„Grenzland seit Menschengedenken“ – Eupen, Malmedy, St. Vith zwischen Wiener Kongress und Versailler Vertrag

Sebastian Scharte (Bonn)

Grenzsteine am 'Vierländerblick' Deutschland/ Niederlande/ Belgien/ Neutral-Moresnet, um 1910. (Privatbesitz)

1. Wiener Kongress – Rheinprovinz – soziale Krisen

Mit der nach­na­po­leo­ni­schen Neu­ord­nung Eu­ro­pas auf dem Wie­ner Kon­gress 1815 bil­de­ten die früh­neu­zeit­li­chen Her­zog­tü­mer Lim­burg und Lu­xem­burg so­wie die Fürst­ab­tei Stave­lot-Malme­dy kei­ne Ein­hei­ten mehr. Will­kür­lich wur­den neue Gren­zen ge­zo­gen zwi­schen dem Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reich der Nie­der­lan­de – be­ste­hend aus den ehe­ma­li­gen sie­ben Ver­ei­nig­ten Pro­vin­zen so­wie den Ös­ter­rei­chi­schen Nie­der­lan­den – und dem Kö­nig­reich Preu­ßen un­ter Fried­rich Wil­helm III. (Re­gent­schaft 1797-1840). Die­ser nahm die ihm über­tra­ge­nen, ur­sprüng­lich nicht ge­woll­ten rhei­ni­schen Ter­ri­to­ri­en im April des Jah­res in Be­sitz.

Un­ge­ach­tet der sprach­lich-kul­tu­rel­len Ge­ge­ben­hei­ten der Re­gi­on er­klär­te man ei­ner­seits die deutsch­spra­chi­gen Be­woh­ner der alt­lim­bur­gi­schen Hoch­ban­ken Mont­zen und Bae­len so­wie der einst lu­xem­bur­gi­schen Arel (Ar­lon) und Bo­ch­holz (Bé­ho) zu Nie­der­län­dern. An­de­rer­seits wur­den die fran­zö­sisch- und wal­lo­nisch­spra­chi­gen Ein­woh­ner von Malme­dy (nicht je­doch Stave­lot!), Bel­levaux und Wai­mes (Weis­mes) zu Preu­ßen. Letz­te­re, die so ge­nann­ten preu­ßi­schen Wal­lo­nen, zähl­ten mit der deutsch­spra­chi­gen Be­völ­ke­rung im Eu­pe­ner und im St. Vit­her Land zum Re­gie­rungs­be­zirk Aa­chen des Gro­ßher­zog­tums Nie­der­rhein. Die­ses ging 1822 mit der Pro­vinz Jü­lich-Kle­ve-Berg in der neu­en Rhein­pro­vinz auf, wel­che der Ko­blen­zer Ober­prä­si­dent als Stell­ver­tre­ter der preu­ßi­schen Kro­ne führ­te. Ei­ne staats­recht­li­che Ku­rio­si­tät schlie­ß­lich war das Eu­pen be­nach­bar­te Ge­biet von Neu­tral-Mo­res­net, das Preu­ßen und die Nie­der­lan­de (seit 1830 Bel­gi­en) gleich­be­rech­tigt ver­wal­te­ten. Grund hier­für wa­ren die rei­chen, für die Mes­sing­pro­duk­ti­on enorm an Be­deu­tung ge­win­nen­den Zin­kerzvor­kom­men bis zum Ers­ten Welt­krieg.

