Kölner Inschriften des Mittelalters – ein epigraphischer Streifzug
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1. Einleitung
Inschriften verbinden die Eigenschaften archivalischen Schriftgutes und materieller Quellen, denn es handelt sich bei ihnen um „Beschriftungen verschiedener Materialien – in Stein, Holz, Metall, Leder, Stoff, Email, Glas, Mosaik usw. –, die von Kräften und mit Methoden hergestellt sind, die nicht dem Schreibschul- und Kanzleibetrieb angehören“.[1] Inschriften sind in Stein gehauen, in Metall graviert, getrieben oder gegossen, in Email gearbeitet, gestickt oder gewebt, um nur die häufigsten Techniken zu erwähnen, mit denen sie hergestellt sind. Sie befinden sich ebenso auf Grabdenkmälern oder Glocken wie an Bauwerken, auf Glasfenstern, liturgischem Gerät und Textilien oder alltäglichen Gebrauchsgegenständen. Inschriften sind fast allgegenwärtig, dabei stets an ein Objekt – den Inschriftenträger – gebunden und nur im Zusammenhang mit ihm zu erschließen. Die Möglichkeiten, Inschriften für historische, philologische, kunsthistorische oder theologische Fragestellungen auszuwerten, sind vielfältig: Wie spiegeln sich historische Ereignisse und Entwicklungen in Inschriften wider? Was tragen Inschriften zur Frömmigkeitsgeschichte bei? Welche Erkenntnisse zur frühneuhochdeutschen Sprachgeschichte ermöglichen volkssprachliche Inschriften? Welchen „Sitz im Leben“ hatte ein beschriftetes Objekt in seinem Umfeld? Wie ergänzen sich Bildprogramme und Bildbeischriften? Welche Resonanz finden biblische, liturgische und literarische Texte in den Inschriften?
Mit dieser Vielfalt von Anknüpfungspunkten bieten Inschriften den historischen Fachrichtungen reichhaltiges Quellenmaterial zur Ergänzung ihrer Forschungen. Im Rahmen des Editionsprojekts „Deutsche Inschriften“ sammeln die deutschen Akademien der Wissenschaften in Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz und München sowie die Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien lateinische und deutsche Inschriften, die zwischen dem 6. Jahrhundert und 1650 entstanden sind, und publizieren sie in einer kommentierten Edition, die bislang etwa 100 Bände umfasst.[2]
2. Die Überlieferung
In Nordrhein-Westfalen liegt der Schwerpunkt der Epigraphik (Inschriftenforschung) auf historisch bedeutsamen Städten (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Lemgo, Minden, Münster, Paderborn, Xanten), vor allem auf Köln, wo sich der mit Abstand reichhaltigste und vielfältigste Bestand an original erhaltenen oder verlorenen, aber abschriftlich oder fotografisch überlieferten Inschriften im Bundesland und zugleich einer der umfangreichsten in Deutschland greifen lässt. Derzeit sind etwa 1.800 Träger mit Inschriften erfasst, die in mindestens vier Editionsbänden aufgearbeitet werden.
In Köln beherbergen der Dom und die großen romanischen Kirchen die größten Inschriftenbestände. Bei weitem nicht alle Inschriften sind erhalten, die Verluste durch Kriegseinwirkung oder schlicht Neugestaltungen der Kirchen sind vielmehr als sehr hoch einzuschätzen. Die Lücken, die die Säkularisation in den Bestand an Gemälden, Glasfenstern und Schatzkunst in Kölner Kirchen gerissen hat, betreffen auch die zahlreichen darauf angebrachten Inschriften. Zwar wurde nicht alles zerstört, etliche Objekte gelangten – vor allem nach der Säkularisation – in den Kunsthandel und von dort in den Besitz von Sammlern in ganz Europa und in den USA. Oft fehlen konkrete Angaben zum Verbleib der Objekte, so dass sich ihre Spur verliert.
Die Zerstörung Kölns im Zweiten Weltkrieg betraf in erheblichem Maße die Bausubstanz der Kirchen und der alten Wohnhäuser mit ihren Inschriften an Fassaden, Türstürzen oder anderen Baugliedern. Zahlreiche alte Kirchenglocken wurden immerhin dadurch gerettet, dass sie abgeliefert werden mussten, um als Material für die Produktion von Waffen und Munition zur Verfügung zu stehen, und den Krieg auf dem Sammelplatz „überlebten“. Nach Kriegsende wurden etliche von ihnen jedoch nicht nach Köln zurückgebracht, sondern in Kirchen anderer Städte aufgehängt – oft über Jahrzehnte hinweg unerkannt. Erst in den letzten 20 Jahren wurde ihre Herkunft in Einzelfällen im Zuge akribischer Recherchen ans Tageslicht gebracht.[3]
Die Suche nach den Inschriften auf mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Objekten, die sich vor 1650 in Köln befanden, gestaltet sich also zuweilen als mühevolle Detektivarbeit mit ungewissem Ausgang.
