen“.
6. Bundestagswahl 1949
Härte und Grobheit in der Verteufelung des politischen Gegners kennzeichnen den ersten Bundestagswahlkampf in der Wochen vor dem 14.8.1949, und zahlreiche Beobachter befürchteten für die kommende Parlamentsarbeit bereits die Fortsetzung Weimarer Praktiken unseligen Andenkens. Die unter der Flagge der Sozialen Marktwirtschaft angetretene CDU entsandte - zusammen mit der bayerischen Schwesterpartei CSU - insgesamt 139 Abgeordnete nach Bonn. Der Vorsprung gegenüber der SPD (131 Abgeordnete) war gering, doch ließ das gute Ergebnis der überwiegend nationalliberal geprägten FDP unter Einbeziehung der Deutschen Partei aus Niedersachsen immerhin rein rechnerisch die Fortsetzung der im Wirtschaftsrat erprobten bürgerlichen Koalition zu. 49 Abgeordnete brachten bereits Erfahrungen aus dem Bizonenparlament ein, damit war fast die Hälfte der Mitglieder des Frankfurter Wirtschaftsrates in den Bundestag gewählt worden.
7. Die Konstitution des Bundesrates
Am 6.9.1949 hatte man alle Abgeordneten untergebracht und für Notfälle noch einige freie Hotelzimmer reserviert. Stadt und Landkreis Bonn forderten in einem gemeinsamen Presseaufruf die Bevölkerung auf, ein Meer von Bundesfahnen zu hissen und „in würdevoller Feierlichkeit“ am politischen Neuanfang Anteil zu nehmen. Der Tag der Konstituierung der westdeutschen Legislativorgane am 7.9.1949 begann um neun Uhr mit Gottesdiensten der verschiedenen Konfessionen. Es folgte um elf Uhr der Zusammentritt des Bundesrates. Karl Arnold (CDU), Ministerpräsident des gastgebenden NRW, wurde zum ersten Präsidenten gewählt. Unbestreitbar litt die Institution Bundesrat an einer - verglichen mit dem Bundestag - unzulänglichen personellen, räumlichen und technischen Ausstattung. Dies begann mit dem vom Parlamentarischen Rat übernommenen Plenarsaal, der Aula der früheren Pädagogischen Akademie. Zur ungünstigen Sitzanordnung für die Bundesratsmitglieder und der schlechten Akustik traten eine mangelhafte Belüftung und Beleuchtung. Ausschussberatungen mussten angesichts knapper geeigneter Räume zuweilen in Hotels oder Gaststätten stattfinden.
8. Konstitution des Bundestages
Für den ersten Zusammentritt des Bundestages hatten die vorbereitenden Ministerpräsidenten „größere Feierlichkeit vorgesehen“, und entsprechend stärkere öffentliche Beachtung fand die Eröffnungsfeier. Ein nächtliches Gewitter hatte die Treibhausatmosphäre, die mit dem Bonner Politikbetrieb später gern assoziiert werden sollte, beseitigt, und pünktlich zum Nachmittag hellte der Himmel wieder auf, so dass zahlreiche Schaulustige an den Zufahrtsstraßen die Ankunft der Prominenz erleben konnten. Im Plenarsaal war die noch unbesetzte Regierungsbank mit bunten Blumensträußen geschmückt. Rechts davon bildeten die künftigen Hohen Kommissare der drei westlichen Siegermächte und ihre Begleitungen eine Gruppe für sich. Von der Bundesratsbank aus wohnten die Ministerpräsidenten der Veranstaltung bei. In der ersten Reihe der Abgeordneten erkannten die Zuschauer die aus den Kundgebungen des Wahlkampfes bekannten Gesichter.
Dass die SPD - angesichts des rein formalen Charakters der konstituierenden Sitzung unerwartet - einige Anträge zum Thema Demontage stellte, musste die geladenen Vertreter der Besatzungsmächte befremden. In den Auswirkungen harmloser, wenngleich ebenso Ausdruck einer nicht zu leugnenden Verbissenheit, war Ollenhauers Ankündigung, in der ersten Arbeitssitzung des Hauses einen Antrag zur Verlegung des Bundessitzes nach Frankfurt stellen zu wollen.
Im Anschluss an die Konstitution des Ersten Deutschen Bundestages strömten alle Beteiligten in die mit Herbstblumen geschmückten Wandelgänge oder ins hell erleuchtete Bundestagsrestaurant, an dessen Decke Hunderte von Glühbirnen in gelben Metallfassungen „das Gefühl eines Himmels voller leuchtender Sterne vermittelten“. Gerade die vom neuen Bundestag ausgehende nächtliche Helligkeit ist nach einer - auch im wörtlichen Sinne – „finsteren“ Zeit von Beobachtern immer wieder angesprochen worden. Selbst Kinder erwähnten dies in ihrem Schulaufsatz: „Am Abend brannten viele Lampen und der große neu gebaute Saal war so hell wie am Tage. Die Lichter brannten bis in die späte Nacht“.