Wie fast über­all in den Rhein­lan­den sa­hen an­fangs auch die Men­schen in den Krei­sen Eu­pen, Malme­dy und St. Vith – letz­te­rer wur­de 1821 mit Malme­dy ver­ei­nigt – die preu­ßi­sche Herr­schaft dis­tan­ziert und kri­tisch, lehn­ten sie je­doch nicht grund­sätz­lich ab. Das Miss­trau­en grün­de­te vor al­lem im kon­fes­sio­nel­len Ge­gen­satz zwi­schen der ka­tho­li­schen Mehr­heits­be­völ­ke­rung und dem evan­ge­lisch(-re­for­miert) ge­präg­ten Kö­nigs­haus so­wie dem preu­ßi­schen Be­am­ten- und Mi­li­tär­we­sen. Hin­zu ka­men bil­dungs­bür­ger­lich ge­pfleg­te Vor­ur­tei­le ge­gen­über den aus rhei­ni­scher Sicht kul­tu­rell rück­stän­di­gen ‚Li­tau­ern’ so­wie ge­ra­de in den früh­in­dus­tria­li­sier­ten Zen­tren und da­mit auch in Eu­pen kon­kre­te wirt­schafts- und zoll­po­li­ti­sche Be­den­ken. Nun­mehr ab­ge­trennt von dem bis weit nach Frank­reich hin­ein­rei­chen­den Wirt­schafts­raum und ge­bun­den an das ver­arm­te Agrar­land Preu­ßen, wa­ren öko­no­mi­sche Kri­sen zu­gleich so­zia­le Kri­sen in der mit knapp 9.000 Ein­woh­nern zehnt­grö­ß­ten Stadt der Rhein­pro­vinz. Dies ver­deut­licht un­ter an­de­rem der Ma­schi­nen­sturm des Jah­res 1821, als Hun­der­te von Ar­beits­lo­sig­keit be­droh­te Tex­til­ar­bei­ter ei­ne neue Scher­ma­schi­ne zer­stör­ten und Po­li­zei, Bür­ger­wehr, Forst-, Zoll- und Grenz­be­am­te wei­te­re Über­grif­fe auf Tuch­fa­bri­kan­ten nur knapp ver­hin­dern konn­ten.

Doch auch die länd­li­chen Un­ter­schich­ten in den Krei­sen Malme­dy und St. Vith stan­den vor exis­ten­zi­el­len Pro­ble­men: Im Hun­ger­win­ter 1816/1817, als die Bü­ro­kra­tie ei­ne der schlimms­ten Agrarkri­sen der ers­ten Jahr­hun­dert­hälf­te mit Ge­trei­de­lie­fe­run­gen aus Pom­mern erst spät be­kämp­fen ließ, er­hiel­ten Ho­hes Venn und (Schnee-) Ei­fel ih­ren we­nig schmei­chel­haf­ten Bei­na­men ‚Preu­ßisch-Si­bi­ri­en’. Nicht zu­letzt die wei­te­ren durch Miss­ern­ten aus­ge­lös­ten Kri­sen­jah­re 1845-1850 und 1882/1883 be­ding­ten ei­ne bis zur Jahr­hun­dert­wen­de an­dau­ern­de Mas­sen­aus­wan­de­rung, be­son­ders nach Ame­ri­ka, aber auch nach Frank­reich, Bel­gi­en und in das rhei­nisch-west­fä­li­sche In­dus­trie­re­vier.

2. Vormärz – Belgisch-Rheinische Eisenbahn

Re­vo­lu­ti­on und Na­ti­ons­bil­dung der bel­gi­schen Nach­barn 1830 hin­ter­lie­ßen kei­ne nen­nens­wer­ten Spu­ren auf der an­de­ren Sei­te der Gren­ze, nicht ein­mal bei den sprach­ver­wand­ten preu­ßi­schen Wal­lo­nen. Wäh­rend der Spät­som­mer im Kreis Malme­dy er­staun­lich er­eig­nis­arm ver­lief, for­der­ten Stadt- und Kreis­ver­wal­tung für das na­he den re­bel­li­schen Bel­gi­ern von Ver­viers ge­le­ge­ne Eu­pen im­mer­hin 500 Sol­da­ten an. Als je­doch das Mi­li­tär den Grenz­kreis er­reicht und ge­si­chert hat­te, war der be­mer­kens­wer­te letz­te Au­gust­tag mit Pro­tes­ten un­zu­frie­de­ner, teils er­werbs­lo­ser Spin­ne­rei­ar­bei­ter und Haus­we­ber, un­ter­stützt von Frau­en und Kin­dern, schon vor­über. Zwar blieb die so­zio­öko­no­mi­sche La­ge an­ge­spannt – wie auch je­ne un­ge­wöhn­lich häu­fi­gen Holz­dieb­stäh­le in der letz­tern Zeit in den Kö­nig­li­chen Nie­der­län­di­schen Wal­dun­gen be­leg­ten –, ei­ne de­zi­diert ge­gen Preu­ßen ge­rich­te­te Po­li­ti­sie­rung der Pro­tes­te blieb aber aus. Nicht an­ders die Si­tua­ti­on wäh­rend der Köl­ner Wir­ren 1837: Das ka­tho­li­sche Grenz­land stand im kirch­lich-staat­li­chen Kon­flikt auf Sei­ten sei­nes Erz­bi­schofs, al­ler­dings we­der hier noch spä­ter im op­po­si­tio­nel­len Zen­trum des rhei­ni­schen Vor­märz­ge­sche­hens.