Die Verluste an Inschriften werden leider nur in sehr begrenztem Maße durch die abschriftliche Überlieferung in neuzeitlichen Quellensammlungen ausgeglichen, die Sammler wie die Brüder Johann und Ägidius Gelenius, Bartholomäus J. B. Alfter (1729-1808), Johann Gottfried von Redinghoven (1628-1704) oder Ludwig von Büllingen (1771-1848) zusammengetragen haben. Das Interesse der Kölner Historiographen beschränkte sich im Wesentlichen auf Inschriften und Träger, die aufgrund ihres Alters oder ihrer dekorativen Funktion als besonders wertvoll erachtet wurden, wie etwa der Radleuchter in St. Severin aus der zweiten Hälfte des 11. oder dem Anfang des 12. Jahrhunderts, dessen Inschrift sowohl in den Farragines Gelenianae als auch bei Redinghoven, Alfter und Büllingen wiedergegeben ist. Die große Masse zerstörter Inschriften auf Grabdenkmälern, Glocken, Kirchenfenstern, Altären und liturgischem Gerät, an Häusern und Stadttoren ist vor ihrem Untergang nicht aufgezeichnet oder fotografiert worden. Das Ausmaß des Verlustes lässt sich in etwa erahnen, wenn man die für Köln einzigartig umfangreiche Überlieferung von annähernd 100 Grabinschriften für Kanoniker an St. Andreas aus der Zeit bis 1650 bei Alfter und Büllingen mit den lediglich 13 Grabplatten und Epitaphen vergleicht, die für denselben Zeitraum aus St. Severin bekannt sind.
Dennoch liefern die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften Kölns, seien sie original erhalten oder abschriftlich respektive fotografisch überliefert, reichhaltiges Quellenmaterial zum Leben und Sterben der Kölner Bevölkerung, zu kirchlichen und profanen Gebäuden und ihrer Ausstattung sowie zum Selbstverständnis der Stadt und ihrer Bürger.
Die mit Abstand größte Zahl an Inschriftenträgern ist – wie nicht anders zu erwarten – für den Dom überliefert. Darunter befinden sich hervorragende Objekte wie die Grabdenkmäler der Erzbischöfe, die Glasfenster, Glocken oder die Chorschrankenmalereien. Insgesamt sind für den Zeitraum bis 1650 im Dom bislang circa 260 Inschriftenträger erfasst – mit steigender Tendenz. Das sind doppelt so viele wie für St. Andreas (134), das vor St. Maria im Kapitol (115) und St. Gereon (102) zahlenmäßig auf dem zweiten Platz der Kölner Kirchen liegt. Doch nicht nur für die großen Kloster- und Stiftskirchen, sondern auch für die kleinen Kirchen und Kapellen, ja selbst für Hauskapellen sind Inschriften am Bau oder auf Ausstattungsstücken wie Altarretabeln oder Kelchen nachweisbar. Selbstverständlich waren auch an Profanbauten Inschriften angebracht. Bei Privathäusern handelte es sich meist um Bauinschriften oder Segenswünsche, in einzelnen Fällen aber auch um Sprichwörter oder Schriftstellerzitate an Decken und Treppengeländern. Öffentliche Gebäude, insbesondere das Rathaus, waren aufgrund ihrer repräsentativen Funktion ein geeigneter Ort für die Selbstdarstellung der Stadt und ihrer führenden Organe.
3. Im Dienste der Memoria
So unterschiedlich die Inschriftenbestände an verschiedenen Orten in Deutschland und Europa auch sein mögen, haben sie doch eines gemeinsam: Die Inschriften des Totengedenkens auf Grabsteinen, Grabplatten, Grabkreuzen, Totenschilden, Epitaphen usw. bilden die größte Gruppe. Auf den ersten Blick mag das als selbstverständlich erscheinen, zumal das Bedürfnis, über den Tod hinaus in Erinnerung zu bleiben, eng verbunden war mit der Hoffnung, dass das Gebet der Nachkommen für das Seelenheil des Verstorbenen zu dessen Teilhabe am ewigen Leben beitragen möge. Steinerne oder metallene Epitaphe oder Grabplatten mit Gedenkinschriften, die an den Todestag und somit auch an die Feier der Memoria erinnerten, konnte sich aber die Mehrheit der Bevölkerung über viele Jahrhunderte nicht leisten. So sind es bis in die frühe Neuzeit hinein ganz überwiegend Kleriker, Adlige und wohlhabende Bürger, deren Gedenkinschriften überliefert sind. Erst ab dem 16. Jahrhundert sind auch für die „kleinen Leute“ in nennenswerter Zahl Grabkreuze bekannt, die nicht mehr aus vergänglichem Holz, sondern aus Stein gefertigt waren.
