Die Saarländische Wirtschaftsvereinigung (1933-1935)
Zu den Kapiteln
1. Einleitung
Die am 21.10.1933 in Saarlouis gegründete Saarländische Wirtschaftsvereinigung (SWV) war eine der mitgliederstärksten frankophilen Organisationen in der Völkerbundzeit des Saargebietes. Hinsichtlich der im Jahre 1935 vorgesehenen Volksabstimmung propagierte sie die Beibehaltung des Status quo. Einen Anschluss an das Dritte Reich lehnte sie entschieden ab. Die für die Vereinsgeschichte zentrale Figur war der in Pachten als praktischer Arzt tätige Jakob Hector (1872-1954). Zu Beginn der Völkerbundzeit (1919/1920) war er Bürgermeister von Saarlouis und von 1920 bis 1923 als Vertreter der saarländischen Bevölkerung Mitglied der Regierungskommission, der der Völkerbund die exekutive Gewalt im Saargebiet übertragen hatte.
Die Gründung der Saarländischen Wirtschaftsvereinigung fiel in eine Zeit, in der sich aus französischer Sicht die Chance einer Beibehaltung des Status quo bot. Die Erwartung eines Anschlusses der Saar an Frankreich, die in den Jahren 1919 bis 1926 virulent war, fand mit der französischen Vorherrschaft in der Regierung des Völkerbundgebietes ein Ende. In den Jahren 1926 bis 1933 wurden die Sympathien der Bevölkerung für das Deutsche Reich immer offensichtlicher und ein für Frankreich günstiger Ausgang der Volksabstimmung ganz unwahrscheinlich. Im Jahre 1933, dem Jahr der Machtübernahme Adolf Hitlers (1889-1945) im Deutschen Reich, formierten sich die Lager im Abstimmungskampf. Frankreich und die frankophilen oder separatistischen Saarländer gaben angesichts der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft dem Status quo zumindest zeitweise eine Chance.
In diesem Kontext ergriff Jakob Hector die Initiative zur Gründung der Saarländischen Wirtschaftsvereinigung. Er wollte für sein politisches Programm eine Klientel gewinnen, die die gleichfalls denStatus quo befürwortende Saarländische Sozialistische Partei (SSP), die am 24.5.1933 gegründet worden war, nicht erreichte. Im Oktober 1934 verfügte die SSP über rund 1.700 Mitglieder, eine hohe Ziffer, deutlich übertroffen allerdings von der Saarländischen Wirtschaftsvereinigung mit rund 2.900 Mitgliedern. Während die SSP die Arbeiter an der Saar ansprach, bildeten die bürgerlichen mittelständischen Schichten den Mitgliederkern der SWV. Bei der Gründung suchte sich Hector mit einer Delegation der Unterstützung der französischen Regierung zu vergewissern und traf zu diesem Zweck mit dem Außenminister Joseph Paul-Boncour (1873-1972) zusammen. Als Antipode der frankophilen Vereinigungen formierte sich am 15.7.1933 die überparteiliche „Deutsche Front“, in der sich Mitglieder von Zentrum, DSVP, DNVP, Wirtschaftspartei und der NSDAP-Saar zusammenschlossen, um in einer nationalen Massenbewegung den Anschluss an das Reich zu propagieren.
2. Programm
Die Saarländische Wirtschaftsvereinigung stellte der Bevölkerung ihre Ziele in einem undatierten Programm unter dem Titel „Was wir wollen“ vor.[1] Im Zentrum stand der Begriff des Status quo, der beibehalten werden sollte. Keineswegs sollte jedoch „Beibehaltung des Status quo“ bedeuten, Herrschaft und Verwaltung des Völkerbundes in der aktuellen Form fortzuführen. Vielmehr wurde der Begriff dynamisch und entwicklungsfähig ausgelegt. Die Definition erfolgte ohne Absprache mit der gegenwärtigen Regierung und ohne Berücksichtigung der Hoheit des Völkerbundes, stand also auf ungesichertem Boden. Das hinderte die Vereinigung aber nicht, in ihrem Programm weiter ins Detail zu gehen. Auf „konstitutionellem Gebiete“, so heißt es darin, ging es um die „Einführung einer Verfassung“, die „alle Rechte in die Hand des Volkes legt“ und „Freiheit und Unabhängigkeit“ gewährt. Das Saargebiet sollte zu einem demokratischen Staatswesen unter der Oberaufsicht des Völkerbundes fortentwickelt werden.
Auf „kulturellem Gebiete“ forderte das Programm die „Beibehaltung des Konkordates und der konfessionellen Schulen“ bei grundsätzlicher Wahrung der Religionsfreiheit. Die SWV verstand sich nicht als eine „konfessionelle Vereinigung“, bekannte aber gleichwohl, von einem „stark katholischen Einschlag“ geprägt zu sein. Damit warb sie in besonderer Weise um Katholiken. Die frankophile Komponente brachten die Anforderungen an den künftigen Schulunterricht zum Ausdruck, wonach neben Deutsch Französisch erlernt werden sollte. Als Begründung diente ein ökonomisches Motiv: die bessere Behauptung im beruflichen Existenzkampf. In einem Grenzland, so hieß es mit einem gewissen Recht, werde dieser Kampf durch die Beherrschung zweier Sprachen erleichtert. Allerdings war damals im deutsch-lothringischen Raum die deutsche Sprache noch allgemein im Umlauf.
