Johann Leuer und der Aufstieg der NSDAP in Kaarst. Eine ortsgeschichtliche Spurensuche

Sven Woelke (Kaarst)

Kundgebung am Kriegerdenkmal in Kaarst, 1.5.1933. (Stadtarchiv Kaarst/StAKaa D 3-12 Nr. 164)

1. Einleitung

Jo­hann Leu­er (1870-1949) war von 1912 bis 1935 Bahn­hofs­vor­ste­her in Ka­arst, ei­ner der Grün­der der NS­DAP-Orts­grup­pe Ka­arst und von 1932 bis 1935 ihr ers­ter Lei­ter. Leu­er ist ein Bei­spiel für ei­nen po­li­tisch in­ter­es­sier­ten und ge­sell­schaft­lich en­ga­gier­ten mitt­le­ren Be­am­ten im ka­tho­lisch ge­präg­ten länd­li­chen Raum, der sich wäh­rend der Wei­ma­rer Zeit zu­neh­mend ra­di­ka­li­sier­te und zu ei­nem Pio­nier der ört­li­chen na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Be­we­gung in Ka­arst wur­de. Ne­ben sei­nem par­tei­po­li­ti­schen En­ga­ge­ment trat er auch als Vor­stands­mit­glied im Ka­ars­ter Zie­gen­zucht­ver­ein, im ört­li­chen Be­am­ten­bund und im Reichs­bahn­land­wir­te­ver­ein Neuss-West in Er­schei­nung. Der fol­gen­de Bei­trag zeich­net den Le­bens­weg Jo­hann Leu­ers so­wie das ra­san­te Wachs­tum der NS­DAP-Orts­grup­pe Ka­arst und ih­re Wahl­er­fol­ge nach. Er ist in der Früh­pha­se des For­schungs­pro­jek­tes zur Stadt­ge­schich­te von Bütt­gen und Ka­arst 1918 bis 1949 ent­stan­den. Er ba­siert gro­ßen­teils auf Quel­len aus der Fe­der Jo­hann Leu­ers.

2. Weg in die NSDAP

Jo­hann Leu­er wur­de am 23.5.1870 als Sohn des Wie­sen­bau­meis­ters Ma­xi­mi­li­an Leu­er (1839-1910) und sei­ner Ehe­frau An­na Ma­ria, ge­bo­re­ne Gö­ser, in Müns­ter­ei­fel ge­bo­ren.[1] Er wur­de ka­tho­lisch ge­tauft; 1939 trat er aus der Kir­che aus. Nach dem Be­such der Volks­schu­le in Müns­ter­ei­fel war Jo­hann Leu­er als Ta­ge­löh­ner in land­wirt­schaft­li­chen und ge­werb­li­chen Be­trie­ben be­schäf­tigt. Sei­nen drei­jäh­ri­gen Mi­li­tär­dienst ab­sol­vier­te er zwi­schen 1890 und 1893 bei dem Küras­sier-Re­gi­ment Graf Ge­ß­ler Rhei­ni­sches Nr. 8 in Deutz (heu­te Stadt Köln). Nach ei­ge­ner Aus­sa­ge war die­se Zeit die lehr­reichs­te sei­nes Le­bens, be­son­ders im Hin­blick auf den mensch­li­chen Um­gang zwi­schen Sol­da­ten und Vor­ge­setz­ten. Er ha­be sich fort­an für die so­zia­le La­ge und die Po­li­tik der So­zi­al­de­mo­kra­tie in­ter­es­siert. Als Ka­tho­lik ha­be er sich an­de­rer­seits der Zen­trums­par­tei ver­bun­den ge­fühlt und sich des­halb da­ge­gen ent­schie­den, der SPD oder ei­ner so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Ge­werk­schaft bei­zu­tre­ten.[2]

Porträt von Johann Leuer in Uniform, 1936. (Stadtarchiv Kaarst/StAKaa D 3-12 Nr. 163)

 

Im Ju­li 1900 hei­ra­te­te er in Müns­ter­ei­fel die Dienst­magd An­na Schruff (1875-1962).[3] Be­reits seit Mai 1900 war Jo­hann Leu­er als Stre­cken­ar­bei­ter bei der Preu­ßi­schen Staats­ei­sen­bahn be­schäf­tigt. Im Selbst­stu­di­um eig­ne­te er sich fort­an die er­for­der­li­chen Kennt­nis­se für den un­te­ren und mitt­le­ren Ei­sen­bahn­dienst an. Nach Sta­tio­nen im Wei­chen- und Te­le­gra­fen­dienst ab­sol­vier­te Leu­er im Ju­ni 1907 er­folg­reich die Vor­prü­fung für den mitt­le­ren nicht­tech­ni­schen Ei­sen­bahn­dienst und wur­de an­schlie­ßend ver­be­am­tet.[4] In die­ser Zeit leb­te die Fa­mi­lie in Köln, zu­nächst in der Nä­he des Süd­bahn­hofs, wo Leu­er Dienst ver­rich­te­te, spä­ter in Zoll­stock. Über die Zwi­schen­sta­ti­on Rhe­ydt (heu­te Stadt Mön­chen­glad­bach) ka­men die Leu­ers 1912 nach Ka­arst, nach­dem Jo­hann an den dor­ti­gen Bahn­hof ver­setzt wor­den war. Auf dem Pos­ten des Bahn­hofs­vor­ste­hers ver­blieb Jo­hann Leu­er bis zu sei­nem Ein­tritt in den Ru­he­stand 1935.[5]

Auf­grund sei­nes Al­ters und als Ei­sen­bah­ner wur­de Jo­hann Leu­er im Ers­ten Welt­krieg nicht zum Front­dienst ein­ge­zo­gen. Je­doch sah er rück­bli­ckend in die­ser Zeit die Wur­zel sei­ner po­li­ti­schen Ra­di­ka­li­sie­rung: Die un­ge­rech­te, von den So­zi­al­de­mo­kra­ten be­herrsch­te Aus­übung der […] Zwangs­wirt­schaft und das Ge­ba­ren des Zen­trums­ab­ge­ord­ne­ten Erz­ber­ger mach­ten mich zum wü­ten­den Has­ser al­ler mar­xis­ti­schen Ide­en. Aus die­sen Grün­den ver­wei­ger­te Leu­er im No­vem­ber 1918 auch sei­ne Mit­ar­beit im Ka­ars­ter Ar­bei­ter- und Bau­ern­rat. Das Er­leb­nis der bel­gi­schen Be­sat­zung Ka­arsts ver­schärf­te Leu­ers na­tio­na­lis­ti­sche Ra­di­ka­li­sie­rung in den 1920er Jah­ren.