Mit der Übergabe des Bundeshauses an die Vertreter beider Häuser des Parlaments durch Ministerpräsident Arnold endete - unbeschadet der später zu regelnden Eigentumsfrage - die Verantwortung des Landes Nordrhein-Westfalen für den Gebäudekomplex. Eine missliche Folge der Übereignung war der abnehmende Einfluss des verantwortlichen Architekten auf den Abschluss der Inneneinrichtung beziehungsweise die Beachtung seines Gesamtkonzepts. Teile der erst in letzter Minute gelieferten Ausstattung konnten wegen „ungeregelte(r) Ingebrauchnahme“ nicht ordnungsgemäß auf die Räume verteilt werden. Überhaupt herrschte, so Schwipperts beredte Klage, „hinsichtlich der Verwendung der nicht endgültig ... aufgestellten und verteilten Einrichtungsstücke im Hause zur Zeit weitgehend Faustrecht“.
9. 12.9.1949: Wahl des Bundespräsidenten
Die Wahl des Liberalen Theodor Heuss (1884-1963) zum ersten Bundespräsidenten am 12.9.1949 war ein Eckpfeiler der von Adenauer betriebenen bürgerlichen Vierparteienkoalition. Für die vorbereitenden Gremien vor Ort bedeutete die Unterbringung der Bundesversammlung die größte Herausforderung des gesamten Gründungsmarathons. Zudem zog die Wahl des Staatsoberhauptes auch die mit Abstand größte Zahl von Zuschauern an. Das war durchaus gewollt, konnte doch die massenhafte begeisterte Anteilnahme der Bürger an dem, was sich vor ihren Augen vollzog, den Anspruch auf die Hauptstadtwürde untermauern. Die Verwaltungen riefen durch die Zeitungen dazu auf, die „Häuser in festlichem Gewand zu zeigen und durch Aushängen von Fahnen den Bundespräsidenten auf seinem Weg durch die Stadt zu ehren“.
Auf dem Bonner Marktplatz vorzögerte der unerwartet notwendig gewordene zweite Wahlgang den vorgesehenen Programmablauf. Schon am Vormittag hatte man die Rathaustreppe, von der Gottfried Kinkel 1848 die Fahne des neuen Deutschland entrollt hatte, mit frischem Grün geschmückt, soweit möglich auch die noch vorhandenen Ruinen unter Blätterwerk verborgen. Circa 30.000 Menschen sollen auf dem Platz und in den angrenzenden Straßen versammelt gewesen sein. Um 19.30 Uhr markierte das Läuten aller Bonner Kirchenglocken den Abschluss des Wahlaktes. Oberbürgermeister Peter Stockhausen (Amtszeit 1948-1951), zum ersten Mal nach dem Krieg mit der geretteten goldenen Amtskette des Stadtoberhauptes angetan, geleitete Heuss vom Wagen zu den Stufen der Rathaustreppe. In seiner Rede knüpfte der Gewählte an die 1848er Traditionen an, nannte die für die deutsche Geschichte so spezifischen Höhen und Tiefen und den Willen zum Neuanfang „nach der Vorarbeit, die an Bonns Namen geknüpft bleibt“.
Während die Villa Hammerschmidt am Rhein zum Präsidentenpalais umgebaut wurde, lebte die Familie Heuss fast ein Jahr auf der Viktorshöhe in Bad Godesberg, einem ehemaligen Eisenbahner-Erholungsheim. Die beanspruchten drei Zimmer im oberen Stockwerk boten noch nicht einmal Platz für die große Bibliothek des Literaten. Die übrigen Räume des Gebäudes belegten die mehr als 60 Mitarbeiter.
10. Regierungsbildung
Das knappe Abstimmungsergebnis am 15. September im Bundestag - Adenauer erreichte exakt die notwendige Mehrheit von 202 Stimmen - bestätigte diejenigen, denen die parlamentarische Basis der ersten Nachkriegsregierung zu schmal erschien. Der Kanzler blieb gelassen. In Rhöndorf erwartete ihn ein großer Fackelzug, der nächste Tag begann mit dem Empfang der Ernennungsurkunde aus den Händen des Bundespräsidenten auf der Viktorshöhe, dann folgte die Arbeitsaufnahme im Museum Koenig.
Die Auswahl der Minister fiel nach seiner Auffassung allein in die Kompetenz des Kanzlers, wenn er natürlich um Zugeständnisse gegenüber Fraktion und Koalitionspartnern und die Berücksichtigung des konfessionellen und regionalen Proporzes nicht herumkam. Für distanzierte Betrachter stellten sich die Personalentscheidungen als faszinierende menschliche Komödie dar, die zwischen den ausgestopften Tieren des zoologischen Museums eine umso wirkungsvollere Bühne fand.
Große Namen aus der deutschen Politik fand man vor diesem Hintergrund unter den Ministern kaum; kein Ministerpräsident eines Landes, kein Vorsitzender eines CDU-Landesverbandes wurde berücksichtigt. Mit Ausnahme des politisch gewichtigen Finanzministers Fritz Schäffer (1888-1967), den Adenauer bald zur Abwehr unerwünschter Ausgabenwünsche und Forderungen einsetzte, hatte kein Kabinettsmitglied in der Zeit der Weimarer Republik ein Ministeramt innegehabt. Und sieht man von Jakob Kaiser (1888-1961) und Hans Lukaschek (1885-1960) ab, hatten sich die übrigen Minister vor 1933 allesamt in weniger wichtigen Positionen (Staatsdienst, Verbände, Wirtschaft) befunden. Politisch trat diese Gruppe erst nach 1945 hervor. Ein Sonderfall war der im Wahlkampf stark herausgestellte Ludwig Erhard (1897-1977), doch hemmten diesen seine bekanntermaßen geringen Qualitäten als Leiter der Mammutbehörde. Immerhin besaßen sieben der 13 Bundesminister Erfahrungen aus der bizonalen Administration; vier Chefs der übernommenen Frankfurter Ämter blieben auch in Bonn an der Spitze der entsprechenden Ressorts. Sieht man von Innenminister Gustav Heinemann ab, den ihm die Fraktion aufzwang, hatte Adenauer nur ihm genehme Minister um sich versammelt, Männer, die sich letztlich seiner politischen Erfahrung und Autorität beugen und die von ihm beanspruchte herausgehobene Stellung an der Spitze der Regierung respektieren würden.