Eine frankophile Ausrichtung besaß auch das wirtschaftspolitische Programm der SWV, das, wie schon der Name der Organisation deutlich macht, von zentraler Bedeutung war. Der Anspruch, dass die jetzt von Frankreich betriebenen Kohlengruben in das Eigentum des künftig unabhängigen Saarstaates übergingen, wurde wie selbstverständlich erhoben. Im Übrigen aber sollte die wirtschaftliche Vereinigung mit Frankreich erhalten bleiben, da ein Ausscheiden mit großen Verlusten verbunden wäre: die Gruben würden ihr Absatzgebiet verlieren, die großen Hütten ebenso und darüber hinaus von den lothringischen Erzfeldern abgeschnitten werden. Im Kreis Saarlouis müsste der größte Teil der mittleren und kleinen Betriebe, etwa die Emaille-, Stuhl-, Herd-, Möbel-, Karton- und Strickwarenfabriken seine Tore schließen. Die Bilanz der SWV war eindeutig: Konnte die saarländische Wirtschaft durch den Anschluss an Frankreich nur gewinnen, so drohten bei einer Eingliederung in das Reich für Gruben, Hütten, Gewerbe und Landwirtschaft nur Verluste. So sehr das wirtschaftliche Argument auch begründet gewesen sein mag, es spielte im Abstimmungsverhalten der Saarländer am 13.1.1935 nur eine minimale Rolle.
Eine relativ hohe programmatische Bedeutung besaß das von der nationalsozialistischen Regierung am 29.9.1933 verabschiedete Erbhofgesetz, das eine Besitzzersplitterung der Höfe verhindern sollte. In dem Gesetz sah die SWV eine Bedrohung der freien Verfügungsgewalt über landwirtschaftliches Eigentum und gab zum Thema im August 1934 eine Broschüre mit dem Titel, „Die Rückgliederung und die Landwirtschaft des Saargebietes“ heraus. Durch das im Reich gültige Gesetz würden die Kinder in Herren (Erben) und Knechte (Nichterben) aufgeteilt, was den Keim zu Familienzwistigkeiten legen würde. Bereits in den Monaten März und April fand auf dem Gau im Kreis Saarlouis eine Flugblätterkampagne statt, die mit solchen Argumenten den Bauern Angst vor einer Rückgliederung einjagte. Zahlreiche Landwirte teilten daraufhin ihren Besitz unter den Kindern auf. Die Kreisbauernschaft Saarlouis schloss sich aus diesem Grund zu einer Vereinigung zusammen, die gleichfalls den Status quo verfocht.
In der Zeit des Abstimmungskampfes blieb das Thema der Definition des Status quo auf der Tagesordnung der SWV. Zum einen musste für Mitglieder und Anhänger eine Überzeugungsarbeit geleistet werden, dass dies die beste Lösung für die saarländische Bevölkerung sei. Zum zweiten war eine offizielle Definition der Regierungskommission als Rückenstärkung anzustreben. Zum dritten war es für die führenden Vereinsmitglieder mit ihrer starken frankophilen Neigung eine Gewissensfrage, ob der Status quo wirklich ihren Vorstellungen am nächsten kam oder nicht doch der direkte Anschluss an Frankreich. Und schließlich stellte sich viertens die Frage nach einer Minimallösung in Form der Abtrennung eines Gebietsstreifens mit altfranzösischen Orten (wie Saarlouis) an Frankreich als letzte Alternative.
Die SWV bemühte sich noch im November 1934, seitens des Völkerbundes eine offizielle Definition des Status quo erhalten, sah sie doch in Zusagen, die die Bevölkerung zufrieden stellten, eine Voraussetzung dafür, bei den Wählern zu punkten. Das vom Rat des Völkerbundes eingesetzte Dreierkomitee zur Vorbereitung der Abstimmung schwieg jedoch nach wie vor zu dieser Frage. Das Fehlen jedweder definitiver Zusagen, was auf die saarländische Bevölkerung im Falle einer Entscheidung für den Status quo zukommen würde, brachte Organisationen wie der SWV oder der SSP schwere Nachteile und schmälerte nachhaltig deren Chancen im bevorstehenden Referendum.
Zwar warb die SWV nach außen konsequent bis zum Schluss für die Status-quo-Lösung, die Frage ist aber berechtigt, ob nicht einige der führenden Mitglieder, allen voran Jakob Hector und Carl Minster (1873-1942), insgeheim nicht doch, wie viele (Anhänger und Gegner) mutmaßten, einen direkten Anschluss an Frankreich favorisierten. Für ein Umschwenken auf diese Linie kurz vor der Abstimmung gewann der Vorsitzende aber keine Mehrheit. Auch der Dachverband der frankophilen Organisationen, die Arbeitsgemeinschaft zur Wahrnehmung saarländischer Interessen (AG), blieb strikt bei der Befürwortung der Status-quo-Lösung, obwohl ihre Leitung in französischen Händen lag.
Jakob Hector und Carl Minster thematisierten einen weiteren Programmpunkt, der für eine Abstimmung im Referendum überhaupt nicht vorgesehen war: die Abtretung der Stadt Saarlouis, des Warndtwaldes und eines Gebietsstreifens entlang der französischen Grenze. Es handelt sich dabei um ein Terrain, das im Ancien Régime zu Frankreich gehört hatte und das nach dem Ersten Pariser Friedensschluss von 1814 auch Frankreich verbleiben sollte. Den Honoratioren der Stadt Saarlouis und Umgebung, allen voran der beständig im Besitz der französischen Staatsbürgerschaft verbliebenen Unternehmerfamilie Villeroy aus Wallerfangen, war dieser historische Sachverhalt wohlvertraut. Carl Minster, bei dem dieses Wissen aufgrund seiner deutsch-amerikanischen Biographie wohl weniger präsent gewesen sein dürfte, schloss sich gleichwohl der Gebietsforderung an. Er sprach Anfang Mai 1934 seine Überzeugung aus, der Kreis Saarlouis werde nie zu Deutschland zurückkehren, selbst dann nicht, wenn 95 Prozent für den Anschluss an Deutschland stimmen sollten. Mit dieser Einschätzung lag er völlig falsch. Vielmehr hatte die französische Regierung vor der Abstimmung bereits jegliche Ansprüche auf das Saargebiet aufgegeben. Nicht einmal die Status-quo-Lösung erhielt in der Schlussphase des Abstimmungskampfes ihre Unterstützung. Sie distanzierte sich offiziell eindeutig von jeglicher Beeinflussung des Wählerwillens.