Belegschaft des Kaarster Bahnhofs, 1914. (Stadtarchiv Kaarst/StAKaa E 3 Nr. 2)

 

Im Vor­feld der Reichs­prä­si­den­ten­wahl 1925 un­ter­stütz­te Jo­hann Leu­er öf­fent­lich den an­ti­re­pu­bli­ka­ni­schen „Reichs­blo­ck“, der sich im ers­ten Wahl­gang hin­ter dem DNVP-Kan­di­da­ten Karl Jar­res und im zwei­ten Wahl­gang hin­ter Paul von Hin­den­burg (1847-1934) ver­sam­mel­te.[6] 

Nach dem Be­such des Stahl­helm­tags in Düs­sel­dor­f im Mai 1926, trat er dem gleich­na­mi­gen Bund bei und nahm an den fol­gen­den Bun­des­ta­gen in Ber­lin, Ham­burg, Mün­chen, Ko­blen­z und Bres­lau ak­tiv teil. Hier kam er nach ei­ge­nen An­ga­ben mit den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in Kon­takt. Auch hät­ten ihn die Kam­pa­gnen der NS­DAP bei dem Volks­ent­scheid ge­gen den Young-Plan 1929 und der Harz­bur­ger Ta­gung 1931 be­ein­druckt. Be­reits bei den Reichs­tags­wah­len 1930 sei er of­fen für die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ein­ge­tre­ten. Er ha­be als ei­ner der ers­ten Ka­ars­ter die neu­ge­grün­de­te ers­te Par­tei­zei­tung der NS­DAP, die Volks­pa­ro­le, abon­niert, aus der ab 1935 die Rhei­ni­sche Lan­des­zei­tung her­vor­ging. Zu­dem ha­be er Hit­lers „Mein Kampf“ stu­diert.[7] 

3. NSDAP-Ortsgruppe Kaarst

Zum 1.12.1931 trat Leu­er ge­mein­sam mit meh­re­ren Ka­ars­tern dem NS­DAP-Stütz­punkt (spä­ter Orts­grup­pe) Bütt­gen ein.[8] Die­ser war be­reits am 1.7.1930 vom spä­te­ren Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten Hein­rich Il­bertz (1891-1974) ge­grün­det wor­den und zähl­te im ers­ten Quar­tal des Jah­res 1932 20 Mit­glie­der.[9] Gleich­zei­tig mit dem Par­tei­ein­tritt trat Jo­hann Leu­er auch der SA bei und aus dem Stahl­helm­bund aus. Am 1.5.1933 wur­de er zum SA-Sturm­füh­rer er­nannt.

Par­tei­mit­glied konn­te 1930 grund­sätz­lich je­der wer­den, der „un­be­schol­ten“ und An­ge­hö­ri­ger des deut­schen Vol­kes war, der das 18. Le­bens­jahr voll­endet hat­te und ari­scher Ab­kunft war. Das Par­tei­auf­nah­me­ver­fah­ren war streng for­ma­li­siert: Der Kan­di­dat muss­te zu­nächst ein Auf­nah­me­for­mu­lar aus­fül­len, die­ses un­ter­zeich­nen und bei der zu­stän­di­gen Orts­grup­pe be­zie­hungs­wei­se dem zu­stän­di­gen Stütz­punkt ab­ge­ben; im vor­lie­gen­den Fall Leu­er bei dem Stütz­punkt Bütt­gen. Der ört­li­che Lei­ter muss­te sei­ne Zu­stim­mung auf dem For­mu­lar ver­mer­ken und die­ses über die je­weils zu­stän­di­ge Kreis- und Gau- an die Reichs­lei­tung der Par­tei in Mün­chen wei­ter­rei­chen, wo über die Auf­nah­me ent­schie­den wur­de.[10]

Am 7.5.1932 spal­te­te sich ei­ne acht­köp­fi­ge Grup­pe um Jo­hann Leu­er vom NS­DAP-Stütz­punkt Bütt­gen ab, um in Ka­arst ei­nen ei­ge­nen Stütz­punkt zu grün­den. Jo­hann Leu­er über­nahm des­sen Lei­tung. Erst durch den Mit­glie­der­zu­wachs nach der Macht­über­nah­me durch die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten wur­de der Stütz­punkt zu ei­ner Orts­grup­pe her­auf­ge­stuft.[11] Ei­ne Orts­grup­pe war grund­sätz­lich die un­ters­te, ört­li­che Grup­pie­rung in der Par­tei­or­ga­ni­sa­ti­on. Un­ter­halb der Orts­grup­pe gab es noch Zel­len, Blö­cke und Haus­ge­mein­schaf­ten als Hilfs­stel­len des Orts­grup­pen­lei­ters. Ein Stütz­punkt war wie ei­ne Orts­grup­pe ei­ne selbst­stän­di­ge, ört­li­che Par­tei­ein­heit, wel­che eben­so über ei­nen ei­ge­nen po­li­ti­schen Lei­ter ver­füg­te und aus we­nigs­tens zwei Zel­len be­stand. Im Un­ter­schied zur Orts­grup­pe hat­te ein Stütz­punkt je­doch we­ni­ger als 50 Mit­glie­der. Ei­ne Orts­grup­pe auf dem Lan­de soll­te wie­der­um nicht mehr als 1.500 Mit­glie­der ha­ben. Idea­ler­wei­se um­fass­te ei­ne Haus­grup­pe bis zu 15 Haus­hal­tun­gen, ein Block wie­der­um vier bis sechs Haus­grup­pen und ei­ne Zel­le bis zu acht Blö­cke.[12] Die Orts­grup­pe Ka­arst war im Jahr 1938 in vier Zel­len mit 26 Blö­cken un­ter­teilt, in de­nen 2.885 Ein­woh­ner in 450 Haus­hal­ten leb­ten.[13]