11. Kanzleramt im Palais Schaumburg
Schon zeitgenössische Kritiker konstatierten zornig, wie gut der Kanzler doch für sich selbst gesorgt hatte. Ohne Rücksicht auf Kosten betrieb Adenauer den sofortigen Umbau des Palais Schaumburg, missachtete dabei sowohl Vergabegrundsätze im Bauwesen als auch geltendes Haushaltsrecht.
Andererseits war das naturhistorische Museum Koenig, sein vorläufiger Dienstsitz, für diesen Zweck schlicht ungeeignet. Selbst für Kabinettssitzungen taugte es nicht. Vor allem war es die groteske Umgebung, die Adenauers Verständnis von bescheidener, aber doch kompromisslos würdiger Repräsentation zuwiderlief. Und wenn der Kanzler über das ‚Jetier’ nörgelte, das er auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz zwangsläufig passieren musste, fragte er sich, wie das ganze wohl auf Außenstehende wirken mochte. „Ein wenig seltsam war es schon, wenn man bei jedem Besuch beim Bundeskanzler erst einmal an dem ausgestopften Großwild vorbeizog“, beschreibt Eugen Gerstenmaier das Ambiente. Die Vorstellung, in einer solchen Umgebung mit ausländischen Spitzenpolitikern Gespräche führen zu müssen, ängstigte Adenauer. Der noble Bau des Palais Schaumburg dagegen mit seiner klassizistischen Fassade hob sich wohltuend ab von der erdrückenden Wucht des spätwilhelminischen Museumsklotzes. Nur in seinem neuen Domizil wollte der Kanzler den französischen Außenminister bei seinem ersten Besuch in Bonn empfangen, und so wurde alles getan, um die benötigten Räumlichkeiten zumindest provisorisch herzurichten.
12. Ministerien in Kasernen
Die 13 Ministerien, mit denen Adenauer begann, waren mehr Produkt einer schwierigen Koalitionsarithmetik als tatsächlich notwendig: Die Planungen hatten stets acht Ressorts vorgesehen. In Bonn wurde es jetzt eng, zumal die Bundesbeamten ja nicht nur Bürofläche, sondern auch Wohnungen erwarteten. Allein neun der 13 Ressorts nahmen im September 1949 ihre Tätigkeit in zwei aneinandergrenzenden Kasernenkomplexen an der (Grau-)Rheindorfer Straße im Norden der Stadt auf. Dieser Standort kann also mit Recht als die eigentliche Wiege der Bundesministerien in Bonn gelten. Historisch handelt es sich im nördlichen Teil des Komplexes (Rheindorfer Straße 198) um die 1913 errichtete „Düppel-(Artillerie)Kaserne“. Das Gebäude hatte ursprünglich als Landespolizeischule gedient. Zum endgültigen Nutzer war das Innenministerium bestimmt worden. Vorläufig beherbergte der Komplex 1949 zusätzlich die im Aufbau befindlichen Ressorts Arbeit, Justiz und Vertriebenenangelegenheiten. Auch eine oberflächliche Renovierung konnte die ursprüngliche Bestimmung nicht verdecken, vor allem die endlosen Korridore mit ihren grauen Steinfliesen und den Gewehrnischen neben den Eingängen zu den einstigen Mannschaftsstuben wirkten wenig einladend. Minister Heinemann, der überzeugte Zivilist, bestellte zum Ausgleich im heimatlichen Essen eine aufwendige Inneneinrichtung. Sein Ressort hatte keinen unmittelbaren Vorgänger unter den bizonalen Verwaltungen im Raum Frankfurt. Es musste in Bonn völlig neu aufgebaut werden und ist ein treffliches Beispiel für die grotesk unterschätzten Beschäftigtenzahlen: Heinemann war anfangs der Auffassung, das Bundesinnenministerium mit höchstens 60 Mitarbeitern führen zu können!
Zum zweiten Teil des vorläufigen Bonner Ministeriumskomplexes in der Rheindorfer Straße (Nr. 196) wurde das südlich der Polizeischule gelegene „Doppelmannschaftshaus“, ein 1938 begonnenes lang gestrecktes Kasernengebäude, bei Kriegsausbruch noch unvollendet, nach 1945 als neues Bonner Finanzamt vorgesehen. Endgültig sollte hier das Bundesfinanzministerium arbeiten, für eine Übergangszeit erhielt Hausherr Fritz Schäffer die Aufbaustäbe der Ressorts Ernährung/Landwirtschaft/Forsten, Wirtschaft, Bau und Post einquartiert.