Bereits aus dem frühen Mittelalter kennen wir lateinische Grabinschriften in Gedichtform, etwa auf einem frühmittelalterlichen Grabstein, der 1952 im Kreuzganggarten von St. Severin gefunden wurde.[4] Erhalten ist nur der rechte Teil des Steins mit etwa einem Drittel des Textes, der immerhin darauf schließen lässt, dass Eltern (PARENTVM) ihn für ihre Tochter haben setzen lassen. Die Erwähnung der Seele (ANIMA) und – vermutlich – der Heiligen ([SAN]CTORVM) verdeutlicht, dass die Eltern Christen waren und aus dem Glauben an das Weiterleben der Seele in der Gemeinschaft der Heiligen Trost schöpften. Etwas jünger, nämlich aus dem 10. bis 12. Jahrhundert, sind die sogenannten Memoriensteine, die in mehreren Kölner Kirchen gefunden wurden und deren Vorkommen nach heutigem Kenntnisstand auf den Mittel- und Niederrhein beschränkt ist. In die eher kleinformatigen Steine sind (meistens) die Umrisse eines Kreuzes geritzt, in dessen Balken der Tag und der Monat des Todes sowie der Name des oder der Verstorbenen eingehauen ist. Der Text lautete also zum Beispiel IIII IDVS MARTII OBIIT WIDII […] = Am vierten Tag vor den Iden des März [am 12. März] starb Widii […]. So steht es auf einem Memorienstein in St. Maria im Kapitol, der der Schrift nach zu urteilen wohl aus dem 10. Jahrhundert stammt.[5] Ob der Name zu Widimer, Widin, Widulin oder Widikin zu ergänzen ist, lässt sich nicht entscheiden – alle diese Namensformen sind im hohen Mittelalter belegt.[6] Die Inschriften auf den Memoriensteinen übermitteln dieselben Informationen wie die Nekrologe der Stifte und Klöster, in denen die Namen derjenigen Verstorbenen festgehalten wurden, für die Memorien gefeiert werden sollten. Die Übereinstimmungen erstrecken sich nicht nur auf das Textformular, sondern oft sogar auf Details der Schreibweise, etwa die Abkürzung des Wortes obiit durch ein schräg durchstrichenes O. Es scheint, dass die Memoriensteine durch die handschriftlich geführten Nekrologe abgelöst wurden. Ob die Steine an den Kirchenwänden angebracht waren oder auf das Grab gelegt bzw. auf dem Grab aufgestellt waren, ist umstritten, und das nicht grundlos: Bislang sind keine Memoriensteine in ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang gefunden worden.[7]
Unter den zahlreichen Grabdenkmälern späterer Jahrhunderte stechen die eindrucksvollen Tumben und Epitaphe für die Erzbischöfe im Dom besonders hervor. Während einige der älteren Tumben mit überlebens¬großen Liegefiguren auf den Deckplatten (ursprünglich) nur den Namen der verstorbenen Erzbischöfe trugen – so die Tumben für Rainald von Dassel und Philipp von Heinsberg –, nennt die Inschrift für Erzbischof Wilhelm von Gennep auch Jahr und Tag des Todes sowie den regierenden Kaiser Karl IV. (Regierungszeit 1346-1378) und erwähnt die Vakanz des Apostolischen Stuhls. Im 15. Jahrhundert wurden die Inschriften an den Grabdenkmälern der Erzbischöfe zunehmend als Medium der Selbstdarstellung genutzt. So wird der 1414 verstorbene Friedrich von Saarwerden als „Verteidiger der Kirche, (ein Mann,) der am Recht stark festhielt und (dieses) überaus hoch achtete (und) sich durch seine herausragende Frömmigkeit auszeichnete“ (defensor ecclaesiae iuris tenacissimus et observantissimus, pietate insignis) gepriesen, und auch seine Salbung durch Papst Urban VI. (Pontifikat 1378-1389) und der Tag seiner Einführung ins Amt werden hervorgehoben. Sein Nachfolger, Dietrich II. von Moers (Episkopat 1414-1463), erhielt ein acht Verse umfassendes Grabgedicht, das ihn als „schön von Gestalt, von noch vortrefflicherem Charakter und süßer Sprache“ (formosus corpore, mente pulchrior et lingua dulcis) schildert sowie seine Frömmigkeit und seine Regierung hymnisch preist. Das Totenlob, das sich in vielen Varianten an Grabdenkmälern unterschiedlicher Qualität findet, ist allerdings nicht allzu hoch zu bewerten, handelt es sich doch im Allgemeinen eher um Topoi als um realistische Charakterisierungen der Verstorbenen. Die repräsentative Funktion der erzbischöflichen Grabdenkmäler und ihrer Inschriften gewinnt angesichts der politischen Entwicklungen und des damit verbundenen Machtverlustes der Erzbischöfe über die Stadt Köln zusätzlich an Bedeutung. Das unterstreicht die Inschrift auf der Tumba des 1274 verstorbenen Erzbischofs Engelbert II. von Falkenburg (Episkopat 1261-1274) im Bonner Münster: floreat in celis tua laus Verona fidelis / filia tu matris Engilberti qua patris / Que sua metropolis non habet ossa colis (Dein Ruhm, treues Verona [Bonn], möge in den Himmeln erstrahlen! Als Tochter der Mutter [der Kirche] und des Vaters Engelbert pflegst du seine Gebeine, die die Bischofsstadt nicht besitzt).[8] Engelbert war nach anhaltenden Auseinander-setzungen mit der Stadt Köln in Bonn verstorben und wurde dort auch bestattet, da auf Köln das Interdikt lag. Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde die Deckplatte der Tumba mit ihrer Inschrift angefertigt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kölner Erzbischof die Herrschaft über seine Stadt längst verloren und residierte zunehmend häufiger in Verona fidelis – Bonn.
4. Stiftungen
Neben der Fürbitte der Lebenden konnten nach mittelalterlichem Verständnis auch Akte der Mildtätigkeit und Stiftungen für Gotteshäuser das Seelenheil sichern. Wertvolle Schenkungen an Kirchen und Klöster wurden häufig in Form von Inschriften auf den gestifteten Altären, Leuchtern und Goldschmiedearbeiten, Paramenten oder Glasfenstern notiert, so dass der Stifter auf alle Zeit damit verbunden war. Im hohen Mittelalter waren es in erster Linie Persönlichkeiten herausgehobenen Ranges mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, die zur Ausstattung der Kirchen beitrugen: So ließ Erzbischof Hermann III. (Episkopat 1088-1099) für die Gebeine des heiligen Severin einen prächtigen Reliquienschrein anfertigen. In der poetischen Stifterinschrift, die er auf dem Schrein anbringen ließ, gab er der Hoffnung Ausdruck, das Wohlwollen des Heiligen möge dazu beitragen, dass die fromme Stiftung Hermanns Sünden aufwiegen möge (pro peccatis iuvet huius gratia patris compensans […] hoc laudabile donum).[9]
Ab dem Spätmittelalter sind auch Stifter nachweislich bürgerlicher Herkunft belegt. Eine Inschrift aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts überliefert, dass HENRIC(US) D(I)C(T)US WINT(ER)SCHUZCE CIVIS COLON(IENSIS) einen Altar in St. Maria im Kapitol mit jährlichen Einkünften in Höhe von fünf Mark ausstattete, die ihm als Einnahmen von zwei Wiesen in (Quadrath-)Ichendorf zustanden. Rechtliche Details waren I(N) L(ITTE)RIS S(UPE)R H(OC) (CON)FECTIS (in den darüber ausgestellten Urkunden) festgehalten.[10] Obwohl die Regelungen der Stiftung also in mehreren Urkunden niedergeschrieben worden waren, wurden sie, wenn auch knapper, zusätzlich inschriftlich festgehalten – und das nicht nur einmal, sondern in doppelter Ausfertigung: einmal auf einer Steinplatte, die in St. Maria im Kapitol am Westende des Mittelschiffs in die Wand eingefügt ist, und ein zweites Mal an einem Pfeiler in der Krypta, in den sie gut sichtbar in Augenhöhe eingehauen ist. Offenbar war Heinrich Winterschutz sehr daran gelegen, dass seine Stiftung nicht in Vergessenheit geriet. Die Inschrift in der Krypta befand sich in unmittelbarer Nähe des Georgaltars, dem die Einnahmen zugutekommen sollten.