Der eh­ren­amt­li­che NS­DAP-Orts­grup­pen­lei­ter war der so­ge­nann­te „Ho­heits­trä­ger“ der Orts­grup­pe und un­mit­tel­bar dem NS­DAP-Kreis­lei­ter un­ter­stellt. Die Be­ru­fung (hin­sicht­lich der Dienst­stel­lung) als Orts­grup­pen­lei­ter er­folg­te durch den Kreis­lei­ter, sei­ne Er­nen­nung (hin­sicht­lich des Dienst­gra­des) durch den Gau­lei­ter. Der Gau­lei­ter konn­te den Orts­grup­pen­lei­ter wie­der­um auf An­trag des Kreis­lei­ters ab­be­ru­fen. Mit an­de­ren Wor­ten: Der Orts­grup­pen­lei­ter wur­de nicht durch die Mit­glie­der der Orts­grup­pe ge­wählt. So­mit war er nicht den Mit­glie­dern, son­dern ein­zig und al­lein sei­nen vor­ge­setz­ten Kreis- und Gau­lei­tern ver­ant­wort­lich. Dem Orts­grup­pen­lei­ter wie­der­um un­ter­stan­den in­ner­halb der Orts­grup­pe al­le po­li­ti­schen Lei­ter – Or­ga­ni­sa­ti­ons­lei­ter, Schu­lungs­lei­ter, Pro­pa­gan­dalei­ter, Kas­sen­lei­ter – und al­le Ob­män­ner, Wal­ter und War­te der an­ge­schlos­se­nen Ver­bän­de. Ne­ben der Re­prä­sen­ta­ti­on der Par­tei nach au­ßen hat­te der Orts­grup­pen­lei­ter auch in­ner­par­tei­li­che Ver­wal­tungs­auf­ga­ben wie Ar­beits- und Ver­an­stal­tungs­pla­nung, Sta­tis­ti­ker­stel­lung, Wei­ter­lei­tung der Par­tei­mel­dun­gen, Be­schaf­fung der Par­tei­be­klei­dung und die Bei­trei­bung der Mit­glieds­bei­trä­ge zu leis­ten. Dar­über hin­aus war er ver­ant­wort­lich für die För­de­rung des so­ge­nann­ten „Füh­rer­nach­wuch­ses“, die Mit­ar­bei­ter­über­wa­chung, die Be­spre­chun­gen mit den po­li­ti­schen Lei­tern der Orts­grup­pe und Funk­tio­nä­ren der an­ge­schlos­se­nen Ver­bän­de, so­wie die Über­wa­chung der Zel­len und Blö­cke, die welt­an­schau­li­che Schu­lung und die Durch­füh­rung von Ver­an­stal­tun­gen. Nicht zu­letzt hat­te er die Auf­ga­be, die in der Orts­grup­pe le­ben­de Be­völ­ke­rung zu be­ra­ten und zu über­wa­chen. In die­ser Rol­le hat­te er po­li­ti­sche Be­ur­tei­lun­gen über Per­so­nen an hö­he­re Par­tei­dienst­stel­len ab­zu­ge­ben. Wäh­rend des Krie­ges ka­men noch die Mit­wir­kung bei der Kin­der­land­ver­schi­ckung, der Eva­ku­ie­rung, beim Volks­sturm und bei Schanz­ar­bei­ten so­wie die Über­brin­gung der Ge­fal­le­nen­mel­dung hin­zu. Die Un­ter­glie­de­run­gen ei­ner Orts­grup­pe, Zel­le und Block, wur­den wie­der­um von ei­nem Zel­len- be­zie­hungs­wei­se Block­lei­ter an­ge­führt. Die­se wur­den durch den Orts­grup­pen­lei­ter be­ru­fen und durch den Kreis­lei­ter er­nannt. Letz­te­rer war auch für die Amts­ent­he­bung zu­stän­dig. Der Zel­len­lei­ter un­ter­stand dem Orts­grup­pen­lei­ter; der Block­lei­ter dem Zel­len­lei­ter.[14]   Kurz­um: Der Orts­grup­pen­lei­ter war für al­le po­li­ti­schen Fra­gen in sei­nem Ort zu­stän­dig, und das ört­li­che po­li­ti­sche Le­ben war auf ihn aus­ge­rich­tet.

Mitglieder der Kaarster Ortsgruppe des Stahlhelms, 1932. (Stadtarchiv Kaarst/StAKaa D 3-3 Nr. 49)

 

Jo­hann Leu­er schied im Fe­bru­ar 1935 aus sei­nem Amt als Orts­grup­pen­lei­ter aus. Aus wel­chen Grün­den bleibt zu­nächst of­fen. Auch spre­chen die Quel­len ei­ner­seits von Rück­tritt, an­de­rer­seits von Ent­he­bung, wie­der­um an­de­re von Al­ters­grün­den. Der ört­li­che Lei­ter der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Volks­wohl­fahrt (NSV) Paul Rött­gens (1885-1964) be­zich­tig­te in sei­nem Ent­na­zi­fi­zie­rungs­ver­fah­ren Leu­er der Ver­un­treu­ung, wes­halb Rött­gens Leu­er bei der Gau­lei­tung in Düs­sel­dorf an­ge­zeigt ha­be. Dar­auf­hin sei Leu­er als Orts­grup­pen­lei­ter ab­ge­setzt wor­den. An die­ser Stel­le ste­hen noch wei­te­re For­schun­gen aus. Leu­ers Nach­fol­ger als Orts­grup­pen­lei­ter hät­ten ihn dann nach sei­nen An­ga­ben von je­der wei­te­ren Mit­ar­beit fern­ge­hal­ten.[15] Gleich­wohl ha­be er wei­ter­hin an al­len Ver­samm­lun­gen und An­läs­sen der
NS­DAP teil­ge­nom­men und sei­ne Orts­grup­pen­lei­ter­uni­form bis zum Ein­marsch der Al­li­ier­ten öf­fent­lich ge­tra­gen.[16]

Der Main­zer Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Jür­gen W. Fal­ter hat in sei­ner 2020 er­schie­ne­nen Stu­die „Hit­lers Par­tei­ge­nos­sen“ drei Pha­sen der Mit­glie­der­be­we­gun­gen in die NS­DAP her­aus­ge­ar­bei­tet:

  1. Die Be­we­gungs­pha­se, zwi­schen der Grün­dung der (NS)DAP 1920 und dem Par­tei­ver­bot in­fol­ge des Hit­ler­put­sches 1923;
  2. Die Kampf­pha­se, zwi­schen der Neu­grün­dung 1925 und der Macht­über­nah­me am 30.1.1933;
  3. Die Sys­tem­pha­se, zwi­schen der Macht­über­nah­me und dem Ver­bot und der Auf­lö­sung der Par­tei 1945.[17] 

Die Be­we­gungs­pha­se ist für Ka­arst un­be­deu­tend, da der ers­te Ka­ars­ter erst 1930 der Par­tei bei­trat. Im Mai 1932 spal­te­te sich wie er­wähnt ei­ne acht­köp­fi­ge Grup­pe um Jo­hann Leu­er von der Orts­grup­pe Bütt­gen ab, um in Ka­arst ei­nen ei­ge­nen Stütz­punkt zu grün­den. Bis Ja­nu­ar 1933 tra­ten wei­te­re sechs Män­ner der Orts­grup­pe bei. Wir zäh­len so­mit 14 Mit­glie­der am En­de der Kampf­pha­se. 