3. Vorstand, Presseorgane, Mitglieder
Der Vorstand der Saarländischen Wirtschaftsvereinigung nannte sich Comité. Dessen Mitgliederzahl schwankte. Sie belief sich im Februar 1934 auf elf, musste aber im März aus finanziellen Gründen auf sechs Personen reduziert werden. Abgesehen von einer dreiwöchigen Unterbrechung im März 1934 war Jakob Hector durchgehend der Vorsitzende und die tragende Figur der Vereinigung. Wie er stammte die Mehrheit der Comitémitglieder aus dem Kreis Saarlouis, von denen einige fest zu ihm und hinter seiner Geschäftsführung standen. Das zeigte sich in der krisenhaften Situation, in die die Vereinigung durch die Einmischung Étienne Vayssets geriet, des Vertreters des französischen Außenministeriums im Saargebiet, der die Arbeitsgemeinschaft zur Wahrnehmung saarländischer Interessen leitete und durch die Verfügung über die französischen Propagandagelder eine starke Machtposition in den frankophilen Organisationen besaß.
Vaysset war Anfang März an die SWV mit Forderungen herangetreten, die auf eine Entmachtung der Parteispitze hinausgelaufen wären. Von Anfang an stand er in Rivalität zu Jakob Hector, der den eigenständigen Handlungsspielraum seiner Vereinigung nicht schmälern lassen wollte. Während Vaysset das Comité schwächen wollte, sollten Kreis- und Bezirksleitung gestärkt und finanziell besser gestellt werden, Bezirksleiter monatlich 500 Francs, Ortsgruppenleiter 100 bis 300 Francs erhalten. In finanziellen Angelegenheiten sollten sich die Bezirksleiter direkt an Vaysset wenden und auch ihre Tätigkeitsberichte auf geradem Weg an die AG leiten. Regelmäßige Comitésitzungen hielt er für unnötig.
Die Forderungen Vayssets stellten eine Kampfansage an den Vorsitzenden Hector dar, der daraufhin den Parteivorsitz niederlegte. In einer Sitzung des Comités unter Anwesenheit von 25 Ortsgruppenleitern am 9.3.1934 wurden die Forderungen diskutiert. Sie stießen insbesondere unter dem Eindruck des Rücktritts des Vorsitzenden auf einhellige Ablehnung. Weitere führende Mitglieder wollten die SWV verlassen. Es bestand die Gefahr einer Auflösung der Organisation. Vaysset lenkte daraufhin ein und begnügte sich mit Teilerfolgen. Das Comité wurde auf sechs Personen beschränkt, konnte aber wieder regelmäßig zusammentreffen. Hector kehrte daraufhin an die Parteispitze zurück.
Nach außen präsentierte sich die SWV in Periodika und auf Veranstaltungen. Zur weiteren Aufklärung der Anhänger eröffnete die SWV am 17.3.1934 in Völklingen-Wehrden eine antifaschistische Buchhandlung. Die wichtigsten publizistischen Organe waren das „Saarlouiser Journal“ und der „General-Anzeiger“, obwohl sie nicht der Kontrolle der Partei unterstanden. Zur Verstärkung der Propagandatätigkeit entschloss sich die SWV zur Herausgabe eines eigenen Presseorgans mit dem Titel „Frei Saar“, von dem nur wenige Nummern, darunter die erste vom 15.6.1934, erhalten geblieben sind. Es sollte zweimal im Monat erscheinen. Gedruckt wurde es von der Saarlouiser Druckerei- und Verlagsgesellschaft, deren Leitung in französischen Händen lag. Die SWV war bislang mit der Berichterstattung im Saarlouiser Journal zufrieden, jetzt wollte man die Mitglieder aber direkt ansprechen. Verantwortlicher Herausgeber war das zeitweilige Comitémitglied Rudolf Malkmus, doch Vieles spricht für einen maßgeblichen redaktionellen Einfluss von Carl Minster.
In den Versammlungen konnte die SWV eine Hörerschaft von 300 bis 400 Personen erreichen, eine beachtliche Zahl. Im Vordergrund standen dabei wirtschaftliche Argumente gegen eine Rückgliederung an das Reich. Namentlich die Landbevölkerung des Kreises Saarlouis zeigte ein wachsendes Interesse. Eine Hürde stellte die Anmietung geeigneter Räume dar. Hector bemühte sich vergeblich um den Ankauf des Saarlouiser Hofes, der ein passendes Versammlungslokal geboten hätte. Auf dem Gau, an der saarländisch-lothringischen Grenze, bewirkten die Einschüchterungen und Drohungen der Nazis, dass kein Wirt bereit war, der SWV einen Saal zu überlassen. Öfter mussten Veranstaltungen auf französischem Boden stattfinden. Darüber klagte das Comité im Februar 1934 beim Völkerbund und forderte einen Schutz der Freiheit des Denkens und des Gewissens ein. Die Regierungskommission sollte eine Notverordnung erlassen, um den Anhängern des Status quo die gleiche Möglichkeit einer Propagandatätigkeit zu gewähren, wie sie die Nazis mit Mitteln des Terrors behauptete.