Selbstverständlich mussten Stifter über ein gewisses Vermögen verfügen, das ihnen die Finanzierung ihrer Schenkungen ermöglichte. Vielfach waren es Ratsherren, die wertvolle Objekte stifteten, wie zum Beispiel Johann von Schwelm, der im 15. Jahrhundert mit seiner Frau Mechtild einen Kelch für St. Johann Baptist anfertigen und in den Kelchfuß die Stifternamen mit einer Bitte um ein Gebet gravieren ließ: bit vor johann von swelm und hilken sin hus frov und eir kinder.[11]
Letztlich jedoch war jeder gute Christ zur Mildtätigkeit aufgefordert. Das elfte Bild des Zyklus zum Leben und zur Verehrung des heiligen Severin (um 1500) zeigt den Innenraum einer Kölner Kirche – wohl St. Severin –, in dem eine Tafel mit einem Spendenaufruf zu erkennen ist: We(m) it god gift i(n) siin / Der werp zo(m) […..] hir i(n) (Wem Gott es in den Sinn gibt, der werfe … hier hinein).[12] Darstellung und Text dürften der Realität sehr nahekommen, denn Hermann Weinsberg berichtet 1595, dass in „seiner“ Pfarrkirche St. Jakob eine hölzerne Almosentafel mit der Aufforderung Wem es got geve in sinen sinn / der werf vur die verwonten von den turken herin (Wem Gott es in seinen Sinn gibt, der werfe (Geld) für die Verwundeten der Türken(kriege) hinein)[13] angebracht war.
5. Bau und Weihe
Seit dem Mittelalter ist Köln durch seine Vielzahl an Kirchen und Kapellen, Klöstern und Stiften geprägt. Zu deren Entstehung und Entwicklung geben neben archäologischen und urkundlichen Zeugnissen auch Inschriften Auskunft, insbesondere Bau- oder Weiheinschriften. Ein – heute verlorenes – zwölf Verse umfassendes Gedicht über dem Eingang zu St. Georg pries den heiligen Patron und den Auftraggeber des Kirchenbaus: _Condidit antistes _Anno pius ista decenter / proficiant animae que nova templa suae. / Anno milleno decies sex addito septem / extitit erectum quod modo cernis opus. (Der fromme Bischof Anno hat dieses neue Gotteshaus, das seiner Seele das Wohl erbringen möge, geziemend erbaut. Im Jahre 1067 war das Werk, das du nun vor Augen hast, errichtet).[14] In der Krypta der Kirche erinnert die Inschrift HEREBRAT ME FECIT (Herebrat hat mich gemacht.) auf einem Säulenkapitell bis heute an deren Erbauung.[15] Ob sich hinter Herebrat der Baumeister oder ein an den Arbeiten beteiligter Steinmetz verbirgt, gilt als ungeklärt. Schaut man sich die Inschrift genauer an, so stellt man fest, dass die Schriftgröße zwischen 1,5 und 2,5 Zentimetern schwankt, dass zudem die Proportion der Buchstaben insgesamt nicht gelungen ist und die ganze Inschrift einen höchst ungelenken Eindruck vermittelt. Dass es im 11. Jahrhundert besser ging, zeigt ein Vergleich mit der Sterbeinschrift für einen Hericho, die ebenfalls in St. Georg gefunden wurde und ein deutlich höheres Schriftniveau aufweist.[16] Offenbar war am Kapitell eine Hand am Werk, die in der Ausführung von Schrift ungeübt war, was weniger für einen Baumeister als für einen Handwerker spricht, dem es gelang, seinen Namen in der Nähe des Altars in der Krypta zu hinterlassen.