Der enor­me An­stieg der Mit­glie­der­zah­len be­gann in Ka­arst nicht et­wa in den ers­ten Wo­chen nach der Macht­über­nah­me der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten im Reich, als die Ein­schüch­te­rung der Op­po­si­ti­on durch Ver­fol­gung und Ter­ror ih­ren An­fang nahm. In­wie­weit die­se Maß­nah­men auch in Ka­arst vor Ort spür­bar wa­ren, ist bis­lang un­er­forscht. Je­den­falls trat hier im Fe­bru­ar 1933 nie­mand in die Par­tei ein. Erst mit den für die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten er­folg­rei­chen Reichs­tags­wah­len am 5.3. und den fol­gen­den Ge­mein­de­rats­wah­len am 12.3. be­gann der An­sturm auf die Par­tei. Be­feu­ert wur­de die­ser durch die An­kün­di­gung, die Par­tei­auf­nah­me zum 1.5.1933 zu schlie­ßen. Hit­ler hat­te den Auf­nah­me­stopp lan­ge vor der Macht­über­nah­me an­ge­dacht, um den Cha­rak­ter ei­ner Par­tei der Re­vo­lu­tio­nä­re zu er­hal­ten, und nicht ei­ne Par­tei der Op­por­tu­nis­ten und Tritt­brett­fah­rer zu wer­den. Ein wei­te­rer, weit­aus prak­ti­scher Grund dürf­te ge­we­sen sein, dass die Par­tei der Auf­nah­me­an­trä­ge nicht mehr Herr wur­de. Reichs­weit wa­ren es fast ein­ein­halb Mil­lio­nen Men­schen, wel­che zum 1.5.1933 Par­tei­mit­glie­der wur­den. Das zen­tra­le Mit­glied­schafts­amt war noch bis ins Jahr 1936 da­mit be­schäf­tigt, die An­trä­ge aus dem Früh­jahr 1933 ab­zu­ar­bei­ten.[18] Ein ähn­li­ches Bild se­hen wir in Ka­arst: Bis zum 1.5.1933 wur­den wei­te­re 57 Men­schen Par­tei­ge­nos­sen. Im Ver­gleich zum 1.5.1932 hat­te sich die Mit­glie­der­zahl da­mit na­he­zu ver­neun­facht.

Ab dem 1.5.1933 bis zum 20.4.1937 wur­den nur noch An­ge­hö­ri­ge der Hit­ler­ju­gend (HJ), des Bun­des Deut­scher Mä­del (BDM) und der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Be­triebs­zel­len­or­ga­ni­sa­ti­on (NS­BO) so­wie der Sturm­ab­tei­lung (SA) und der Schutz­staf­fel (SS) in die Par­tei auf­ge­nom­men. Bis zum 1.6.1934 wur­den wei­te­re 45 Men­schen in die Orts­grup­pe Ka­arst auf­ge­nom­men. In­wie­weit die­se den ge­nann­ten NS-Or­ga­ni­sa­tio­nen ent­stamm­ten, bleibt zu­nächst un­klar. Die ehe­ma­li­gen Mit­glie­der des Stahl­helms, der in Ka­arst durch­aus prä­sent war, wur­den in ei­ner Son­der­ak­ti­on zum 1.4.1936 in die Par­tei auf­ge­nom­men, so­fern die­se nicht schon zu­vor in die SA über­führt wor­den wa­ren.[19] 

Bis zur Macht­über­nah­me 1933 ge­hör­te der NS­DAP-Gau Düs­sel­dorf, zu dem auch die Orts­grup­pe Ka­arst zähl­te, zu den Dia­spor­a­ge­bie­ten mit den we­nigs­ten Ein­trit­ten im Ver­gleich zur Ein­woh­ner­zahl.[20] Die Par­tei­sta­tis­tik zum 1.1.1935 zeigt, dass 74 Pro­zent der Par­tei­mit­glie­der im Gau Düs­sel­dorf nach dem 30.1.1933 ein­ge­tre­ten sind. Der Reichs­durch­schnitt be­trug im Ver­gleich 66 Pro­zent.

In Ka­arst kam Mit­te der 1930er Jah­re ein NS­DAP-Mit­glied auf 26,7 Ein­woh­ner.[21] Da­mit liegt Ka­arst ziem­lich ge­nau im Reichs­durch­schnitt von ei­nem Mit­glied auf 26,5 Ein­woh­ner.[22] 

Mit dem Früh­jahr 1933 fo­kus­sier­te sich die Po­li­ti­sche Or­ga­ni­sa­ti­on der
NS­DAP nicht mehr auf Wahl­kämp­fe, son­dern auf die In­te­gra­ti­on der Neu­mit­glie­der durch Schu­lun­gen, Fei­er­lich­kei­ten und an­de­re Ver­an­stal­tun­gen, um den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus er­leb­bar zu ma­chen und die Men­schen von kon­kur­rie­ren­den An­ge­bo­ten wie Kir­che und Ge­werk­schaf­ten zu ent­frem­den.[23]