Weit­aus wich­ti­ger für die Re­gi­on als die Re­zep­ti­on von Rhein­kri­se, Re­gie­rungs­an­tritt Kö­nig Fried­rich Wil­helms IV. (Re­gent­schaft 1840-1858) oder Köl­ner Dom­bau­fest (1842) war die Er­öff­nung der Schel­de-Rhein-Ei­sen­bahn­ver­bin­dung zwi­schen Ant­wer­pen und Köln 1843. Trotz hö­he­rer Bau­kos­ten we­gen des hü­ge­li­gen Aa­che­ner Ter­rains hat­te die 1837 ge­grün­de­te Rhei­ni­sche Ei­sen­bahn-Ge­sell­schaft ih­re ei­gent­li­chen Plä­ne ge­än­dert und Eu­pen mit sei­nem Gren­zwei­ler Sto­ckem nicht län­ger be­rück­sich­tigt. Die neue Stre­cken­füh­rung über Aa­chen, für die vor al­lem Da­vid Han­se­mann en­er­gisch ein­ge­tre­ten war, soll­te dem öko­no­misch schwä­cheln­den Eu­pen (bis 1864 oh­ne Bahn­an­schluss!) emp­find­lich zu­set­zen. Über Eu­pens Nach­bar­or­te Her­gen­rath und As­tenet, die bei­den Grenz­bahn­hö­fe (Lont­zen-)Her­bes­thal und Wel­ken­ra­edt so­wie Ver­viers und Lüt­tich führ­te die Bel­gisch-Rhei­ni­sche Ei­sen­bahn – die ers­te in­ter­na­tio­na­le Bahn­ver­bin­dung Preu­ßens über­haupt – wei­ter zur Schel­de­mün­dung nach Ant­wer­pen. Sie avan­cier­te zum au­gen­fäl­ligs­ten „Sym­bol ei­nes ge­mein­sa­men Wirt­schafts­rau­mes zwi­schen der Rhein­pro­vinz und Bel­gi­en“ (Stahr, S. 39). und miss­fiel nicht nur den be­wusst um­gan­ge­nen Nie­der­lan­den, son­dern auch dem preu­ßi­schen Staat. Dies ver­deut­lich­ten un­ter an­de­rem die aus­blei­ben­den Fi­nanz­hil­fen beim Ei­sen­bahn­bau so­wie die Ab­we­sen­heit des Kö­nigs­hau­ses und an­de­rer hö­he­rer Re­prä­sen­tan­ten der Mon­ar­chie bei der Ein­wei­hungs­fei­er im Ok­to­ber 1843 in Köln.

3. Revolution – lokale Öffentlichkeiten

Auf die ge­sell­schaft­li­che Auf­bruch­stim­mung des Jah­res 1848 und die ins­be­son­de­re von Köln und Aa­chen aus­ge­hen­den de­mo­kra­tisch-re­vo­lu­tio­nä­ren Be­stre­bun­gen re­agier­te man nörd­lich und süd­lich des Ho­hen Venns un­ter­schied­lich. Al­lein die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­din­gun­gen und -we­ge inn­ner­halb Eu­pens und Malme­dys wa­ren grund­ver­schie­den und zwi­schen den bei­den rhein­preu­ßi­schen Krei­sen oh­ne­hin kaum aus­prägt. Letz­te­res än­der­te sich erst lang­sam mit der Fer­tig­stel­lung der teils auf bel­gi­schem Staats­ge­biet ver­lau­fen­den Venn­stra­ße (1855/1856). Zwar führ­ten die Re­vo­lu­ti­ons­jah­re in bei­den Grenz­krei­sen zu neu­en For(m)en lo­ka­ler Öf­fent­lich­keit, die aber in­halt­lich von­ein­an­der ab­wi­chen: So er­setz­te süd­lich des Ho­hen Venns „La Se­mai­ne“, re­dak­tio­nell fran­zö­sisch­spra­chig und doch nicht nur in amt­li­chen Be­kannt­ma­chun­gen viel­fach Deutsch, das bis­he­ri­ge land­rät­lich pro­te­gier­te „Kor­re­spon­denz­blatt des Krei­ses Malme­dy“. Spä­tes­tens bis sich 1866 das St. Vit­her „Kreis­blatt für den Kreis Malme­dy“ als ers­tes Pres­se­or­gan für die deutsch­spra­chi­ge Mehr­heits­be­völ­ke­rung eta­blie­ren konn­te, war die „Se­mai­ne“ im na­tio­nal-preu­ßi­schen Sin­ne be­strebt, auch an den äu­ßers­ten West­mar­ken nach Kräf­ten der va­ter­län­di­schen Sa­che zu die­nen. Und im Früh­jahr „1848, als in den meis­ten rhei­ni­schen Städ­ten [so auch sym­bol­träch­tig in Eu­pen] schwarz-rot-gol­de­ne Fah­nen weh­ten, blieb man in Malme­dy beim schwarz-wei­ßen Preu­ße­n­ad­ler“ (Pabst, Die preu­ßi­schen Wal­lo­nen, S. 74).