Neben der Erbauung ist auch die Weihe einer Kirche oder Kapelle vielfach Thema von Inschriften. Eine besonders originelle Weihenotiz ist in Form eines sogenannten Abklatsches auf uns gekommen, also einer genauen Abformung der eingehauenen Inschrift mit Hilfe von feuchtem Papier. Die Inschrift berichtet von der Weihe der (1834 abgebrochenen) Stephanskapelle an der Ecke Stephanstraße/Hohe Pforte am 27.5.1009 durch den Kölner Erzbischof Heribert und zählt die Reliquien auf, die in der Kapelle aufbewahrt wurden.[17] Anhand des Abklatschs kann auch die Schrift der Weihenotiz beurteilt werden, und diese lässt zweifelfrei erkennen, dass die Inschrift nicht 1009, sondern erst im 12. Jahrhundert und somit lange nach der Weihe der Kapelle ausgeführt wurde. In der Bauzeit der Kapelle wurden Inschriften in einer Großbuchstabenschrift (Majuskel) ausgeführt, für die im Wesentlichen die Formen der antik-römischen Kapitalis verwendet wurden. Somit entsprachen die Grundformen in etwa unserer Großbuchstabenschrift. Bereits im Verlauf des 11. Jahrhunderts kamen zu diesen Kapitalisbuchstaben gelegentlich einige alternative Formen hinzu, etwa rundes E und M aus dem unzialen Alphabet als Gegenstück zum eckigen E der Kapitalis oder auch eckiges C ergänzend zum üblicheren runden C. Seinen Höhepunkt erlebte der Trend zur Formenvielfalt erst im 12. Jahrhundert, und die Weiheinschrift der Stephanskapelle bietet ein schönes Beispiel dafür: A, E, G, H, N, Q, S, T und V/U sind sowohl eckig als auch rund ausgeführt und teilweise durch Zierbögen und Blattornament dekorativ gestaltet. Diese Schrift hat sich nicht nur hinsichtlich der Buchstabenformen, sondern auch stilistisch von der Kapitalis entfernt. Es handelt sich um eine ausgereifte romanische Majuskel, die typischerweise zahlreiche Verbindungen und Einstellungen von Buchstaben aufweist. In den letzten Zeilen werden sogar mehrfach Runenzeichen anstelle eines lateinischen Buchstabens verwendet, allerdings ohne Verständnis für ihre lautliche Bedeutung. Offenbar hegte auch der Verfasser der Vorlage für die Weihenotiz Zweifel daran, ob der Leser die Runenzeichen richtig deuten würde, und fügte über der Rune den jeweils gemeinten lateinischen Buchstaben in kleiner Ausführung hinzu. Neben der Information über die Weihe der Stephanskapelle und die in ihr aufbewahrten Reliquien kann man der Schrift also die Entstehungszeit der Inschrift und zudem ganz ungewöhnliche Informationen über den Bildungsstand des Verfassers entnehmen. Wo er seine Runenkenntnisse erworben hatte, ist zwar nicht mit Sicherheit feststellbar, zu vermuten ist aber, dass dies durch die Überlieferung von Runenreihen in Handschriften geschah.
6. Gebeine? – Reliquien!
Das Auffinden von „Reliquien“, ihre Erhebung, Verehrung und Verbreitung spielen in der Geschichte der Stadt Köln und ihrer Kirchen eine wichtige Rolle. Einen Höhepunkt der Umdeutung menschlicher Knochen zu Reliquien der Ursulinischen Jungfrauen und ihrer männlichen Begleiter stellen die Grabungen auf dem linksrheinisch gelegenen ager Ursulanus in der Mitte des 12. Jahrhunderts dar.[18] Aufgrund einer günstigen Quellenlage sind wir über die Grabungen, die auf Veranlassung Erzbischofs Arnold II. und unter der Ägide des Kustos der Benediktinerabtei in Deutz, Thiodericus (gestorben um 1164), erfolgten, sowie über den Umgang mit den aufgefundenen Gebeinen gut informiert. Die Ausgräber stießen nicht nur auf die Überreste einer großen Anzahl männlicher und weiblicher Verstorbener, sondern fanden in deren Gräbern auch Tafeln mit ihren Namen. Anhand dieser Inschriften und mit Hilfe göttlicher Offenbarungen identifizierte die Mystikerin Elisabeth aus dem Benediktinerkloster Schönau die Verstorbenen als Gefährten und Gefährtinnen der heiligen Ursula und bereicherte deren Gefolge um mehr als 200 namentlich benennbare Märtyrer(innen), deren Reliquien nun erhoben, ins Deutzer Kloster gebracht und verehrt werden konnten. Im Zusammenhang mit den Grabungen wurde eine Liste der in Stein gehauenen Tituli aufgestellt, die Steintafeln selbst hingegen sind fast gänzlich verloren. Tatsächlich handelte es sich – soweit sich das heute rekonstruieren lässt – in vielen Fällen wohl um frühchristliche Grabinschriften, die falsch entziffert und ergänzt wurden. Dass daneben auch Tituli gänzlich neu angefertigt wurden, bezeugt der Fund einer (mittlerweile verlorenen) Tafel, deren zweifellos mittelalterliche Inschrift sich identisch in der Liste der Tituli findet: S(an)c(t)a Ursumaria v(irgo) filia Abarisi ducis (Die heilige Jungfrau Ursumaria, Tochter des Herzogs Abarisus).[19]
Auch in späteren Jahrhunderten wurden im Bereich christlicher Kirchen Gebeine aus römischer Zeit aufgefunden und als Reliquien interpretiert. In St. Maria im Kapitol wurden 1303 menschliche Gebeine freigelegt und in zwei steinerne Sarkophage umgebettet. Sie stehen noch heute im Umgang der Ostkonche und tragen den gleichlautenden, nur mit kleinen Abweichungen ausgeführ¬ten Text: + IN HOC SARCOPHAGO RECONDITE SVNT RELIQVIE THEBAEORVM MARTYRVM ET SANCTARVM VIRGINVM (In diesem Sarkophag werden Reliquien der Thebäischen Märtyrer und der Heiligen Jungfrauen verwahrt).[20] In St. Gereon wurde im beginnenden 13. Jahrhundert gleich eine ganze Reihe von Sarkophagen mit menschlichen Gebeinen gefüllt. Die Inschriften, die in die Giebelseite oder in die Deckplatte der steinernen Sarkophage eingehauen wurden, belegen nicht nur, dass man auch in diesen sterblichen Überresten Reliquien der Thebäischen Märtyrer erkannte, sondern geben zudem an, wie viele von ihnen in den jeweiligen Sarkophag umgebettet worden waren – fünf, sieben, zwölf, sogar 20 Körper sollen es gewesen sein. Eine weitere (verlorene) Inschrift in St. Gereon führte den Gläubigen in acht Versen, die überwiegend an liturgische Gesänge zum Allerheiligenfest und zum Fest des hl. Gereon anknüpften, den hervorragenden Stellenwert der heiligen Märtyrer für den Glauben und die Kirche buchstäblich vor Augen:
Fulget in gloria pretiosus sanguis eorum.