Anfang Dezember 1933, fünf Wochen nach der Gründung, hatte die SWV 1.000 Mitglieder, Anfang Februar 1934 belief sich ihre Zahl auf 2.300. Das Parteiorgan „Frei Saar“ meldete am 15.6.1934, im Kreis Saarlouis besitze jeder Ort eine Ortsgruppe oder wenigstens Vertrauensleute. Die Mitgliederbasis aus dem Mittelstand erwies sich als zu dünn. Deshalb bemühte sich die SWV um den Gewinn von Arbeitern und warb besonders um Beschäftigungslose. Durch das Versprechen, im Falle einer Vereinsmitgliedschaft einen Arbeitsplatz zu vermitteln sowie Kohlen kostenlos zuzuteilen, erhöhte sich die Mitgliederzahl deutlich. Etliche Arbeiter konnte die SWV der SSP abspenstig machen. Weitere Mitglieder rekrutierten sich aus der Bauernschaft, darunter der frankophilen „Kreisbauernschaft Saarlouis“. Zur Gewinnung von Katholiken trat die SWV an den päpstlichen Visitator, Prälat Gustavo Testa (1886-1969), heran, und gab sich als Kämpferin für die Glaubensfreiheit der katholischen Saarbevölkerung aus. Mitte des Jahres 1934 erteilte Vaysset jedoch die Weisung, das Werben um die Katholiken einzustellen, da diese in ihren eigenen Reihen berufenere Führer hätten.
Insgesamt führte Jakob Hector die SWV ziemlich unumstritten, nur im Falle des aus Lisdorf stammenden Hans Hoffmann, von Februar bis Juni 1934 Propagandaleiter der Vereinigung, hatte er einen erbitterten Feind, der sich sogar als Verbindungsmann für die Gestapo anwerben ließ. Hector wollte Im Juni Hoffmann aus der Partei ausschließen, musste ihn jedoch auf Anweisung der AG wieder aufnehmen. Angeblich beruhte der Konflikt darauf, dass Hector dem Propagandaleiter eine Annahme der französischen Staatsbürgerschaft empfahl, Hoffmann jedoch das Bekenntnis zu Deutschland nicht aufgeben wollte. Die hellhörige Gestapo nahm Kontakt zu Hoffmann auf, um ihn in der SWV als Maulwurf wirken zu lassen. Hoffmann stimmte sogleich zu. Im Auftrag der Gestapo sollte er eine Opposition innerhalb der SWV gegen die Parteispitze betreiben, und zwar durch eine Kritik an der Verwendung der Gelder. Hoffmann sollte die Bücher einsehen und der Gestapo Informationen über die Geldgeber liefern, interne Beziehungen und Hintermänner ausspähen, Stärke und Mitgliederzahl der SWV ermitteln und weitere Kollaborateure gewinnen.
Hoffmann erzielte einen Teilerfolg. Mit Gesinnungsgenossen warb er am 29. Juni für die Gründung der „Freien Saarfront“ und einen Austritt aus der SWV. Daraufhin erfolgte am 5.7.1934 der Ausschluss aus der SWV. Die Abtrünnigen gründeten den „Saarländischen Bürgerblock“ (SBB). Das war die zweite Abspaltung aus der SWV, denn schon im Mai war eine kleine Gruppe um Nikolaus Kiefer, Lehrer an der unter französischer Verwaltung stehenden Domanialschule in Dillingen, ausgetreten, um die Franco-Saarländische Front (FSF) ins Leben zu rufen, die sich offen für einen Anschluss an Frankreich erklärte. In der Sache hatte Hector gegen diese Zielrichtung nichts auszusetzen, Bedenken hatte er wegen der Zersplitterung der frankophilen Gruppierungen. Ganz anders verhielt es sich mit der Orientierung von Hans Hoffmann, der im Herbst 1934 den Auftrag der Gestapo erhielt, die SWV zu zerschlagen.
Hoffmann wollte Vaysset dazu bringen, die Geldzahlungen an die SWV einzustellen. Er argumentierte, die Lage der Vereinigung sei trostlos, die Ortsgruppen stünden in Opposition zur Zentrale. Für den Niedergang sei der Vorsitzende Hector verantwortlich. Dieser müsse unbedingt gestürzt, die Leitung ausgewechselt und unter der Parole Status quo „saar-deutsch“ werden. Hoffmann edierte ein Rundschreiben an Mitglieder der Partei, in der die Führer der SWV, allen voran Hector, als Verräter, Kapitalisten, Franzosen, Naturalisierte, Arbeiterverräter denunziert wurden. Der Verbindungsmann der Gestapo schritt bis zur persönlichen Diskriminierung, indem er Hector eine Unterschlagung von mehreren 10.000 Franken unterstellte. Hoffmann überschätzte jedoch seinen Einfluss, eine Zerschlagung der SWV gelang ihm nicht, und der von ihm und seinen Anhängern gegründete Saarländische Bürgerblock besaß Mitte November nur 200 Mitglieder. Damit lag er in der Zahl und Bedeutung weit unter der SWV mit ihren 2.000 Mitgliedern.
4. Organisation
Die Saarländische Wirtschaftsvereinigung gewann und organisierte ihre Mitglieder nach folgendem Schema: Zunächst begab sie sich auf die Suche von Anhängern des Status quo vor Ort. Dann beauftragte sie einen Vertrauensmann mit der Einberufung einer Versammlung von Anhängern, auf der die Wahl eines Ortsgruppenleiters erfolgte. Zumeist traf die Wahl den Einberufenden selbst. Die Ortsgruppen wurden in Bezirken zusammengefasst. So bildeten die Ortsgruppen Bous, Wadgassen, Schaffhausen und Hostenbach zum Beispiel einen Bezirk. Über den Ortsgruppen und Bezirken stand ein Kreisleiter. In einem vom April 1934 stammenden Organisationsplan der SWV wurden vier Kreise genannt. Zur Vereinfachung der Meinungsbildung wurde Ende Mai 1934 beschlossen, bei anstehenden Beratungen nicht mehr alle Ortsgruppenleiter nach Saarlouis anreisen zu lassen, sondern nur einen pro Bezirk.