4. Der 1.5.1933 in Kaarst

Ein Bei­spiel für die Ver­ein­nah­mung durch die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in Ka­arst war der Tag der Ar­beit am 1.5.1933: Zum Auf­takt der Fei­er­lich­kei­ten fand mor­gens ei­ne Flag­gen­pa­ra­de vor dem da­ma­li­gen Rat­haus in der heu­ti­gen Mit­tel­stra­ße statt. Im An­schluss be­such­ten die Uni­for­mier­ten ei­nen Got­tes­dienst in der Kir­che St. Mar­tin. Zwi­schen 9 und 10 Uhr ver­sam­mel­ten sich Ju­gend­li­che und Er­wach­se­ne im Gro­ßen Saal des Gast­hau­ses Mi­chels, um die Rund­funk­über­tra­gung der zen­tra­len Kund­ge­bung in Ber­lin zu hö­ren. Von dort aus zog die Ver­samm­lung zum Krie­ger­denk­mal, wo zu Eh­ren Hit­lers ei­ne Ei­che ge­pflanzt wur­de und Jo­hann Leu­er ei­ne An­spra­che hielt. Nach ei­nem Zug durch den Ort fand wie­der­um vor dem Rat­haus ein Pa­ra­de­marsch statt. Die Fei­er­lich­kei­ten mün­de­ten in ei­ner Volks­ver­samm­lung im Gast­haus Mi­chels. Nach der Be­grü­ßung durch Jo­hann Leu­er spra­chen Eu­gen Hei­manns (1900-1977) als Ver­tre­ter des Stahl­helms und der Leh­rer Hanns Knapstein (1894-1967) als Ver­tre­ter der DNVP. Beim ge­mein­sa­men Ge­sang des Sol­da­ten­lie­des „O Deutsch­land hoch in Eh­ren“ fass­ten sich al­le drei an den Hän­den, um die Ver­ei­ni­gung der na­tio­na­len Be­we­gun­gen zu ver­sinn­bild­li­chen. Die Fest­re­de über die ge­schicht­li­che Ent­wick­lung des Ar­bei­ter­stands hielt der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Kreis­tags­ab­ge­ord­ne­te Max Leu­er (1901-1988), der äl­tes­te Sohn Jo­hanns.[24] 

Mitgliederentwicklung der NSDAP-Ortsgruppe Kaarst bis Sommer 1934. (Stadtarchiv Kaarst/Zusammengestellt nach StAKaa E 3 Nr. 1)

 

5. Die NSDAP bei Wahlen in Kaarst

Wie sa­hen die Wahl­er­geb­nis­se der NS­DAP in Ka­arst aus? Bei den Reichs­tags­wah­len 1924 und 1928 ist ihr Stim­men­an­teil kaum wahr­nehm­bar. Im Sep­tem­ber 1930 fei­er­te die NS­DAP im Reich ih­ren ers­ten gro­ßen Ab­stim­mungs­er­folg, der ei­nen wah­ren Bei­tritts­schub im Reich aus­lös­te. Wir er­in­nern uns, dass Jo­hann Leu­er sich bei die­ser Wahl erst­mals of­fen zur NS­DAP be­kann­te. Mit ei­nem Stim­men­an­teil von nur 8,1 Pro­zent in Ka­arst lan­de­te die NS­DAP trotz­dem vor der KPD und der SPD. Bei den Reichs­tags­wah­len 1932 wur­de die NS­DAP mit 20,6 Pro­zent be­zie­hungs­wei­se 16,9 Pro­zent je­weils zweit­stärks­te Kraft und ließ die deutsch­na­tio­na­le DNVP hin­ter sich. In­wie­weit es sich be­reits aus­wirk­te, dass der ört­li­che Wahl­kampf erst­mals von dem NS­DAP-Stütz­punkt Ka­arst durch­ge­führt wur­de, bleibt zu­nächst of­fen. Am 5.3.1933 nä­her­te sich das Wahl­er­geb­nis der NS­DAP in Ka­arst mit 37 Pro­zent der Stim­men erst­mals dem Er­geb­nis im Reich an. Die Zen­trums­par­tei er­reich­te an die­sem Wahl­tag erst­mals nur 40,4 Pro­zent der Stim­men. Rech­net man den Stim­men­an­teil der DNVP von 13,5 Pro­zent mit dem der NS­DAP zu­sam­men, gab es in Ka­arst erst­mals ei­ne hauch­dün­ne rech­te, an­ti­de­mo­kra­ti­sche Mehr­heit. Da die Stim­men­an­tei­le von KPD und SPD so­wie der DNVP in Ka­arst über die Wei­ma­rer Zeit durch­weg kon­stant ge­blie­ben wa­ren und al­lein die Zen­trums­par­tei mas­si­ve Stim­men­ver­lus­te ein­ge­fah­ren hat­te, liegt die Ver­mu­tung na­he, dass es bei vie­len Wäh­lern der NS­DAP um ehe­ma­li­ge Zen­trums­wäh­ler han­delt.[25]

Gleich­wohl war bei den Ka­ars­ter Wäh­lern we­der die Bin­dung zur Par­tei noch die Über­zeu­gungs­kraft der ört­li­chen Kan­di­da­ten be­son­ders stark. Ei­ne Wo­che nach den Reichs­tags­wah­len fand am 12.3.1933 die Wahl des ört­li­chen Ge­mein­de­ra­tes statt. Jo­hann Leu­er trat als Spit­zen­kan­di­dat sei­ner Par­tei an, wel­che im bis­he­ri­gen Ge­mein­de­rat nicht ver­tre­ten war. Die NS­DAP konn­te nur 14,1 Pro­zent der Stim­men auf sich ver­ei­ni­gen und er­lang­te da­mit zwei von zwölf Sit­zen. Ne­ben Jo­hann Leu­er wur­de Karl Ge­u­er (geb. 1896) zwei­ter brau­ner Ge­mein­de­ver­tre­ter. Gleich­wohl ge­lang es der NS­DAP rasch Un­ter­stüt­zer im Ge­mein­de­rat zu ge­win­nen. Be­reits in der ers­ten Sit­zung im April 1933 wur­de mit Wil­helm Mi­chels (1896-1959) der ers­te Par­tei­ge­nos­se zum Bei­ge­ord­ne­ten der Ge­mein­de ge­wählt. Zum 1.5.1933 trat Paul Rött­gens, der über die Lis­te Hand­werk, Ge­wer­be, Haus- und Grund­be­sitz in den Ge­mein­de­rat ge­wählt wor­den, in die NS­DAP über. Er über­nahm zu­dem das Par­tei­amt des ört­li­chen Lei­ters der NSV. Auf den Tag ein Jahr spä­ter folg­ten Rött­gens auch sei­ne Frak­ti­ons­kol­le­gen Ja­kob Oden­thal (1866-1939) und Karl Her­wig (1897-1971) so­wie Jo­hann Scha­ges (1890-1945), der 1933 über die Lis­te Bau­ern und Land­volk in den Ge­mein­de­rat ge­wählt wor­den war, in die NS­DAP. Scha­ges be­klei­de­te das Amt des Orts­bau­ern­füh­rers, des ört­li­chen Lei­ters des Reichs­nähr­stan­des. Mit den Über­trit­ten kam die NS­DAP 1934 so­mit be­reits auf sechs von zwölf Sit­zen im Ge­mein­de­rat.[26] 

Jo­hann Leu­er ge­hör­te dem Ka­ars­ter Ge­mein­de­rat bis Ok­to­ber 1934 an. Mit der Ein­füh­rung der Deut­schen Ge­mein­de­ord­nung im Ja­nu­ar 1935 wur­den die An­ge­hö­ri­gen der Ge­mein­de­ver­tre­tung fort­an nicht mehr ge­wählt, son­dern durch die Par­tei im Be­neh­men mit dem Bür­ger­meis­ter be­stimmt. Jo­hann Leu­er wur­de nicht mehr be­ru­fen. Mit dem Aus­schei­den Jo­hann Leu­ers aus dem Ge­mein­de­rat und aus dem Amt des Orts­grup­pen­lei­ters schei­nen sei­ne po­li­ti­sche Tä­tig­keit und Par­tei­kar­rie­re be­en­det wor­den zu sein.