Nomina eorum in libro vitae scripta manent.
Deus Sabaoth in vita<e> speculo regat eos.
Horum societate exultat coelum.
Hereditas eorum in aeternum erit.
Gloria haec est omnibus sanctis eius.
Gloriosus martyrum sanguis exornat ecclesiam.
Gloriam eorum pronuntiat omnis ecclesia. </e>
(Ihr kostbares Blut strahlt voller Ruhm, ihre Namen bleiben im Buch des Lebens eingeschrieben. Der Gott der Heerscharen möge sie im Spiegel ihres (heiligen) Lebens leiten, in ihrer Gemeinschaft möge der Himmel jauchzen! Ihr Erbe wird in alle Ewigkeit bestehen. Dieser Ruhm wird all seinen Heiligen zuteil. Das ruhmreiche Blut der Märtyrer schmückt die Kirche, die ganze Kirche verkündet ihren Ruhm).[21]
7. Stets im Bilde – Bildbeischriften
Beredter Ausdruck der Heiligenverehrung sind auch zahlreiche Bilderzyklen in Kölner Kirchen, die Leben und Taten der Heiligen darstellen, erklärt und kommentiert durch Inschriften, die meist am unteren Bildrand angebracht wurden. Dazu gehören der weitgehend verlorene Brunozyklus in der Kartause (entstanden 1486-1489), der 20 Gemälde umfassende Severinszyklus in St. Severin (um 1500) sowie mehrere Zyklen zum Leben und Martyrium der heiligen Ursula. Unter den letztgenannten befindet sich eine Serie von 20 Bildern aus dem Jahr 1456, deren erläuternde Bildunterschriften in deutschen Reimversen abgefasst sind und die eine zeitliche Lücke in der handschriftlichen Überlieferung der volkssprachlichen Verslegende zur Geschichte der heiligen Ursula überbrücken.[22]
Besonders reichhaltig wurde das Kloster der Karmeliter im 16. Jahrhundert mit Bildern ausgestattet: Im Kapitelsaal hing außer 20 Porträts herausragender Ordensmitglieder auch ein Zyklus von 20 Bildern mit überwiegend legendarischen Episoden aus der Geschichte des Ordens, und die Kammern des Provinzials schmückten 13 Bilder mit Darstellungen berühmter Urteilssprüche. Alle diese Gemälde sind verloren, und ohne ihre Inschriften wüssten wir nichts über sie. Doch die Namen und Sterbedaten der Karmeliterpatres sind ebenso wie die in lateinische Verse gefassten Bildunter¬schriften zu den szenischen Darstellungen in den historiographischen Quellen des Ordens überliefert und ermöglichen die Rekonstruktion der Bildthemen. Hermann Weinsberg schildert die Entstehung eines weiteren Gemäldezyklus für den Kreuzgang des Karmeliterklosters, der die bereits genannten Bilderserien an Umfang noch weit übertraf. Es handelte sich um Bilder zu biblischen Themen aus der Werkstatt des Bartholomäus Bruyn, für deren Finanzierung der Karmeliterprovinzial eine Vielzahl von Spendern gewonnen hatte, darunter auch Hermann Weinsberg. Aus seinen Aufzeichnungen erfahren wir etliche Details des Herstellungsprozesses, unter anderem, dass jede Szene durch drei Verspaare erläutert wurde. Der Wortlaut dieser Bildbeischriften ist nicht überliefert; Weinsberg berichtet aber, dass auf jedem Bild der erste Buchstabe der Versinschrift durch rote Farbe hervorgehoben war und diese roten Buchstaben aneinandergereiht Namen und Titel des Karmeliterprovinzials ergaben. Milendunck, der Historiograph der Karmeliter, überliefert den genauen Wortlaut dieses Akrostichons: Everardus Billicus coloniensis theologus provincialis fratrum carmelitarum ambitum tabulis istis ornari procuravit (Eberhard Billick, Kölner Theologe, Provinzial der Karmeliterbrüder, ließ den Kreuzgang mit diesen Tafeln ausschmücken). Da dieser Text 103 Buchstaben umfasst und jedes Bild nur einen dieser Buchstaben trug, darf man der Schilderung des Jesuiten Daniel Papebroch (1628-1714) Glauben schenken, der bei seinem Besuch in Köln 1660 im Kreuzgang des Karmeliterklosters über 100 Bilder mit Darstellungen des Alten, vor allem aber des Neuen Testaments sah.