Infolge der Polarisierung der politischen Lager, die immer wieder in Gewalttätigkeiten ausartete, griff die SWV wie ihre Gegner die Idee einer Bildung von Schutzstaffeln auf. Dazu regte auch der Dachverband der AG an. Es ging um Aufgaben wie den Schutz der Geschäftsstellen vor Überfällen oder einen Saalschutz bei Parteiveranstaltungen. Die Schutzleute besaßen eine eigene Uniform in den Saarfarben: schwarze Stiefel, schwarze Hose, weißes Hemd, blaue Jacke und blaue Mütze. Das Vorbild in der Sache boten die Schutzstaffeln der Nazis.
Zur Organisation der Selbsthilfe sollte nach einer Resolution der Parteibasis vom 3.6.1934 die Schutzstaffel ausreichend mit Waffen, Pistolen, Handgranaten usw. ausgerüstet werden, um mit dem Arsenal der Nazis mithalten zu können. Das Comité wollte diesen weit gehenden Armierungsforderungen nicht stattgeben, der Ausbau der Staffel wurde allerdings zielstrebig fortgesetzt. Die Saarlouiser Schutzstaffel bestand Ende September 1934 immerhin aus 68 Personen, von denen einige im Hintergebäude des „Saarlouiser Journals“ zum Schutz der Druckerei und der Vorstandssitzungen der SWV postiert waren. In einer Veranstaltung der SWV vom 17.8.1934 wurde den Besuchern mitgeteilt, dass die Partei bei der Regierungskommission um die offizielle Erlaubnis zur Aufstellung der Schutzstaffel nachgesucht habe, der Antrag sei jedoch abgelehnt worden. Das hinderte die Partei aber nicht, mit der Umsetzung ihres Plans unter einem Deckmantel fortzufahren. Mit der Gründung eines Sportvereins, der sich wie die Zeitung der SWV „Frei Saar“ nannte, wurde ein Weg gefunden, zu einem Schutzverband zu kommen. Der Sportverein in Saarlouis unterhielt neben der Staffel Abteilungen für Fußball, Leichtathletik und Tennis. Im Hostenbacher Bezirk wurde der Fußballverein „Blau-Weiß-Schwarz“ gegründet, der aus Mitgliedern der SWV bestand und Schutzaufgaben übernahm. Anfang Oktober 1934 trafen sich die als Sportvereine getarnten Schutzstaffeln in Saarlouis zu einer Aussprache.
Eine weitere Untergruppierung stellte ein im August 1934 gegründeter Gesangverein dar, der auf Veranstaltungen der SWV Kampflieder vortrug, zum Beispiel eine Saarhymne mit den Zeilen: „Es soll uns nicht knechten der Nazibarbar. Wir bleiben dem Rechte gewogen.“ Als Ziele stellte sie Freiheit, Frieden, Recht und Wahrheit heraus. Das Bekenntnis zum Status quo durfte nicht fehlen: „Wir wollen erstreben den Völkerbund“.[2]
5. Die Arbeitsgemeinschaft zur Wahrnehmung saarländischer Interessen (AG)
Die „Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung saarländischer Interessen“ (AG), offiziell gegründet am 6.12.1933, kann als Arm der französischen Politik betrachtet werden. Für die SWV war sie Geldgeber und Konkurrent, zugleich war sie ein Dachverband der frankophilen Gruppierungen. Ihre Vorgeschichte reicht fast ein Jahrzehnt zurück. Nach dem enttäuschenden Abschneiden der „Saarländischen Arbeitsgemeinschaft“ bei der Wahl zum Landesrat Ende Januar 1924 verschwand sie einige Jahre von der Bildfläche, um im Sommer 1931 wieder aufzutauchen. Ihr Name lautete seit Herbst 1931 „Arbeitsgemeinschaft (Vereinigung) zur Wahrnehmung saarländischer Interessen“, sie verstand sich als „Kartellorganisation verschiedener vornehmlich wirtschaftlicher Verbände“[3], sozial und ideologisch wollte sie alle Schichten der Bevölkerung erreichen. Ende März 1933 gehörten der AG erst sieben Verbände an. Zu einer Zusammenfassung aller frankophilen Vereinigungen bedurfte es einer weiteren Weisung von oben.
Ende November 1933 erteilte Étienne Vaysset dem Ingenieur Principal der Grube Calmelette in Klarenthal, Arthur Rossenbeck, den Auftrag, alle frankophilen Einzelorganisationen einem zentralen Vorstand zu unterstellen. Rossenbeck war einer der wenigen höheren preußischen Grubenbeamten, die sich der französischen Verwaltung in der Völkerbundzeit zur Verfügung stellten. Mit dem Eintritt in die Dienste der Mines Domaniales, wie sich die Saargruben damals nannten, war der Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft verbunden.
Auf der Tagesordnung der Gründungsversammlung vom 6.12.1933 stand eine Beschreibung der Aufgaben, denen sich die in der AG zusammengeschlossenen Organisationen widmen sollten. Es wurde ihnen aufgetragen, zu „beobachten, wie und von welchen Behörden die von der Regierungskommission neuerdings erlassenen Gesetze und Vorschriften umgangen werden.“[4] Die Verbreitung der Chronik und des Generalanzeigers durch die AG diente Propagandazwecken. Doch auch materielle Leistungen wurden versprochen, insbesondere die Verteilung von so genannten Unterstützungskohlen. Rossenbeck erläuterte in der Versammlung, dass er ermächtigt sei zu sagen, dass die französische Regierung entschlossen sei, dem Verband ihre moralische und materielle Unterstützung zu gewähren, in Betrieben, in der Rechtspflege, in der Polizei- und der Landesverwaltung.