Allein vier der insgesamt sieben in der Rheindorfer Straße provisorisch untergekommenen Ministerien konnten im Laufe des Jahres 1950 die beiden Großkasernen im benachbarten Duisdorf (heute Stadt Bonn) beziehen. Die im Rahmen der NS-Aufrüstungspolitik errichteten Anlagen deckten damit fast die Hälfte des Raumbedarfs des ersten Jahres ab. Während die Ressorts Arbeit und Ernährung/Landwirtschaft/Forsten in der Troilo-Kaserne genug Platz fanden und gut miteinander auskamen, verdrängte das stark expandierende Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard das wesentlich kleinere Wohnungsbauressort aus der Gallwitzkaserne nach Bad Godesberg-Mehlem, wo die Amerikaner nach Wiederherstellung der westdeutschen Souveränität ihre Büros im Schloss Deichmannsaue räumten.
13. Provisorien und Neubauten
Wesentlich früher schon verließ das Vertriebenenministerium sein Zwischenquartier. Wegen des starken Publikumsverkehrs verweigerte Vertriebenenminister Lukaschek den vorgesehenen Umzug ins abgelegene Duisdorf. Inzwischen hatte die Bundesbaudirektion die 1883 eingeweihte Ermekeilkaserne in der Bonner Südstadt gründlich umgebaut. Angesichts seines Alters nur als Reserveunterkunft bereitgehalten, wurde das Gebäude bald zum vorübergehenden Domizil all jener Stellen, die in den ursprünglichen Planungen gar nicht vorgesehen waren. Doch auch hier konnte das Ministerium nicht endgültig bleiben. Es musste vor der neu eingerichteten „Dienststelle Blank“, dem Vorläufer des Verteidigungsministeriums weichen, erhielt jedoch seinen neuen Dienstsitz in einem ausgesprochen originellen Ambiente: Der frühere Körnerspeicher der weitgehend zerstörten Husarenkaserne im Bonner Norden wurde zu einem fünfstöckigen Verwaltungsgebäude umgebaut.
Das Postministerium hingegen hielt hartnäckig an seinen unzureichenden Räumen im Bonner Stadthaus am Bottlerplatz fest, gab sogar der Stadtverwaltung Kredite zur Wiederherstellung des historischen Rathauses, wo für die verdrängten städtischen Stellen Ersatzraum geschaffen wurde. Die Taktik zahlte sich aus. Da das Ministerium nicht endgültig Gast der Stadt Bonn bleiben konnte, andererseits konsequent den Umzug in ein geräumigeres Provisorium verweigerte, erhielt es einen der seltenen Neubauten: Ende 1954 wurde der in den Formen schlichte, aber dem Raumbedarf angemessene Komplex am Rhein bezogen.
Gleich aus der Rheindorfer Straße in ein endgültiges Quartier zog das Justizministerium. Auch hier hatten die Planer vorgeschlagen, ein weiteres Provisorium zwischenzuschalten. Als sich jedoch kurzfristig die Chance auftat, die 1831 erbaute Rosenburg in Kessenich zu erhalten, griff Minister Thomas Dehler (1897-1967) sofort zu. Die Lösung war nicht nur billiger, sondern bewahrte das Ministerium auch davor, jahrelang über die Stadt verteilt auf den in Aussicht gestellten Neubau warten zu müssen.
Auch Vizekanzler Franz Blücher und sein Marshallplan-Ministerium waren ursprünglich im Museum Koenig untergebracht. Die wenigen Räume reichten zwar für den FDP-Vorsitzenden und einige Mitarbeiter aus, nicht jedoch für alle Dienstkräfte des Ressorts. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt im Bonner Stadthaus beziehungsweise einem der typischen Fertighäuser am Bundeshaus konnte sich der Bund das Haus Carstanjen in (Godesberg-)Plittersdorf sichern.
Einen Sonderfall stellte das Verkehrsministerium dar. Eine lange Phase der Unsicherheit, ob die personalstarke Hauptverwaltung Eisenbahn überhaupt am Bonner Standort angesiedelt werden sollte, verzögerte eine endgültige Lösung. Und so verblieb das Ressort weit länger als vorgesehen im Gebäude der Landwirtschaftskammer. Hans-Christoph Seebohm (1903-1967) und seine Mitarbeiter schätzen den Komfort des großzügigen, zudem völlig unzerstörten Gebäudes. Es war jedoch viel zu klein für die aus der Frankfurter Vorgängerverwaltung nachdrängenden Mitarbeiter, und so mussten in Bonn für einige Abteilungen zusätzliche Räumlichkeiten gefunden werden. Auf diese Weise wurde das Verkehrsministerium Nachmieter auf der Viktorshöhe über Bad Godesberg.
14. Städtebauliche Folgen
Das Unterbringungspuzzle der ersten Bonner Jahre mit seinen ständigen Umzügen hat indes nicht zu einer Konzentration der Ministerien an einer Stelle des Stadtgebietes geführt. Ein solches Ziel wurde auch nicht ansatzweise verfolgt. Zu stark war man der Kosten wegen an der vereinbarten Nutzung bereits vorhandener Bausubstanz orientiert. Diese Politik der „Streuung“ resultierte zum einen in einer beachtlichen Anzahl von Einzelstandorten: die drei „Schlösschen“ (Rosenburg, Haus Carstanjen, Deichmannsaue) sowie die immer noch zur Untermiete in nicht-bundeseigenen Gebäuden arbeitenden Ressorts Verkehr (Landwirtschaftkammer/Viktorshöhe) und Gesamtdeutsche Angelegenheiten (Stadthaus). Darüber hinaus bildeten sich drei Gruppenstandorte heraus: In Duisdorf wurde das reichlich vorhandene Erweiterungspotential der Großkasernen für Behelfsbauten genutzt. Im Bonner Norden errichtete das Bundesfinanzministerium zwischen 1951 und 1953 komplett neue Dienstgebäude. Das freigewordene „Doppelmannschaftshaus“ erhielt das benachbarte Innenministerium. Weniger als fünf Jahre hat es gedauert, bis der lang gezogene Kasernenkomplex, der in den ersten neun Monaten die Kerne von neun Ministerien beherbergt hatte, nun gerade noch den Raumbedarf eines einzigen Ressorts deckte. Die beiden wichtigsten sonstigen Neubauten der frühen 1950er Jahre (Postministerium, Auswärtiges Amt) ergänzten schließlich das bis dahin durch Bundeshaus, Präsidialamt, Kanzleramt, Bundesratsministerium, alliierte Stäbe und einige Landesvertretungen gebildete Parlaments- und Regierungsviertel.