6. Internierung

Am 6.4.1945, gut ei­nen Mo­nat nach der Er­obe­rung von Ka­arst durch die al­li­ier­ten Streit­kräf­te, wur­de Jo­hann Leu­er in sei­nem Gar­ten in Ka­arst von den Be­sat­zungs­mäch­ten ver­haf­tet und zu­nächst in Neuss im Ge­richts­ge­fäng­nis und in Aa­chen in­haf­tiert. Vom 8.5. bis zum 4.10.1945 war er schlie­ß­lich in ei­nem bri­ti­schen La­ger im Po­li­zei­prä­si­di­um in Wup­per­tal in­ter­niert.[27] 

Wäh­rend der In­ter­nie­rung Jo­hann Leu­ers be­schlag­nahm­te die Amts­ver­wal­tung Bütt­gen in Ka­arst sein Fahr­rad und sein Bett. Das Fahr­rad wur­de als Er­satz an Hein­rich Schie­fer wei­ter­ge­ben, des­sen Fahr­rad 1933 wie­der­um auf An­ord­nung der ört­li­chen NS­DAP be­schlag­nahmt wor­den war. Das Bett wur­de für die auf der Lau­ven­burg sta­tio­nier­ten Be­sat­zungs­trup­pen be­nö­tigt. Nach sei­ner Rück­kehr aus der In­ter­nie­rung be­müh­te sich Jo­hann Leu­er bis 1947 ver­geb­lich um die Rück­ga­be bei­der Sa­chen. Die Rück­for­de­rung sei­nes Fahr­ra­des be­grün­de­te Leu­er un­ter an­de­rem da­mit, dass er die­ses als Ver­trau­ens­mann der Be­zirks­grup­pe der Reichs­bahn­land­wirt­schaft in Köln be­nö­ti­ge, die ihn zur Mit­ar­beit beim Wie­der­auf­bau er­neut be­stä­tigt ha­be.[28]

Aus sei­ner In­ter­nie­rungs­zeit hat Jo­hann Leu­er um­fang­rei­che No­ti­zen auf klei­nen Zet­teln hin­ter­las­sen. Die­se Schrift­stü­cke ent­hal­ten Be­mer­kun­gen zum La­ger­le­ben, auch po­li­ti­sche Be­ob­ach­tun­gen zu den Atom­bom­ben­ab­wür­fen in Ja­pan, per­sön­li­che Er­in­ne­run­gen an sei­ne Fa­mi­lie und sei­ne Mi­li­tär­zeit, so­wie auch Er­in­ne­run­gen an die Zwi­schen­kriegs­zeit in Ka­arst.[29] In die­sen Auf­zeich­nun­gen ent­hal­ten ist auch die dürf­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung Jo­hann Leu­ers mit der ei­ge­nen po­li­ti­schen Ver­ant­wor­tung und Schuld: Ich kann doch ge­wiß nicht sa­gen, daß ich mit­schul­dig sei an die­sem Krieg und sei­nem Op­fer­gang; das wä­re doch ei­ne zu of­fen­kun­di­ge Lü­ge. Die ein­zi­ge Schuld ist, daß ich in der elen­den La­ge, in der sich un­ser Volk und Land be­fand, Mit­glied der NS­DAP wur­de, ak­tiv als Orts­grup­pen­lei­ter tä­tig war und ei­ne un­ge­ahn­te Bes­se­rung der wirt­schaft­li­chen La­ge un­se­res Vol­kes oh­ne Krieg her­bei füh­ren half.[30]

7. Entnazifizierung

Der per­sön­li­chen In­haf­tie­rung folg­te die Ent­na­zi­fi­zie­run­g Jo­hann Leu­ers. Die Ent­na­zi­fi­zie­rung der deut­schen Be­völ­ke­rung ging auf ei­nen all­ge­mei­nen Be­schluss der Sie­ger­mäch­te auf der Pots­da­mer Kon­fe­renz im Som­mer 1945 zu­rück. Der Be­schluss wur­de von den Be­sat­zungs­mäch­ten je­doch un­ter­schied­lich aus­ge­führt. Die Bri­ten über­nah­men die ame­ri­ka­ni­sche Di­rek­ti­ve vom 26.4.1945, wel­che die Ent­fer­nung ak­ti­ver Na­tio­nal­so­zia­lis­ten aus dem öf­fent­li­chen Le­ben an­fangs re­gel­te. Dem­nach wur­den un­ter an­de­rem Per­so­nen, wel­che be­reits vor dem 1.4.1933 Mit­glied der NS­DAP ge­we­sen wa­ren, aus ih­ren Ar­beits­ver­hält­nis­sen ent­las­sen. Die Ent­na­zi­fi­zie­rungs­maß­nah­men der Jah­re 1945/46 ver­lie­fen un­ge­ord­net und re­gio­nal un­ein­heit­lich. Dies hat­te mit­un­ter zur Fol­ge, dass bei kon­se­quen­ter Ent­na­zi­fi­zie­rung gan­ze Ver­wal­tungs­zwei­ge hand­lungs­un­fä­hig ge­wor­den wä­ren. Am 12.1.1946 er­ließ der Al­li­ier­te Kon­troll­rat ver­bind­li­che Ent­na­zi­fi­zie­rungs­richt­li­ni­en für ganz Deutsch­land. Fünf Ta­ge spä­ter prä­zi­sier­te die Bri­ti­sche Mi­li­tär­re­gie­rung die Richt­li­ni­en mit Aus­füh­rungs­be­stim­mun­gen. Dem­nach wur­den in je­dem Stadt- und Land­kreis je ein mit Deut­schen be­setz­ter Ent­na­zi­fi­zie­rungs­aus­schuss ein­ge­rich­tet, wel­cher wie­der­um ört­li­che Ko­mi­tees oder Un­ter­aus­schüs­se bil­den konn­te. Die­se Aus­schüs­se wur­den mit Per­so­nen aus al­len so­zia­len Schich­ten be­setzt. Die Be­set­zungs­vor­schlä­ge wur­den von den po­li­ti­schen Par­tei­en ein­ge­reicht. Erst auf der obe­ren Ebe­ne der Be­ru­fungs­aus­schüs­se muss­te ein Ju­rist den Vor­sitz füh­ren. Im Ok­to­ber 1946 wur­de in der bri­ti­schen Zo­ne ein Sys­tem aus fünf Ka­te­go­ri­en ein­ge­führt:
I: Haupt­schul­di­ge
II: Be­las­te­te
III: Min­der­be­las­te­te
IV: Mit­läu­fer
V: Ent­las­te­te.
Die Ein­stu­fung in die Ka­te­go­ri­en I und II be­hielt sich die Mi­li­tär­re­gie­rung ge­ne­rell vor. Die in den Stu­fen  III und IV Ein­ge­ord­ne­ten muss­ten sich bei der Po­li­zei re­gis­trie­ren las­sen. Gleich­zei­tig gal­ten für sie Be­we­gungs­be­schrän­kun­gen. Auch ver­lo­ren sie ihr pas­si­ves Wahl­recht. Zu­sätz­lich konn­ten Kon­ten und Ver­mö­gen ge­sperrt wer­den. Für Min­der­be­las­te­te konn­ten zu­dem An­stel­lungs­be­schrän­kun­gen er­las­sen wer­den.[31]