8. Stadt und Bürger
Köln war nicht nur die Stadt der Kirchen, Heiligen und Reliquien, sondern auch ein komplexes Gemeinwesen, Wirtschaftsmetropole und politisches Zentrum. Dass bis ins 13. Jahrhundert der Erzbischof als Stadtherr fungierte, findet in einer von ihm in Auftrag gegebenen Urkundeninschrift Ausdruck, die im Dom ausgestellt, großformatig und hervorragend ausgeführt ist, im öffentlichen Interesse heute aber dennoch ein Schattendasein fristet. Gemeint ist das Privileg, das Erzbischof Engelbert II. im Jahre 1266 zugunsten der Kölner Juden erließ und das nur als Inschrift, nicht aber in Form einer Pergamenturkunde überliefert ist.[23] In die etwa zwei Meter hohe und 94 Zentimeter breite Kalksteinplatte ist in einer dekorativen Majuskelschrift, einer sogenannten gotischen Majuskel, ein 34 Zeilen umfassender Text eingehauen worden, dessen Buchstaben mit einer dunklen Paste gefüllt wurden, so dass sie sich vom hellen Stein gut abheben. Der Erzbischof bestätigt den Kölner Juden das Recht, auf ihrem Friedhof Verstorbene zu bestatten, ohne dafür Zoll oder Steuern zahlen zu müssen, verbot die Vollziehung von Bluturteilen auf oder neben dem Friedhof, sicherte ihnen auf erzbischöflichem Gebiet das Geldleihmonopol zu und bestätigte, dass sie nicht mehr Zölle und Abgaben zahlen mussten als die Christen. Diese Freiheiten sollten AD PERPETVAM MEMORIAM IN PVBLICO ASPECTV HOMINVM (zum ewigen Gedenken zur öffentlichen Ansicht der Menschen) in Stein eingehauen werden. Öffentlichkeit und Dauerhaftigkeit waren demnach hier wie auch in anderen Fällen die hauptsächlichen Beweggründe dafür, eine Urkunde als Inschrift auszuführen. So finden sich Urkundeninschriften prominenter Aussteller an gut sichtbaren Orten zum Beispiel auch in Speyer (Privilegien Kaiser Heinrichs V., 1111, und Kaiser Friedrichs I., 1182), Mainz (Privileg des Erzbischofs Adalbert, 1135) und Worms (Privileg Kaiser Friedrichs I., 1184).[24] In diesen Fällen existierte allerdings zusätzlich zur Inschrift eine Pergamenturkunde. In Köln hingegen scheint man sich ausschließlich auf den haltbaren Kalkstein verlassen zu haben, der tatsächlich bis heute in bestem Zustand erhalten ist.
Die Schutzrechte der Juden wurden dennoch bereits wenige Jahrzehnte nach Ausstellung des Privilegs wieder missachtet. Mitte des 14. Jahrhunderts kam es auch in Köln zu blutigen Pogromen gegen die ansässigen Juden, und 1424 wurden diese endgültig der Stadt verwiesen. Die archäologi¬schen Grabungen im Bereich des ehemaligen Judenviertels vor dem Rathaus haben Funde zu Tage gebracht, die eindrucksvolle Einblicke in die Strukturen der jüdischen Gemeinde gewähren. Dazu gehören auch mittelalterliche Inschriften, etwa Abrechnungen eines Händlers auf ausgedienten Schiefertafeln und das Fragment eines in hebräischer Schrift niedergeschriebenen, aber in Jiddisch verfassten Textes, wohl eines Ritterepos.[25]
Nach der Schlacht bei Worringen 1288 gelang es der Stadt, sich zunehmend von der erzbischöflichen Herrschaft zu befreien. An die turbulenten Ereignisse erinnert eine Schrifttafel, die ursprünglich über dem Eingang der Bonifatiuskapelle in der Severinstraße angebracht war und heute im Kölnischen Stadtmuseum aufbewahrt wird: Anno domini m°cc lxxx viii fuit praelium in woringen et hoc in sabbato. Anno domini m° cc lxix fuit colonia Tradita per foramen apud ulre portzen (Im Jahre des Herrn 1288 fand in Worringen eine Schlacht statt, und zwar an einem Samstag. Im Jahre des Herrn 1269 [richtig: 1268] wurde Köln durch eine Öffnung (in der Stadtmauer) bei der Ulrepforte preisgegeben).[26] Der aus Köln vertriebene Erzbischof Engelbert II. hatte dem Bericht der Chronik des Gottfried Hagen zufolge einen Anwohner der Stadtmauer dafür bezahlt, ein Loch in die Stadtbefestigung zu graben, durch das die erzbischöflichen Soldaten in der Nacht des 15. Oktober eindringen konnten, von den Bürgern jedoch zurückgedrängt wurden. 20 Jahre später erlitt der Erzbischof – nunmehr Siegfried von Westerburg (Episkopat 1275-1297) – trotz der Unterstützung durch die Grafen von Geldern und Luxemburg eine empfindliche Niederlage gegen die Stadt Köln und ihre Verbündeten, die die Herrschaft des Erzbischofs über die Stadt Köln faktisch beendete.
Die Kapelle wurde zwischen 1298 und 1310 vom Rat der Stadt errichtet, also wenige Jahre nach dem Geschehen. Die Inschrift ist in einer gotischen Minuskel eingehauen worden, einer Schrift, die in Steininschriften in Deutschland ab etwa 1320 nachweisbar ist. Sie enthält Versalien, das heißt Großbuchstaben am Wortanfang, die erst ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verwendet und zunächst aus älteren Schriften (der Kapitalis oder der gotischen Majuskel) übernommen wurden. Das T am Beginn von Tradita hingegen ist zwar aus der in der romanischen und gotischen Majuskel geläufigen runden Form des Buchstabens (einem Bogen mit Deckbalken) abgeleitet; der Buchstabe ist aber aufgelöst, neu zusammengesetzt und dadurch verfremdet. Die Form passt also nicht ins 14. Jahrhundert, sondern in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts. Dasselbe gilt für das A am Beginn des Wortes Anno, dessen linker Schaft durch eine schlanke Palmette ersetzt ist und das ähnlich am Epitaph für den 1461 verstorbenen Arnold von Clothingen in St. Georg zu finden ist. Die paläographische Einordnung der Inschrift in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts harmoniert mit der sprachlichen Form des Ortsnamens woringen, die Mitte des 15. Jahrhunderts erstmals nachweisbar ist.