15. Die Alliierte Hohe Kommission
Trotz Mehrheit im Bundestag und Ernennungsurkunde des Staatsoberhauptes konnte Adenauer am 20.9.1949 noch nicht regieren. Das neue Gemeinwesen war nicht souverän. Ihm haftete der Makel einer Gründung unter Vorbehalt an. Für eine unbefristete Übergangsperiode unterlag es der Kontrolle durch die westlichen Siegermächte. Die eigentlichen Herren über Westdeutschland saßen, Vizekönigen ihrer Regierungen gleich, auf dem Petersberg bei Königswinter. Und dass John McCloy (1895-1989) (USA), Sir Brian Robertson (1896-1974) (Großbritannien) und André François-Poncet (1887–1978) (Frankreich) diese ihre Mission als Hohe Kommissare durchaus ernst nehmen würden, hatten sie bereits durch die Auswahl der Kontrollzentrale bewiesen.
Aus dem Luxushotel auf dem Petersberg überwachte der alliierte Kontrollapparat die Vorgänge in Bonn. In der ersten Reihe breit-markant aus dem Rheintal aufragend, jedoch ohne ausgeprägte Bergspitze, so dass erstaunlich viel Platz blieb auf dem Plateau, durch eine gewundene Straße und eine Zahnradbahn erschlossen, gekrönt von einem Luxushotel in majestätischer Lage und mit atemberaubenden Blick über die Hügelkuppen der Eifel nach Westen, dazu kaum mehr als einen Steinwurf weit von Parlament und Regierung: Kein Wunder, dass der Petersberg wie selbstverständlich Herzstück des alliierten Kontrollapparats wurde. „Grandhotel, in perfektem Zustand und wunderbar gelegen, … ein würdiges Ensemble zur Aufnahme der hochgestellten Persönlichkeiten der Kommissionen”, hatten die Franzosen nach dem ersten Rundgang geschwärmt. Unten am Rhein, inmitten des anlaufenden Hauptstadtprovisoriums konnten sie auch nicht amtieren, wollten sie die deutschen Politiker nicht von vorn herein zu Marionetten degradieren. Doch war ein Stück Symbolik durchaus erwünscht: Bei Tage stets den emsigen Bonner Politikbetrieb im Blick, bei Nacht jene provozierende Helligkeit, die den Sitz der Prokonsuln aus dem zeittypischen Dunkel heraushob.
Rechtsgrundlage der einmaligen Doppelherrschaft jener Jahre war das zwischen den Siegern ausgehandelte Besatzungsstatut. Es wurde zeitgleich mit dem Grundgesetz vorgelegt und beendete vier Jahre rechtlicher Unsicherheit. Nach der Kapitulation hatten die Alliierten in historisch beispiellosem Umfang Machtbefugnisse in Deutschland übernommen, sie autoritär ausgeübt, ohne Anerkennung klar definierter Rechtsschranken. In der ersten Phase der Besetzung lag die Staatsgewalt also nahezu ausschließlich auf Seiten der Alliierten. Der zweite Abschnitt war gekennzeichnet durch den allmählichen Aufbau politischer und wirtschaftlicher Verwaltungsstrukturen bis hinauf zur Länderebene; er wurde gekrönt durch die Errichtung der Bizone als Vorform des sich abzeichnenden Weststaates.
Nichts brachte den grundlegenden Wandel im Charakter des Besatzungsregimes besser zum Ausdruck als die Umstellung auf zivile Überwachungsformen. An Stelle der Militärgouverneure entsandten die drei Mächte je einen seiner Regierung verantwortlich unterstellten Hohen Kommissar. Anders als im Fall der Zonenbefehlshaber alter Prägung waren politische und militärische Aufgaben fortan getrennt.