An­ders ver­lie­fen Mei­nungs­bil­dung und -ver­mitt­lung nörd­lich des Ho­hen Venns, wo 1849/1850 der de­mo­kra­ti­sche, na­tio­nal-deutsch ge­sinn­te „Volks­freun­d“ dem seit 1827 als Amts­blatt fun­gie­ren­den und 1848 ge­mä­ßigt li­be­ral auf­tre­ten­den „Kor­re­spon­denz­blatt des Krei­ses Eu­pen“ ge­gen­über­stand. „Der Volks­freun­d“ war das pu­bli­zis­ti­sche Pro­jekt des Leh­rers Theo­dor He­ge­ner (1819-1901), dem Kopf der re­vo­lu­tio­nä­ren Be­we­gung in Eu­pen. He­ge­ner konn­te das so­zia­le und po­li­ti­sche In­ter­es­se brei­ter Be­völ­ke­rungs­schich­ten we­cken und half bei der Grün­dung des Turn­ver­eins im Ju­ni 1848, ei­nes ka­ri­ta­ti­ven To­bi­as­ver­eins 1850 und be­son­ders des (Hand­wer­ker- und) Ar­bei­ter­ver­eins im Fe­bru­ar 1849. Die­sen präg­te er eben­so stark wie ei­nen vom auf­ge­klär­ten Eu­pe­ner Bür­ger­meis­ter Amand von Ha­ren­ne (1813-1866) im Ju­li 1848 in­iti­ier­ten Bür­ger­ver­ein. Das auch dort be­reit­ge­stell­te Iden­ti­täts­an­ge­bot Deutsch­land, das mit dem Preu­ßi­schen kon­kur­rier­te, soll­te den Be­woh­nern ka­tho­li­scher, einst habs­bur­gi­scher Ter­ri­to­ri­en in ganz be­son­de­rem Ma­ße zu­sa­gen. Es re­üs­sier­te über wirt­schafts- und bil­dungs­bür­ger­li­che Krei­se hin­aus in der lo­ka­len Öf­fent­lich­keit, ver­lor aber spä­tes­tens mit He­ge­ners Aus­wan­de­rung nach Bel­gi­en (1850/1851) an At­trak­ti­vi­tät.