Durch die Verfügung über Propagandagelder übte die AG Macht und Einfluss aus. Zur Gründungsversammlung hatte die SWV noch Vertreter entsandt, dann ging sie auf Distanz. Hector war der einzige Vorsitzende der frankophilen Gruppierungen, der sich dem Einfluss der AG so gut es ging entzog, auch wenn er sich mit seiner eigenständigen Politik bei Vaysset und Rossenbeck unbeliebt machte. SWV und AG vereinbarten eine Aufteilung der Zuständigkeit in geographischer Hinsicht, wobei die Einschränkung nur für die SWV galt. Das westliche Saarland wurde der SWV zugewiesen, vom Kreis Merzig bis zum Randgebiet des Kreises Saarbrücken, eingeschlossen das Warndtgebiet und die Städte Völklingen und Püttlingen.
Die AG besaß mit Rossenbeck einen harten, arroganten und unnahbaren Generaldirektor, der aber seinerseits vor dem Verwaltungsrat (Vaysset und Jean Morize, zuerst Generalsekretär, dann Mitglied der Regierungskommission) buckelte. Vaysset wollte mit Hilfe von Rossenbeck das Heft in der Hand behalten. Zu regelmäßigen Vorstandssitzungen kam es nicht. Die Leiter der Verbände schickten Rossenbeck ihre Rechenschaftsberichte ein. Er verteilte die Propagandagelder, im April 1934 waren dies immerhin 150.000 Francs. Schätzungsweise 4. bis 5.000 Saarländer waren in der AG organisiert. Die Gestapo ging im Oktober 1934 sogar von 7.000 Mitgliedern aus. Der Dachverband war in 127 Ortschaften vertreten. Der von der AG herausgegebene General-Anzeiger wurde im März von 4.005 Lesern abonniert. Damit reichte der Mitgliederbestand der frankophilen Gruppierungen an den der saarländischen SPD (4 bis 6.000) und der KPD (rund 8.000) heran.
Nur selten trat die AG mit eigenen Veranstaltungen an die Öffentlichkeit. Am 26.8.1934 sollte ein großer saarländischer Freiheitstag organisiert werden. Am selben Tag war in Ehrenbreitstein (heute Stadt Koblenz) eine Großkundgebung für die Rückkehr des Saargebietes zum Reiche vorgesehen. Der Plan der AG scheiterte an der ablehnenden Haltung der französischen Regierung, die sich nicht der Gefahr des Vorwurfs einer direkten Beeinflussung aussetzen wollte. Das politische Ziel des Status quo sollte nicht einen offiziellen französischen Stempel erhalten. Rossenbeck sah nach der Ermordung des Außenministers Louis Barthou (1862-1934) im Oktober 1934 und dem Amtsantritt des Nachfolgers Pierre Laval (1883-1945) den Halt an der französischen Regierung überhaupt verloren. Die neue Regierung stoppte die Geldzuwendungen und suchte in der Saarfrage eine gütliche Einigung mit Deutschland zu erreichen.
Die bedeutendsten Vereinigungen der frankophilen Saarbewegung: namentlich SWV, SSP, Bergarbeiterverband, schlossen sich am 29.8.1934 zur Gründung einer karitativen Gemeinschaft, der Saarländischen Arbeiterhilfe (SAH), zusammen. Der Roten Hilfe, der Arbeiterwohlfahrt und dem von der Deutschen Front eingerichteten Winterhilfswerk stellten sie eine eigene Hilfsorganisation entgegen, die sich als „karitative unpolitische überparteiliche Hilfsorganisation der freien Saarbewegung“ verstand.[5] Pater Hugolinus Dörr (1895-1940), geboren im saarländischen Sellerbach, Mitglied des Steyler Missionsordens und Mitbegründer der SWV, war deren Vorsitzender. Einen Höhepunkt in dessen propagandistischem Wirken für den Status quo stellte die am 26.8.1934 gehaltene Ansprache vor 60.000 Zuhörern der linken Einheitsfront in Sulzbach dar. Beim Einmarsch deutscher Truppen kam Hugolinus Dörr 1940 bei Dijon in einem Internierungslager ums Leben.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass sich die SWV auf humanitär-sozialem Feld für die Unterstützung von Emigranten aus Nazi-Deutschland engagierte. Diese erhielten Essen, Kleidung, etwas Bargeld. Im Februar 1934 ging die SWV zur Zahlung von Unterstützungsgeldern über, die die Emigranten bei der Geschäftsstelle in Saarlouis in Empfang nehmen konnten.
6. Leistungen der SWV an Mitglieder
Karitative Leistungen der SWV gab es schon vor der Gründung der Saarländischen Arbeiterhilfe. Zu Beginn des Winters 1933/1934 stellte der Vertreter des französischen Außenministeriums im Saargebiet, Étienne Vaysset, die Lieferung von Kohlen für Bedürftige in Aussicht. Dieses Versprechen ging auch in das Programm der AG ein. Aufgrund dieser Zusage organisierte Jakob Hector am 4.11.1933 eine Lieferung für Mitglieder der SWV. 120 Personen ließen sich innerhalb von zwei Tagen in die Mitgliederliste einschreiben, und die französische Grubenverwaltung stellte der SWV im November 150 Tonnen Kohle für diese zur Verfügung. Die Menge erwies sich als zu gering, weshalb Anfang 1934 eine zweite Lieferung erfolgte.