16. Adenauers Antrittsbesuch auf dem Petersberg
Am 20. September stellte Adenauer am Vormittag dem Bundespräsidenten seine komplette Ministerriege vor, mittags fand die erste Kabinettssitzung statt, nach der Vereidigung verlas er die Regierungserklärung vor dem Bundestag. Dann ein förmlicher staatsnotarieller Akt ohne Beispiel: In einem Schreiben an den geschäftsführenden Vorsitzenden der Alliierten Hohen Kommission erklärte Theodor Heuss die Regierungsbildung für abgeschlossen und nannte die Namen der neu ernannten Bundesminister. Das alliierte Protokoll bot eine Ehrengarde am Eingang des Hotels Petersberg auf; vermutlich war es das erste Mal seit Kriegsende, dass deutschen Politikern ein solcher Achtungsbeweis zuteil wurde. Neben den Hochkommissaren warteten im Großen Gesellschaftssaal ihre Stellvertreter, die Berater, die drei Generalsekretäre und die Verbindungsoffiziere. In der eigenmächtigen Beschränkung seiner Delegation auf lediglich fünf begleitende Minister hat Adenauer bewusst dem Gedanken eines schnöden Befehlsempfangs entgegenwirken wollen. Ebenso hat er es peinlich vermieden, die unvermeidliche Überreichung des Besatzungsstatuts in den Mittelpunkt seines Antrittsbesuches stellen zu lassen. In seiner Rede stellte der Kanzler geschickt Dank und Anerkennung für die Hilfe des Westens zu Gunsten des geschlagenen Deutschland an den Anfang seiner Ausführungen, gefolgt von der Absicht, es den Kontrollmächten leicht machen zu wollen, das Besatzungsstatut „in einer großzügigen und maßvollen Weise anzuwenden“, und der Hoffnung, „durch eine entsprechende Handhabung der im Statut gegebenen Revisionsklausel“ eine Beschleunigung der staatlichen Entwicklung zu erreichen.
17. Ländervertretungen
Als am 10.5.1949 der Parlamentarische Rat Bonn zum provisorischen Bundessitz erklärte, hatten in Frankfurt bereits sechs Länder insgesamt circa 6 Millionen Mark in eigene Immobilien investiert. Erstaunlich erscheint dem späteren Betrachter die Selbstverständlichkeit, mit der zunächst Frankfurt als künftiger Sitz der Bundesorgane festzustehen schien. Sogar Nordrhein-Westfalen, das die Berufung Bonns bis an die Grenzen des Möglichen förderte, besaß am Main seit dem 1.1.1949 ein eigenes Landeshaus.
Schon die frühesten Planungen der rheinischen Hauptstadt berücksichtigten den Raumbedarf der Landesvertretungen. Stets ging man dabei von Einzelunterbringung aus; die örtliche Konzentration in einer Art „Bundesländerhaus“ wurde zu keinem Zeitpunkt erwogen. Geeignete Immobilien schienen in ausreichender Zahl vorhanden zu sein, sogar in unmittelbarer Nähe des Parlamentsviertels. Bonn-Planer Wandersleb hatte einfach eine Reihe von Schlösschen und Villen, die eine übereifrige Stadtverwaltung ursprünglich für die künftige Bundesregierung ausgesucht hatte, den künftigen Landesvertretungen zugewiesen.
Bonn profitierte auf der Angebotsseite von seiner Vergangenheit als bevorzugter Altersruhesitz wohlhabender Industrieller und Beamter. Zahlreiche Gebäude der gewünschten Art lagen eingebettet in großzügige Parkanlagen, die wiederum zusätzlichen Raum für eine eventuelle spätere Erweiterung boten. Dennoch standen nur die wenigsten Gebäude den deutschen Planern zur freien Verfügung. Schon die amerikanischen Kampftruppen hatten 1945 bevorzugt Gebäude dieser Kategorie beschlagnahmt, ebenso die Briten in ihrer Nachfolge und dann wieder die Belgier, die 1949 Bonn als eine Art „Subunternehmer“ der Besatzungsmacht verwalteten. Zwar wurde die „Bundeszone“ im Spätherbst vereinbarungsgemäß von Besatzungstruppen geräumt, aber zum einen verzögerte sich der Abzug der belgischen Stäbe, zum anderen behielten sich die Briten als für Bonn verantwortliche Siegermacht die Verfügung über Hunderte von beschlagnahmten Objekten vor. Ihre Freigabe musste in jedem einzelnen Fall von deutschen Stellen erwirkt werden.
18. Presse
Ohne Zweifel brauchte das umstrittene Bonn eine gute Presse. Wie viel auf dem Gebiete der Berichterstattung im Argen lag, zeigt eine der aufwändig gestalteten Broschüren, mit der die Stadt Frankfurt in der heißen Phase des Städtekampfes für ihre Sache warb. Das Heft bestand vorwiegend aus negativen Presseartikeln über die Konkurrentin Bonn. „Besonders gut bedient wird die Presse ... . Daher ist zu hoffen, dass die Presse ihre Kritiken bald einschränkt“, notierte Paul de Chapeaurouge (1876-1952), Mitglied des Parlamentarischen Rates, zum Problembewusstsein vor Ort. Zugegeben, bis zu diesem Zeitpunkt war Bonn kein Zentrum des wieder auferstandenen deutschen Journalismus gewesen; was über die Hauptstädte der neu gebildeten Bundesländer hinausreichte, hatte sich in der Umgebung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zusammengefunden und ab Sommer 1947 vor allem in Frankfurt konzentriert.
Wenig Umzugsneigung zeigten verständlicherweise die alliierten Pressevertreter. Einige von ihnen waren mit den siegreichen Truppen ihrer Länder nach Deutschland gekommen und sollen noch 1949 den privilegierten Status von „allied war correspondents“ genossen haben. In Frankfurt, dem Hauptquartier der amerikanischen Besatzung, fanden diese US-Journalisten ein perfekt auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Wohn- und Versorgungsumfeld vor.