4. Reichseinigung – Kulturkampf – ‚preußische Wallonen’

Das Schei­tern der Re­vo­lu­ti­on be­deu­te­te Bei­le­gung und Ver­drän­gung der po­li­tisch-kul­tu­rel­len Kon­flik­te bis in die 1860er Jah­re. Im Ver­lauf der Ei­ni­gungs­krie­ge – selbst wäh­rend des preu­ßisch-ös­ter­rei­chi­schen ‚Bru­der­kriegs’ 1866 – wur­den die­se Kon­flik­te an der Hei­mat­front je­doch nicht of­fen aus­ge­tra­gen, und auch die deut­sche Mis­si­on Preu­ßens blieb in bei­den Grenz­krei­sen vor­erst un­hin­ter­fragt. Nach dem mi­li­tä­ri­schen Er­folg über Frank­reich und der na­tio­nal­staat­li­chen Ei­ni­gung 1870/1871 lie­ßen sich die un­ter­schwel­li­gen Iden­ti­täts­kon­flik­te al­ler­dings nicht län­ger ver­ber­gen und avan­cier­ten zu Kul­tur­kämp­fen vor Ort. Die po­li­tisch an­ge­fach­te Po­la­ri­sie­rung zwi­schen Na­ti­on und Re­li­gi­on for­der­te ein Be­kennt­nis zu dem ei­nen oder dem an­de­ren und ließ öf­fent­li­che Zwi­schen­tö­ne ver­stum­men. Kon­flikt ge­la­den war im Emp­fin­den zahl­rei­cher Men­schen we­ni­ger das Ka­tho­lisch-Sein und/oder Deutsch-Sein, son­dern viel­mehr der Wi­der­streit der Iden­ti­täts­an­ge­bo­te Preu­ßen und Ka­tho­li­zis­mus. Dies soll­te sich im länd­li­chen Raum der Ei­fel eher am staat­lich-kirch­li­chen Dua­lis­mus ein­zel­ner Orts­au­to­ri­tä­ten wie Bür­ger­meis­tern und Geist­li­chen be­merk­bar ma­chen, im klein­städ­ti­schen Eu­pen und sei­ner Um­ge­bung hin­ge­gen an zu­neh­men­der Po­li­ti­sie­rung und Ver­ge­sell­schaf­tung des Re­li­giö­sen. Da­bei er­fuh­ren Zen­trums­par­tei, Con­stan­tia-Ge­sell­schaft, Pi­us­ver­ein und an­de­re Grup­pie­run­gen seit 1869 re­gen pu­bli­zis­ti­schen Zu­spruch der de­zi­diert ka­tho­li­schen „Eu­pe­ner Zei­tun­g“.

Für die preu­ßi­schen Wal­lo­nen rund um Malme­dy un­ter­schie­den sich die Iden­ti­täts­kon­flik­te we­sent­lich von de­nen im deutsch­spra­chi­gen St. Vit­her und auch Eu­pe­ner Land: In­fol­ge ei­ner seit der Reichs­grün­dung mit dem Kul­tur­kampf ein­her­ge­hen­den Ger­ma­ni­sie­rungs­po­li­tik ent­wi­ckel­te sich die klei­ne Kul­tur- und Sprach­min­der­heit erst zu ei­ner sol­chen, die nach au­ßen deut­li­cher ihr Son­der­be­wusst­sein ar­ti­ku­lier­te. Dies äu­ßer­te sich in der Er­wei­te­rung der „Se­mai­ne“ um den mund­art­li­chen „Ar­mo­nac wal­lon do l’Sa­mé­ne“, der Her­aus­ga­be ei­nes wö­chent­lich kon­kur­rie­ren­den Or­ga­ne de Malme­dy (1881) so­wie der Grün­dung des Club Wal­lon (1898). Dort tra­fen sich auch jün­ge­re Ak­ti­vis­ten wie Jo­seph Bas­tin (1870-1939) und Hen­ri Bra­g­ard (1877-1944), die be­reits vor dem Ers­ten Welt­krieg ei­ne Ver­ei­ni­gung der preu­ßi­schen Wal­lo­nie mit Bel­gi­en be­für­wor­te­ten, al­ler­dings kaum nen­nens­wer­te Un­ter­stüt­zung fan­den. Ton­an­ge­bend blie­ben Stim­men wie die des po­pu­lä­ren Sour­brod­ter Pfar­rers Ni­co­las Piet­kin (1849-1921), wel­cher der fes­ten Über­zeu­gung war, dass la Pe­ti­te Pa­trie wal­lon­ne trotz al­ler Kon­tro­ver­sen la gran­de pa­trie prus­si­en­ne (!) an­ge­hör­te und sich ver­bun­den fühl­te.