Im Zentrum der Aktivitäten der SWV stand das Bemühen um Beschäftigungsmöglichkeiten für arbeitslose Mitglieder. Am 11.1.1934 wurde eine Resolution an das französische Außenministerium verabschiedet, die in der Begründung, warum Frankreich die Saarländer unterstützen sollte, weit ausholte, um dann konkrete sozialpolitische Forderungen zu stellen. Die, wie Hektor im Namen der SWV unterstellte, Bereitschaft der Saarländer zum Kampf für die Erhaltung der Freiheit und für die Beibehaltung der wirtschaftlichen Bindung an Frankreich beruhte auf ethnologischen und historischen Gegebenheiten. Die Argumentation griff auf die Anfang der 1920er Jahre weit verbreitete französische These einer völkischen und historischen Zusammengehörigkeit von Saarländern und Lothringern zurück. Jetzt sollten nach Hector konkrete Taten folgen. Einen ersten Schritt zur Arbeitsvermittlung in Frankreich stellte die Anlage von Listen in den Ortsgruppen mit Arbeitswilligen dar. Die Listen mussten bis 16. März bei der Zentralstelle in Saarlouis eingereicht werden, damit die Bewerbungen an die französischen Betriebe weitergeleitet werden konnten.
Die SWV, so wurde prognostiziert, um politischen Druck auf Frankreich auszuüben, werde die Arbeiterschaft der Saar nur gewinnen, wenn die erwerbslosen Mitglieder Beschäftigung fänden. Monatlich sollten die Staatsgruben 200 Anhänger der SWV aufnehmen. Bei der Grubenverwaltung wurden Namenslisten von arbeitswilligen Parteimitgliedern eingereicht. Das Ergebnis war sehr bescheiden: Bis Mitte Mai 1934 wurden nur 35 Mitglieder der SWV als Bergleute eingestellt.
Bei den Verwaltungen und Direktionen der Fabriken, die mehrheitlich französischen Kapitaleignern gehörten, wurde gleichfalls eine Beschäftigung von Arbeitslosen angemahnt. Arbeiter sollten auch außerhalb des Landes eingestellt werden und nach Arbeit suchen können. Die SWV brachte Zahlenvorgaben ins Spiel. In der Privatindustrie sollte nach einer Beschäftigung für durchschnittlich 20 Mitglieder im Monat gesucht werden, und zwar über die Arbeitsbehörden von Metz und Straßburg. Bei der Direktion der lothringischen Gruben und dem Hüttenunternehmer de Wendel sollte erreicht werden, dass sie monatlich 50 links der Saar wohnhaften Mitgliedern Beschäftigung gaben. Hector erlitt mit seinen Bemühungen auf breiter Front Schiffbruch. Teils erhielt er keine Zusagen, teils wurden Versprechen nicht eingehalten, so das der Dillinger Hütte, sämtliche arbeitslose Mitglieder der SWV einzustellen.
Trotz aller Bemühungen zur Daseinssicherung brach der Aufwärtstrend der SWV im Februar 1934 ab. In Zusammenkünften kam wachsender Unmut wegen der nicht eingehaltenen Versprechen auf. Hector kritisierte die französische Regierung, dass sie sogar die Arbeitserlaubnis der in Frankreich beschäftigten SWV-Anhänger nicht verlängerte. Das war nicht der einzige Rückschlag für die frankophile Bewegung. Lothringische Gläubiger hatten SWV-Mitgliedern Hypothekendarlehen gewährt. Angesichts der ungewissen politischen Zukunft des Saargebietes und infolge der pessimistischen Einschätzung der Chancen für die Status-quo-Anhänger kündigten die Gläubiger die Darlehen. Die SWV-Mitglieder mussten sich zwecks Umschuldung an saarländische Sparkassen wenden, die sich fest in den Händen von Anhängern der „Deutschen Front“ befanden. Der französische Staat sollte der SWV drei Millionen Francs zur Deckung der Hypotheken zur Verfügung stellen, Frankeich dürfe seine Anhänger nicht im Stich lassen, so flehte Hector vergeblich.
7. Politische Forderungen
Die SWV suchte zum Ärger der AG häufig unter Umgehung der französischen Repräsentanten an der Saar den direkten Kontakt zur Regierung in Paris und zum Völkerbund in Genf. In einer Petition vom 5.1.1934 klagte die SWV allerdings zusammen mit der AG über den Terror der NSDAP im Saargebiet gegenüber ihren Gegnern. Sie bezeichneten den seit der Machtübernahme im Reich ausgeübten Druck als unerträglich und forderten einen Schutz gegen Drohungen und Drangsalierungen. Der gesamte öffentliche Dienst schien ihnen durchsetzt und infiltriert von nationalsozialistischen Elementen. Daraus wurde eine sehr weit gehende Folgerung gezogen: Die Regierungskommission sollte die Vollmacht erhalten, die Unabsetzbarkeit der Richter zu suspendieren, örtliche Verwaltungen und Polizei zu säubern und das Schulpersonal zu überwachen, um die Neutralität des Unterrichts zu sichern. Die SWV forderte eine neue Polizeitruppe, die sich mehrheitlich aus Anhängern des Status quo rekrutieren sollte.
Hector kritisierte Ende Mai 1934 rückblickend die französische Politik. Frankreich habe Anfang der 1920er Jahre versäumt, einen fähigen Nachfolger für General Joseph Andlauer (1869-1956), den Oberbefehlshaber der französischen Militärverwaltung bei der Besetzung des Saargebietes im Jahre 1919, zu entsenden. Damals hätte Frankreich mindestens 80 Prozent der Bewohner des Kreises Saarlouis für einen Anschluss gewinnen können. Die Chance sei verstrichen, zumal die französische Unterstützung mittlerweile viel zu schwach geworden sei. Die Anhänger der SWV seien deshalb von den Mines Domaniales und anderen französischen Industriellen an der Saar tief enttäuscht, weil sie ihnen keine Arbeit gäben. Zahlreiche einst frankophile Bürger und Anhänger des Status quo würden sich aus opportunistischen Gründen dem Terror beugen und der Deutschen Front anschließen.