Notwendige Voraussetzung für eine faire Berichterstattung waren auch im kriegszerstörten Deutschland gewisse Mindeststandards bei Büros und Wohnungen. Angesichts der knappen Zeit entschied man sich für vorgefertigte Bürohäuser. Der Hersteller garantierte 15 Jahre Lebensdauer, allemal genug für die geschätzte Zeit des Provisoriums Bonn. Die „Pressebaracken“ oder „Pressehäuser“, wie sie gewöhnlich hießen, da sie verputzt wurden und mit ihren grünen Fensterläden, ihrem Falzziegel-Walmdach und einem Balkon im Obergeschoss ganz manierlich aussahen, überdauerten dann wesentlich länger.
Ende Juli 1949 begannen die Ausschachtungsarbeiten. „Wie Pilze sind diese Bauten dann aus dem Boden gewachsen“, bewunderte die Lokalpresse die hier angewandte Fertigbauweise. Jede Hauseinheit umfasste acht oder zehn Büroräume von durchschnittlich 15 Quadratmeter Fläche, angeblich mit Schallschutz versehen, in der Praxis wohl eher für ihre Hellhörigkeit berüchtigt. Circa 1,7 Millionen Mark ließ sich das Land die Pressehäuser kosten; später würde ein strenger Bundesfinanzminister anzweifeln, ob diese Aufwendungen im Rahmen „Geschäftsführung ohne Auftrag“ für den Bund wirklich notwendig waren.
Auch bei der Wohnraumzuweisung wurden die Journalisten von Anfang an gut bedacht. Über 10 Prozent der vom Land Nordrhein-Westfalen als Erstausstattung geförderten Wohnungen gingen an in- und ausländische Pressevertreter. „Auf die Notwendigkeit, insbesondere die Presse wohnungsmäßig baldmöglichst und angemessen in Bonn unterzubringen, ... hat der Herr Bundeskanzler immer wieder hingewiesen“, verlautete es im März 1950 bestätigend aus dem Bauministerium. Von weiteren Programmen wollte man im Finanzressort allerdings nichts wissen. Auch im Ausland, so die Argumentation, bauten die Regierungen schließlich nicht für fremde Journalisten.
19. Engpass Wohnraum
Die Aufnahmefähigkeit des Raumes Bonn für den zu erwartenden Bundeszuzug war seinerzeit ein wichtiger Aktivposten in der Hauptstadtdiskussion gewesen. Hatten Binnenwanderung und Flüchtlingsaufnahme in den Nachkriegsjahren die Wohnraumdichte im Landesdurchschnitt auf 1,7 Personen pro Raum angsteigen lassen, lag diese wichtige Kennzahl Mitte 1949 in Bonn selbst bei 1,44, in Godesberg mit 1,34 sogar noch ein wenig günstiger. Zwar waren die besseren Objekte durch die Besatzer belegt worden, aber gerade die langandauernde Beschlagnahmung zeigte jetzt bei der Räumung auch eine positive Seite: Ein großer Teil der früheren Eigentümer oder Altmieter hatte sich inzwischen anderswo auf Dauer eingerichtet oder konnte mit Ersatzwohnungen abgefunden werden oder durfte im Rahmen der geltenden Wohnraumbewirtschaftung nur einen Teil des restituierten Besitzes in Anspruch nehmen. Nicht wenige schließlich waren auch aus finanziellen Gründen gar nicht mehr in der Lage, sich den in besseren Zeiten genossenen Wohnluxus zu erlauben.
Hier lag zumindest ein Anfangsbestand vor, der sich zudem laufend durch so genannte „Instandsetzungswohnungen“ ergänzte, teilzerstörte Räumlichkeiten also, die mit vergleichsweise geringen Landes- oder Bundeszuschüssen wieder dem Wohnungsmarkt zugeführt werden konnten. Schon seit Mitte Oktober 1949 genossen bei der Bonner Stadtverwaltung Baugesuche zur Schaffung neuen Wohnraums für Bundesangehörige allerhöchste Priorität. Dennoch kam die Bundesregierung, wollte sie die Ministerien bis Ende 1950 voll aktionsfähig machen, an einer deutlich sichtbaren Eigenbeteiligung nicht vorbei.
Einen Tag nach dem Hauptstadtbeschluss des Bundestages legte der Wohnungsbauminister im Kabinett die Grundzüge seiner Planungen vor. Der Bund selbst trat im Regelfall nicht als Bauherr auf, sondern beauftragte örtliche und überregionale Bau- und Siedlungsgesellschaften. Trotz einer gewissen Einförmigkeit fügten sich die Neubauten harmonisch ins Bild der Universitäts- und Gartenstadt, zum Beispiel durch Ausfüllen vorhandener Baulücken. Soweit geschlossene Siedlungen notwendig waren, wurden sie durch Grünanlagen aufgelockert, wie heute ein Rundgang durch die erhaltenen frühen Bundessiedlungen bestätigt, für monotone Großsiedlungen war im dicht bebauten Bonn ohnehin kein Platz.
Ähnlich wie den städtischen Planungen lag den Siedlungsentwürfen des Bundeswohnungsbaus die Idee eines aufgelockerten und durchgrünten Wohnens zugrunde. Zwei- und dreigeschossige Zeilen mit großen Hausabständen sind häufiger als höhere Gebäudetypen. Eine ungezwungene Art der Aufschließung („gemäßigter Zeilenbau“) vermied die allzu schematische Aneinanderreihung, wie sie in der Zwischenkriegszeit Mode gewesen war. Störungen durch Verkehrslärm wurden reduziert, indem man die Häuser häufig mit den Schmalseiten zu den großen Durchgangsstraßen ausrichtete und durch Wohnwege erschloss. Straßen wurden möglichst geschwungen durch die Siedlungsräume gelegt. Die locker gruppierten Zeilen passten ihre Stellung dem vorhandenem Baumbestand oder dem natürlichen Geländerelief an.