Das Selbstbewusstsein der Stadt Köln spiegelt sich in der Ausgestaltung des Rathauses wider. Der Lange Saal (der spätere Hansasaal) wurde 1349 beim Brand des Judenviertels schwer beschädigt und in den darauffolgenden 20 Jahren wieder aufgebaut und ausgeschmückt. An der Nordwand war der König (wohl Karl IV.) mit sieben weiteren Personen abgebildet, von denen drei als seine geistlichen Wähler, also die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier, identifiziert werden konnten. Sie trugen Spruchbänder mit mahnenden Worten: Meidet gave und hasset giericheit / want sei verdriven gerechtigkeit („Meidet Hast und Gier, denn sie vertreiben die Gerechtigkeit“), Richtet den armen als den reichen, / so steit das reich werdentlich (Richtet den Armen ebenso wie den Reichen, so bleibt das Reich in Würde bestehen); Liebet Gott vor allen dingen / so mach dem reich woll gelingen. Die Malereien der Westwand zeigten 23 weise Männer: Propheten und weitere Personen aus dem Alten Testament, antike Dichter und Philosophen sowie antike und mittelalterliche Herrscher und einen anonymen sogenannten „Metrista“. Die Malereien selbst sind verloren, die ursprünglich vorhandenen Namens¬beischriften und die lateinischen Versinschriften sind jedoch seit dem 16. Jahrhundert in Abschriften überliefert. In den Spruchbeischriften wurden Eintracht und Unbestechlichkeit, vor allem aber ganz allgemein eine gute Regierung auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Gottesfurcht angemahnt. Auch als der Ratssaal in den zwischen 1407 und 1414 neu erbauten Ratsturm verlegt wurde, platzierte man im Vorraum acht Prophetenfiguren mit Spruchbändern, auf denen unter anderem die Sorge für das Gemeinwohl, gründliche Beratung, rasche Umsetzung der Beschlüsse und Verschwiegenheit als unabdingbare Eigenschaften guter Ratsherren genannt wurden. Die Darstellungen und Texte am Kölner Rathaus fügen sich in das Gesamtbild der Rathausikonographie deutscher Städte im Spätmittelalter ein. Die Text-Bild-Programme, die sich ab dem 15. Jahrhundert an den Rats- und Regimentslehren orientieren, erfuhren noch bis ins 17. Jahrhundert hinein Ergänzungen und Änderungen. Unverändert blieb aber ihre Funktion: In erster Linie dienten sie der Selbstdarstellung der Stadt und der Vermittlung ihres Selbstverständnisses nach außen.
Literatur
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Weinsberg DG = Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs — Digitale Gesamtausgabe, URL: <http-blank://www.weinsberg.uni-bonn.de/Home. htm> (15.04.2012).
- 1: Kloos, Einführung, S. 2.
- 2: Vgl. http://www.inschriften.net/projekt/publikationen.html.
- 3: Poettgen, Vergessene Glocken, S. 103–114.
- 4: Römisch-Germanisches Museum Köln, Inv.-Nr. 52,259.
- 5: Nister-Weisbecker, Grabsteine, S. 269f., Nr. 70.
- 6: Förstemann, Namenbuch, Sp. 1564.
- 7: Binding, Gruppe, S. 58.
- 8: Die Inschriften der Stadt Bonn, Nr. 39.
- 9: Der hl. Severin von Köln, S. 13.
- 10: Kunstdenkmäler Köln, Kirchliche Denkmäler, Bd. 2, S. 228f.
- 11: Kunstdenkmäler Köln, Kirchliche Denkmäler, Bd. 2, S. 119f.
- 12: Oepen/Steinmann, Severinzyklus, S. 138, Anm. 158 (mit Abb.).
- 13: Weinsberg DG, Liber Decrepitudinis, Bl. 481r zum 30. September 1595 (15.04.2012).
- 14: Funken, Bauinschriften, S. 94-96.
- 15: Funken, Bauinschriften, S. 92.
- 16: Korte, Geschichte, Anm. 76.
- 17: Funken, Bauinschriften, S. 81.
- 18: Legner, Kölner Heilige, S. 37-40.
- 19: Schmitz, Grabinschriften, S. 30.
- 20: Ohne Wiedergabe der Inschrift erwähnt bei Stracke, St. Maria im Kapitol, S. 88.
- 21: Kunstdenkmäler Köln, Kirchliche Denkmäler, Bd. 2, S. 77.
- 22: Hoffmann/Klein, Überlieferungs- und Sprachgeschichte, S. 162–164.
- 23: Oepen, Judenprivileg, S. 75f.
- 24: Müller, Urkundeninschriften, Katalog Nr. 2 und 10 (Speyer), Nr. 5 (Mainz), Nr. 11 (Worms).
- 25: Hollender, Epigraphische Zeugnisse, S. 151f.
- 26: Dieckhoff, Fragment, Nr. 2.13.
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Giersiepen, Helga, Kölner Inschriften des Mittelalters – ein epigraphischer Streifzug, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/koelner-inschriften-des-mittelalters-%25E2%2580%2593-ein-epigraphischer-streifzug/DE-2086/lido/5e3abb72a64b03.64557303 (abgerufen am 12.10.2024)