5. Erinnerungskultur – Vennbahn – Erster Weltkrieg

Ei­nen Bruch im Na­tio­na­li­sie­rungs­pro­zess stell­te der Kul­tur­kampf bis in die 1880er Jah­re al­le­mal dar, nicht je­doch ei­ne grund­sätz­li­che Be­ein­träch­ti­gung des Deutsch-Wer­dens der Grenz­be­woh­ner. Da­für sorg­ten – wie auch im üb­ri­gen klein­städ­tisch-länd­li­chen Rhein­preu­ßen des 19. Jahr­hun­derts – die viel­fäl­ti­gen Ar­bei­ten am na­tio­na­len Ge­dächt­nis: Der Fest­kul­tur, die von den all­jähr­li­chen Kö­nigs­ge­burts­ta­gen bis zur ein­ma­li­gen Völ­ker­schlacht-Er­in­ne­rung reich­te, und auch der Lo­kal­ge­schichts­schrei­bung man­gel­te es in­des an ei­nem or­ga­ni­sier­ten Bil­dungs­bür­ger­tum, das kol­lek­ti­ves Er­in­nern im Rah­men des preu­ßi­schen, deut­schen und/oder ka­tho­li­schen Iden­ti­täts­an­ge­bo­tes dau­er­haft be­reit­stell­te und po­pu­la­ri­sier­te. Be­am­te, Leh­rer und Pfar­rer wa­ren ‚Ein­zel­kämp­fer’ des his­to­ri­schen und zeit­ge­nös­si­schen Ge­den­kens, de­nen sich erst nach der Reichs­grün­dung und mit der in­ne­ren Na­ti­ons­bil­dung vor al­lem des wil­hel­mi­ni­schen Deutsch­lands mehr Un­ter­stüt­zer und In­ter­es­sier­te zu­wand­ten. Dies glück­te per­so­nell nir­gend­wo so mü­he­los wie bei den zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts er­rich­te­ten Denk­mä­lern, die der Er­in­ne­rung an die er­folg­rei­chen preu­ßi­schen Krie­ge ge­gen Ös­ter­reich und Frank­reich dien­ten und an de­ren Rea­li­sie­rung die Ve­te­ra­nen(ver­bän­de) der bei­den Grenz­krei­se selbst mit­wirk­ten.

Wie sehr sich das Ver­wal­tungs­per­so­nal als per­so­na­li­sier­te Na­ti­on des Grenz­ge­biets – so in den 1880er Jah­ren Eu­pens Ober­bür­ger­meis­ter Theo­dor Moo­ren (1833-1906), seit der Jahr­hun­dert­wen­de auch der Malme­dy­er Land­rat Karl Leo­pold Kauf­mann (1863-1944) – in­te­grie­rend und iden­ti­täts­ver­mit­telnd neu en­ga­gier­te, zeig­te das Bei­spiel des Ei­fel­ver­eins. Er und sei­ne lo­ka­len Vor­läu­fer der Hei­mat­be­we­gung hal­fen au­ßer­dem, je­ne al­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­bar­rie­re zwi­schen den Krei­sen Eu­pen und Malme­dy zu über­win­den. Das Ho­he Venn wirk­te nicht län­ger nur tren­nend, son­dern auch ver­bin­dend – dies galt für die ge­mein­sa­me Auf­ga­be der Kul­tur- wie Na­tur­pfle­ge und nicht zu­letzt für die Ei­sen­bahn.

Die staat­li­che Venn­bahn, de­ren ers­ter Stre­cken­ab­schnitt von (Aa­chen-)Ro­the Er­de über Rae­ren nach Mont­jo­ie (heu­te Mons­chau) im Ju­ni 1885 er­öff­net wur­de, er­schloss die west­li­che Pe­ri­phe­rie für die Zen­tren Deutsch­lands. Drei As­pek­te mar­kie­ren die jahr­zehn­te­lan­ge Be­deu­tung der Venn­bahn zwi­schen Ro­the Er­de und Ul­flin­gen (Lu­xem­burg): die in­fra­struk­tu­rel­le In­wert­set­zung von Venn und Ei­fel und ih­re In­te­gra­ti­on in ei­nen grö­ße­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­raum, die hand­fes­ten wirt­schaft­li­chen In­ter­es­sen am lu­xem­bur­gi­schen wie auch loth­rin­gi­schen Ei­sen­erz, die mi­li­tä­ri­sche Nut­zung mit dem Trup­pen­übungs­platz El­sen­born seit 1895.