20. Finanzierungsprobleme
Von Anfang an war die Etablierung der Bundesorgane in Bonn begleitet von einer ausgesprochen schlechten Zahlungsmoral der diversen öffentlichen Auftraggeber. „Als die Regierung gebildet wurde, war mein Geld praktisch alle“, charakterisierte der Leiter der Beschaffungsstelle die peinliche Lage. Bürokratische Hindernisse waren eine Ursache, solange sich der Bonner Apparat noch nicht eingespielt hatte. Doch sie erklären nur zum Teil die Rücksichtslosigkeit der Verwaltungsleute gegenüber Handwerkern und Lieferanten. In der frühen Phase, also noch unter der alleinigen Verantwortung Nordrhein-Westfalens, war zweifellos der Tatendrang der Bonn-Planer das gravierendste Problem. Als dann der Bund einzog, verließ sich das Finanzministerium auf die Versprechen des Gastgeberlandes, eigenes Geld für die Einrichtung der Bundesorgane hatte man kaum eingeplant.
Im Dezember 1949 schließlich konnten die Zahlungsschwierigkeiten nicht länger verheimlicht werden. Die Banken waren nicht mehr gewillt, auf die von der Baudirektion ausgegebenen Bescheinigungen über erbrachte Leistungen hin Baufirmen und Handwerkern Kredite einzuräumen. Dasselbe Institut, welches eine Baubescheinigung des Gerling-Konzerns anstandslos kreditierte, verweigerte dies, sobald der entsprechende Nachweis vom Büro Bundeshauptstadt ausgefertigt war. „Es ist natürlich unhaltbar, dass auf dem Rücken der Handwerker die Büros der Bundesregierung finanziert werden“, schimpfte eine Kölner Bank.
21. Eine neue Rolle für Bonn
Auch die Stadt Bonn hat sich über die Mitte der 1950er Jahre hinaus hoch verschuldet, um den Ansprüchen an die Hauptstadtwürde gerecht zu werden. In der Verwaltung und wohl auch im kollektiven Bewusstsein der Bürgerschaft war die Erinnerung an glänzende Epochen der Vergangenheit noch lebendig, schien die einstige kurkölnische Residenzstadt, die berühmte Prinzenuniversität, der Millionärswohnsitz nach wie vor zu Höherem berufen. Ohne dieses Fundament ist nicht verständlich, wie schnell und ohne Selbstzweifel Stadtspitze und Bürger die Chance der provisorischen Bundeshauptstadt ergriffen und gegen riesige Widerstände erst die Kandidatur durchfochten und dann die praktische Umsetzung bewältigten.
Wie Bonn eher zufällig Tagungsort des Parlamentarischen Rates wurde, wie man Gefallen an der Rolle fand und sich den Entscheidungsträgern auch als Sitz von Parlament und Regierung des neuen Weststaates andiente, wie man im „Städtekampf“ des Herbstes 1949 das mächtige Frankfurt mit viel List und teilweise mit den eigenen Waffen schlug, ist oft erzählt worden. Viel Spott und Häme war die Reaktion, als die kleine Stadt am Rhein ihre Versprechungen nicht auf allen Feldern halten konnte, weil man mehr Energie in den Wettkampf als in die Vorbereitungen gesteckt hatte, vor allem, weil Regierung und begleitender Bundestross (Presse, Verbände, ausländische Missionen) personell weit schneller anschwollen als vorausgesehen. Finanzminister Fritz Schäffer hat die an ihren hauptstadtbedingten Sonderausgaben leidende Stadt ausgesprochen knapp gehalten.
Der kluge Haushälter wusste um die heimliche Schwäche der Stadtväter. Wie bereits 1794, 1814 und 1918 suchte Bonn auch nach 1945 eine zukunftsfähige Rolle. Das Hauptstadtprojekt wurde als Chance erkannt, an die alten Glanzzeiten anzuknüpfen und von einer Exklusivfunktion zu profitieren. Das im Frühjahr 1951 verfasste Schlusskapitel zum städtischen Verwaltungsbericht 1945-1950 verdeutlicht die Träume einer Kommune, die sich 1918 bis 1948 auf der Verliererseite gesehen hatte: „Die Bestimmung Bonns zur Bundeshauptstadt hat eine Entwicklung eingeleitet, deren Tragweite sich zur Zeit noch nicht voll übersehen lässt. Die Stadt steht heute am Beginn einer neuen Epoche ihrer wechselvollen Geschichte, ungefähr vergleichbar mit der Zeit vor etwa 200 Jahren, als Kurfürst Clemens August nach der Zerstörung der Stadt durch die Franzosen durch seine Bauten der Stadt ein neues Gepräge gab.“
Literatur
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Vogt, Helmut, Die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland in der provisorischen Hauptstadt Bonn 1949/1950, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-anfaenge-der-bundesrepublik-deutschland-in-der-provisorischen-hauptstadt-bonn-19491950/DE-2086/lido/57d130731aba22.31860853 (abgerufen am 11.11.2024)