Die Sicherung einer freien Stimmabgabe beim Referendum vom 13.1.1935 rückte 1934 immer mehr als Problem in den Vordergrund. Über die Gewährleistung einer freien politischen Meinungsäußerung sollte, so die Forderung gegenüber dem Völkerbund, ein Abstimmungsgericht wachen. Wenn der Terror der Deutschen Front jedoch fortgesetzt werde, könne das Plebiszit am 13.1.1935 keinesfalls durchgeführt werden. In programmatischer Hinsicht sollte der Völkerbund den Wählern die Entscheidung für den Status quo als erstrebenswerte Alternative vermitteln und die Werbemöglichkeiten zum Beispiel durch die Errichtung einer saarländischen Radiostation entscheidend verbessern, hingegen die ‚Hetzkampagnen‘ und ‚Lügenmärchen‘ der Gegner unterdrücken.
Die SWV rügte beim Völkerbund, dass die Gemeindeausschüsse, die zur Durchführung der Wahlen eingerichtet wurden, trotz Einsprüchen der SWV, der AG und der SSP fast ausnahmsweise von Mitgliedern der Deutschen Front besetzt wurden. Rossenbeck und Hector protestierten persönlich in Genf gegen die Organisation der Abstimmung. Bei 84 Ausschüssen gab es nur in acht Fällen je einen Vertreter der Anhänger der Status-quo-Parteien. Der Wunsch nach einer paritätischen Zusammensetzung der Ausschüsse, die die Abstimmungslisten erstellten, wurde mehrmals erfolglos vorgetragen.
8. Die Abstimmungsniederlage
Das Ergebnis des Referendums vom 13.1.1935 fiel für die Status-quo Anhänger mehr als bescheiden aus. Sie erhielten 46.613 beziehungsweise 8,8 Prozent der Stimmen. Das bedeutet, dass die frankophilen und separatistischen Vereinigungen neben den Mitgliedern von SPD und KPD, die für den Status quo stimmten, nur wenige Wähler gewinnen konnten (maximal dürften es 2 Prozent gewesen sein). Marginal war schließlich die Zustimmung zu einem Anschluss an Frankreich mit 0,4 Prozent und 2.124 Stimmen.[6] Die Wahlbeteiligung am Referendum war mit 528.105 oder 97,9 Prozent außerordentlich hoch, ein Indiz für die starke Politisierung der saarländischen Bevölkerung.
Charakteristische Unterschiede des Abstimmungsverhaltens zeigt eine vergleichende geographische Wahlanalyse. Das westliche Saargebiet stimmte relativ stark für den Status quo. Saarlouis mit den benachbarten Gemeinden und dem Warndt, Schwerpunkte der Verbreitung der SWV, gehörten zu den Orten mit der niedrigsten Zustimmung zum Reich beziehungsweise der höchsten zum Status quo. Man kann daraus schließen, dass sich in dem Abstimmungsergebnis eine gewisse Resonanz der SWV, die in dieser Subregion den Kern ihrer Anhängerschaft besaß, spiegelte. Für ein Erfolgserlebnis dürfte dies aber bei weitem nicht gereicht haben, die aus heutiger Sicht nachvollziehbare Enttäuschung der Mitglieder und Anhänger konnte kaum größer sein. Aber die Enttäuschung war noch nicht das Schlimmste. Die Anhänger des Status quo waren nach dem Referendum einer Diskriminierung und Verfolgung seitens der Nazis ausgesetzt. Führende Mitglieder der frankophilen und separatistischen Organisationen flohen ins Ausland, Jacob Hektor mit seiner Familie nach Metz. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Saarlouis zurück. Sein Sohn Edgar (1911-1989) wurde Innenminister unter dem saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (1890-1967). Aber auch diesmal fand die Familie Hector hier kein bleibendes Zuhause. Die Geschichte schien sich an der Saar zu wiederholen, doch das war nur teilweise der Fall. Wieso? – das ist eine andere Geschichte.
Literatur
Becker, Frank G., "Deutsch die Saar, immerdar!". Die Saarpropaganda des Bundes der Saarvereine 1919–1935, Saarbrücken 2007.
Clemens, Gabriele B., Mandatsgebiet des Völkerbundes, in: Herrmann, Hans-Christian/Schmitt, Johannes, Das Saarland. Geschichte einer Region, St. Ingbert 2012, S. 217-261.
Jacoby, Fritz, Die nationalsozialistische Herrschaftsübernahme an der Saar. Die innenpolitischen Probleme der Rückgliederung des Saargebietes bis 1935, Saarbrücken 1973.
Koszyk, Kurt, Das abenteuerliche Leben des sozialrevolutionären Agitators Carl Minster (1873–1942), in: Archiv für Sozialgeschichte 5 (1965), S. 193-226.
Lempert, Peter, „Das Saarland den Saarländern!“ Die frankophilen Bestrebungen im Saargebiet 1918-1935, Diss. Köln 1985.
Paul, Gerhard, „Deutsche Mutter – heim zu Dir!“ Warum es mißlang, Hitler an der Saar zu schlagen. Der Saarkampf 1933-1935. Mit einem Vorwort von Eike Hennig, Köln 1984.
Zenner, Maria, Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbundsregime 1920-1935, Saarbrücken 1966.
Online
Ausstellung-Broschüre: "Nie zu Hitler!" - Die antifaschistische Einheitsfront-Kundgebung 26. August 1934, Sulzbach/Saar, Eine Ausstellung der Stiftung Demokratie Saarland von Joachim Heinz, Stand 20.09.2015. [online]
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Burg, Peter, Die Saarländische Wirtschaftsvereinigung (1933-1935), in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-saarlaendische-wirtschaftsvereinigung-1933-1935/DE-2086/lido/5bc45739c81fb1.56303795 (abgerufen am 14.12.2024)