Für die Be­völ­ke­rung von Eu­pen, Malme­dy und St. Vith blie­ben die (wal­lo­ni­schen) Bel­gi­er auf der an­de­ren Sei­te der Gren­ze um­gäng­li­che bis un­spek­ta­ku­lä­re Nach­barn – ab­zu­le­sen an „man­nig­fa­chen deutsch-bel­gi­schen Kon­tak­ten wie bei­spiels­wei­se grenz­über­schrei­ten­den Wall­fahr­ten ... Hei­ra­ten, of­fi­zi­el­len Han­dels­kon­tak­ten oder Schmug­gel, der Wahr­neh­mung von Ar­beits­ver­hält­nis­sen oder dem Be­such von Kir­mes­sen im Nach­bar­lan­d“ (Koll, S. 110), die im Lau­fe des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts nicht ab­bre­chen soll­ten. Dies än­der­te sich schlie­ß­lich mit dem Ers­ten Welt­krieg, dem An­fang vom En­de der preu­ßisch-deut­schen Zeit in den Krei­sen Eu­pen und Malme­dy: "Als im Ver­lau­fe des Krie­ges [nach 1914] die Le­bens­mit­tel knap­per wur­den und ich auf un­se­ren Brot­kar­ten nur noch Grau­brot be­kom­men konn­te, gab es in Wel­ken­ra­edt Son­der­zu­tei­lun­gen von Weiß­brot aus ame­ri­ka­ni­schen Lie­fe­run­gen. Die Aus­ga­be er­folg­te abends. Wenn mein Freund und ich da­von hör­ten, stell­ten wir uns mit an und der Bä­cker, der jah­re­lang uns das Brot ge­lie­fert hat­te, drück­te bei­de Au­gen zu und gab auch uns eins. Doch ei­nes Abends – wir stan­den wie­der wie ge­wohnt um Weiß­brot an – rief ei­ner un­se­rer bis­he­ri­gen Wel­ken­ra­ed­ter Freun­de: ‚Dat sönt jeng Wel­ken­der, dat sönt Prü­ße!’ Nur schnel­les Ver­schwin­den be­wahr­te uns da­vor, von den von al­len Sei­ten sich dro­hend er­he­ben­den Fäus­ten zu­sam­men­ge­schla­gen zu wer­den. Jetzt wu­ß­te auch ich, daß Bel­gi­er und Deut­sche Fein­de ge­wor­den wa­ren." (Hom­burg, S. 37)

Ne­ben über­ge­ord­ne­ten und Si­cher­heits­in­ter­es­sen Bel­gi­ens und der Al­li­ier­ten war das bru­ta­le Vor­ge­hen der kai­ser­li­chen Ar­mee ge­gen die Be­völ­ke­rung im neu­tra­len Nach­bar­land mit aus­schlag­ge­bend da­für, dass die rhein­preu­ßi­schen Grenz­krei­se Eu­pen und Malme­dy mit den Be­stim­mun­gen des Ver­sailler Ver­tra­ges 1919 (und ei­ner über­aus be­denk­li­chen Volks­ab­stim­mung im Sep­tem­ber 1920) an Bel­gi­en fie­len.

Quellen

Hom­burg, Leo: Die „Pa­vei“ – Grenz­stra­ße zwi­schen Her­bes­thal und Wel­ken­ra­edt vor 1914. In: Im Göhl­tal 13/1973, S. 34-39.

Literatur

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Le­jeu­ne, Car­lo, „Des Deutsch­tums ferns­ter Wes­ten“. Eu­pen-Malme­dy, die deut­schen Dia­lekt re­den­den Ge­mein­den um Ar­lon und Mont­zen und die ‚West­for­schung‘, in: Dietz, Burk­hard/Ga­bel, Hel­mut/Tie­dau, Ul­rich (Hg.), Griff nach dem Wes­ten. Die „West­for­schun­g“ der völ­kisch-na­tio­na­len Wis­sen­schaf­ten zum nord­west­eu­ro­päi­schen Raum (1919-1960), 1. Teil­band, Müns­ter/New York/Mün­chen/Ber­lin 2003, S. 493-538.
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Zitationshinweis

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Scharte, Sebastian, „Grenzland seit Menschengedenken“ – Eupen, Malmedy, St. Vith zwischen Wiener Kongress und Versailler Vertrag, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/grenzland-seit-menschengedenken-%25E2%2580%2593-eupen-malmedy-st.-vith-zwischen-wiener-kongress-und-versailler-vertrag/DE-2086/lido/57a2efd757f5d9.53734140 (abgerufen am 10.11.2024)