Erst­mals füll­te Jo­hann Leu­er den Fra­ge­bo­gen der Mi­li­tär­re­gie­rung zur Ent­na­zi­fi­zie­rung im No­vem­ber 1945 aus. Die­ser Fra­ge­bo­gen wur­de von der Reichs­bahn­di­rek­ti­on Köln be­ar­bei­tet. Sein En­ga­ge­ment als NS­DAP-Orts­grup­pen­lei­ter und als SA-Sturm­füh­rer reich­te aus, ihn als Ak­ti­vis­ten ein­zu­stu­fen. An­schei­nend auf­grund die­ser Ein­stu­fung wur­de zum 1.2.1946 sein Ru­he­ge­halt als Reichs­bahn­se­kre­tär ge­sperrt.[32] Jo­hann Leu­er war von nun an oh­ne Ein­kom­men.

Im Ju­ni 1947 wand­te er sich mit der Bit­te an das ört­li­che Ka­ars­ter Ent­na­zi­fi­zie­rungs­ko­mi­tee, ihm ein aus­führ­li­ches po­li­ti­sches Zeug­nis aus­zu­stel­len, um sei­ne Pen­si­on wie­der­zu­er­lan­gen.[33] Ne­ben dem üb­li­chen Fra­ge­bo­gen reich­te er Ent­las­tungs­zeug­nis­se zwei­er Ka­ars­ter Pri­vat­per­so­nen ein, wel­che ihm be­stä­tig­ten, dass er sei­ne be­ruf­li­che Stel­lung und sein Par­tei­amt nicht mit­ein­an­der ver­quickt und auch in po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen nie Gren­zen über­schrit­ten ha­be.[34] Die Stel­lung­nah­me des Ka­ars­ter Ko­mi­tees fiel kurz aus: Leu­er war bis 1935 Orts­grup­pen­lei­ter. Bis da­hin hat er für die Par­tei ge­stan­den. Es ist nicht be­kannt, daß er je­mand per­sön­lich ge­schä­digt hat. Leu­er galt all­ge­mein als pflicht­treu­er Bahn­be­am­ter. Auf­grund sei­nes ho­hen Al­ters wird dies­seits ei­ne Pen­si­on be­für­wor­tet.[35] Der Ent­na­zi­fi­zie­rungs­aus­schuss des Land­krei­ses Gre­ven­broich reich­te die­se Emp­feh­lung im No­vem­ber 1947 an die Reichs­bahn­di­rek­ti­on Köln wei­ter.[36]

Je­doch konn­ten sich an­schei­nend we­der der Ent­na­zi­fi­zie­rungs­aus­schuss in Gre­ven­broich noch der hö­her­ran­gi­ge Ent­na­zi­fi­zie­rungs­haupt­aus­schuss für den Re­gie­rungs­be­zirk Köln ent­schlie­ßen, Leu­er ein­zu­stu­fen und da­mit auch sei­ne Pen­si­on zu re­geln. Statt­des­sen wur­de Leu­ers Fall im Ju­li 1948 an den Be­ru­fungs­aus­schuss für den Re­gie­rungs­be­zirk Köln wei­ter­ge­lei­tet. Die­ser wie­der­um er­wirk­te im Sep­tem­ber 1948 die Stel­lung­nah­me aus Gre­ven­broich. Die­se ar­gu­men­tier­te da­hin­ge­hend, dass auf­grund Leu­ers frü­hem Par­tei­ein­tritt und sei­ner Füh­rungs­äm­ter in Par­tei und SA kei­ne Pen­si­ons­be­zü­ge zu zah­len sei­en.[37] 

In die­ser Pha­se be­kam Jo­hann Leu­er zu­sätz­li­che Un­ter­stüt­zung aus der ört­li­chen Ka­ars­ter Po­li­tik durch wei­te­re Ent­las­tungs­zeug­nis­se. Der Vor­sit­zen­de der CDU-Orts­par­tei Ka­arst, Her­mann Wey­en (1899-1969), lob­te dar­in Leu­ers Kor­rekt­heit und Hilfs­be­reit­schaft als Bahn­hof­vor­ste­her so­wie sei­ne stets na­tio­na­le Hal­tung. Leu­er ha­be bis zu sei­nem Rück­tritt an ei­ne Ehr­lich­keit und Sau­ber­keit der NS­DAP ge­glaubt. Auch sei die per­sön­li­che Be­kannt­schaft zwi­schen Leu­er und Wey­en durch die un­ter­schied­li­chen po­li­ti­schen Mei­nun­gen nie ge­stört ge­we­sen.[38] 

Mit ei­nem aus­führ­li­chen Zeug­nis wand­te sich auch der Vor­stand des SPD-Orts­ver­eins Ka­arst di­rekt an den Köl­ner Aus­schuss. Die In­itia­ti­ve der SPD ziel­te ex­pli­zit dar­auf ab, dass für Jo­hann Leu­er end­lich Rechts­si­cher­heit in der Pen­si­ons­fra­ge ge­schaf­fen wer­den soll­te. Er ha­be als Be­am­ter den Ka­ars­ter Bahn­hof mus­ter­gül­tig ge­lei­tet, die Be­völ­ke­rung kor­rekt und sei­ne ihm un­ter­stell­ten Ei­sen­bah­ner ein­wand­frei be­han­delt. Leu­er ha­be in den Pa­ro­len der NS­DAP ei­ne bes­se­re Zu­kunft für den ar­bei­ten­den Men­schen ge­se­hen. Er sei ge­fal­len, als sei­ne ei­ge­ne Ein­stel­lung mit der Po­li­tik der Na­zis zu­neh­mend un­ver­ein­bar ge­wor­den sei und des­halb sei sei­ne Zeit als Orts­grup­pen­lei­ter als be­deu­tungs­los an­zu­se­hen. Leu­er ha­be in Ka­arst kei­ne Strei­tig­kei­ten, kei­ne Ver­fol­gun­gen und kei­ne Schi­ka­nen in­iti­iert. Im Ge­gen­teil ha­be er Per­so­nen in po­li­ti­schen Schwie­rig­kei­ten Schutz ge­währt. Noch nach sei­ner Zeit als Orts­grup­pen­lei­ter ha­be er die Par­tei und ih­re Maß­nah­men oft­mals scharf kri­ti­siert und ha­be als un­be­quem ge­gol­ten. Sei­ne Nach­fol­ger hät­ten je­de Be­rüh­rung mit ihm ver­mie­den. Die So­zi­al­de­mo­kra­ten ho­ben nicht zu­letzt auch Leu­ers Her­kunft aus klei­nen Ver­hält­nis­sen her­vor. Er ha­be die­se nie ver­leug­net und stets be­schei­den ge­lebt. Er ha­be sich nie an Ge­la­gen der Ka­ars­ter NS-Grö­ßen be­tei­ligt und ha­be sich auch nie be­rei­chert.[39]   Das Leu­munds­zeug­nis der SPD ist in dem Ver­fah­ren das mit Ab­stand um­fang­reichs­te. In der Be­ur­tei­lung Leu­ers als Par­tei­füh­rer, Be­am­ter und als Mensch stimmt es im We­sent­li­chen mit al­len an­de­ren Ent­las­tungs­schrei­ben über­ein.

Am 24.11.1948 schlie­ß­lich fäll­te der Be­ru­fungs­haupt­aus­schuss in Köln die Ent­schei­dung, Jo­hann Leu­er ein Min­destru­he­ge­halt zu­zu­ge­ste­hen. Die Zu­er­ken­nung er­folg­te auf­grund der Ent­las­tungs­zeug­nis­se. Ge­gen die­se Ent­schei­dung leg­te Jo­hann Leu­ers An­walt im Fe­bru­ar 1949 wie­der­um Be­ru­fung ein und for­der­te die Aus­zah­lung des vol­len Ru­he­ge­halts ein.[40] En­de Au­gust 1949 stell­te der Köl­ner Haupt­aus­schuss das Pen­si­ons­be­ru­fungs­ver­fah­ren oh­ne Ent­schei­dung ein. Jo­hann Leu­er war be­reits in der Nacht zum 26.6.1949 im Al­ter von 79 Jah­ren in Neuss ver­stor­ben.[41] 

8. Fazit

Jo­hann Leu­er war ein ge­sell­schaft­li­cher Auf­stei­ger, der es aus ärm­li­chen Land­ar­bei­ter­ver­hält­nis­sen bis auf ei­nen Füh­rungs­pos­ten im mitt­le­ren öf­fent­li­chen Dienst ge­schafft hat. Die­sen Auf­stieg hat­te er schon wäh­rend des Kai­ser­rei­ches er­reicht und ver­dank­te die­sen sei­nem ei­ge­nen Ehr­geiz und sei­ner Be­le­sen­heit. So­mit war ein ge­sell­schaft­li­cher Auf­stieg nicht die ei­gent­li­che Mo­ti­va­ti­on für den Ein­tritt in die NS­DAP. Schon we­gen des ho­hen Al­ters war er kein ty­pi­scher Na­tio­nal­so­zia­list. Bei sei­nem Ein­tritt in die NS­DAP war er be­reits 61 Jah­re alt. Das Durch­schnitts­al­ter bei Par­tei­ein­tritt lag 1931 bei 32 Jah­ren.[42] Auch fehl­te ihm das Fron­t­er­leb­nis aus dem Ers­ten Welt­krieg. Die Ab­leh­nung der mar­xis­ti­schen Ide­en und sei­ne Ver­bun­den­heit mit dem Ka­tho­li­zis­mus schei­nen ei­ne Hin­wen­dung zur So­zi­al­de­mo­kra­tie am En­de des Kai­ser­rei­ches ver­hin­dert zu ha­ben. Die Er­eig­nis­se in der Be­sat­zungs­zeit und in der Wei­ma­rer Re­pu­blik so­wie die na­tio­na­lis­tisch-mi­li­ta­ris­ti­schen Er­leb­nis­se im Stahl­helm­bund und bei den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ha­ben Leu­er po­li­tisch ra­di­ka­li­siert und in die NS­DAP ge­führt. Es er­scheint glaub­wür­dig, dass er im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus zu­al­ler­erst die Ant­wort auf die so­zia­le Fra­ge sah. Nicht glaub­wür­dig er­schei­nen die Aus­sa­gen sei­ner Leu­munds­zeu­gen, dass er den ras­sis­ti­schen und an­ti­de­mo­kra­ti­schen Cha­rak­ter sei­ner Par­tei nicht er­kannt hat.

Quellen

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Stadt­ar­chiv Düs­sel­dorf (StAD), Be­stand: 0-1-21 Po­li­ti­sche Par­tei­en, Ar­bei­ter- und Sol­da­ten­rat.
 
Stadt­ar­chiv Ka­arst (StAK­aa), Be­stän­de: A 1 / Bür­ger­meis­te­rei Ka­arst; A 3 / Amt Bütt­gen; E 3 / Jo­hann Leu­er; E 76 / Win­golf Sche­rer.

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Ergebnisse der NSDAP bei den Reichstagswahlen in Kaarst. (Sven Woelke)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Woelke, Sven, Johann Leuer und der Aufstieg der NSDAP in Kaarst. Eine ortsgeschichtliche Spurensuche, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/johann-leuer-und-der-aufstieg-der-nsdap-in-kaarst.-eine-ortsgeschichtliche-spurensuche/DE-2086/lido/66a0c02f9107d3.37198049 (abgerufen am 03.12.2024)