Lebensreform und Zivilisationskritik um 1900. Das Barmer „Reformhaus Jungbrunnen“

Detlef Vonde (Wuppertal)

Barmen (Alter Markt), Postkarte um 1900, Original im Stadtarchiv Wuppertal/ FS 5571. (gemeinfrei)

Im Jahr 1900 er­öff­ne­te Karl Au­gust Heynen (gest. 1943) in der früh­in­dus­tri­el­len „Boom­town“ Bar­men (heu­te Stadt Wup­per­tal) in der Ber­li­ner Stra­ße 16 das Re­form­haus „Jung­brun­nen“.[1] Sein Re­form­haus stell­te sich als in­no­va­ti­ve und lu­kra­ti­ve Ge­schäfts­idee her­aus. Das Kon­zept soll­te in den kom­men­den Jahr­zehn­ten lan­des­weit Er­fol­ge fei­ern. Heu­te ist ‚Re­form­haus‘ ein ein­ge­tra­ge­nes Mar­ken­zei­chen für den ge­nos­sen­schaft­lich or­ga­ni­sier­ten Han­del mit na­tur­be­las­se­nen Le­bens­mit­teln und an­de­ren Kon­sum­gü­tern.[2] 

We­gen des kom­mer­zi­el­len Er­fol­ges ließ der Kauf­mann sei­nem Bar­mer La­den schon in kür­zes­ter Zeit wei­te­re Fi­lia­len in grö­ße­ren Städ­ten wie Kas­sel, Mön­chen­glad­bach, Mag­de­burg, Würz­burg, Nürn­berg, Frei­burg und so­gar in Straß­burg fol­gen.[3] Ver­kauft wur­de dort al­les, was man da­mals als ge­sund für Kör­per und See­le an­sah: pflanz­li­che Fet­te, Trau­ben­säf­te, Tro­cken­früch­te, Voll­korn­brot, Öle für die Kör­per­pfle­ge, lo­cke­re Klei­dungs­stü­cke und vie­les mehr. Ganz neu wa­ren sol­che Lä­den da­mals nicht, gab es doch ei­ne Rei­he von Vor­bil­dern noch vor der Jahr­hun­dert­wen­de, von de­nen sich et­wa Carl Brauns (1858-1943) so­ge­nann­te ‚Ge­sund­heits­zen­tra­le‘ in Ber­lin ei­nen Na­men mach­te als pros­pe­rie­ren­des Ein­zel­han­dels­ge­schäft mit al­ter­na­ti­ven Wa­ren­an­ge­bo­ten für ein bür­ger­li­ches Groß­stadt­pu­bli­kum. Heynens „Re­form­haus“ aber brach­te die Sa­che auf den Kol­lek­tiv­be­griff für künf­ti­ge Un­ter­neh­men: Ein ex­klu­si­ves Mar­ken­zei­chen war da­mit in der Welt.[4] Der Be­griff „Re­form­haus“ folg­te zu­nächst kei­ner klar ab­ge­grenz­ten De­fi­ni­ti­on. Erst die spä­te­re „Ver­ei­ni­gung Deut­scher Re­form­häu­ser“ gab 1925 mit ei­nem ei­gens da­für auf­ge­leg­ten Flug­blatt ei­ne kon­kre­te Be­griffs­be­stim­mung her­aus. Da­nach war das „Re­form­haus“ ein Ort, an dem Wa­ren an­ge­bo­ten wer­den, die mög­lichst na­tur­nah in Sa­chen Her­kunft und Be­schaf­fen­heit sein soll­ten, näm­lich Re­form­ware.[5] 

Barmen, Berliner Straße, Postkarte, Reproduktion aus Sammlung U. Marcus, undatiert. (Stadtarchiv Wuppertal/ FS 6384)

 

Re­form­häu­ser schrie­ben in den fol­gen­den Jahr­zehn­ten Er­folgs­ge­schich­te. Zwi­schen 1900 und dem Be­ginn des Ers­ten Welt­kriegs stieg ih­re Zahl in Deutsch­land zu­nächst noch in be­schei­de­nem Ma­ße auf rund 80 Häu­ser, die sich im We­sent­li­chen auf die Groß­städ­te im nord­deut­schen Raum kon­zen­trier­ten. En­de der 1920er Jah­re aber hat­te dann fast je­de drit­te Stadt in Deutsch­land ein sol­ches Re­form­haus.[6] Bis 1925 exis­tier­ten be­reits rund 200 Ge­schäf­te, die sich dann 1930 in der „Ver­ei­ni­gung Deut­scher Re­form­häu­ser (Neu­form)“ als ei­ne ge­nos­sen­schaft­li­che Or­ga­ni­sa­ti­ons­struk­tur zu­sam­men­schlos­sen und sich mit ei­ge­nem La­bel ei­nen ho­hen Wie­der­er­ken­nungs­wert ga­ben. Der Grün­dungs­boom hielt auch wäh­rend der NS-Zeit an, so dass 1939 über 2.000 Re­form­häu­ser mit ein­ge­tra­ge­nem Wa­ren­zei­chen am Markt wa­ren. Die Tat­sa­che, dass auch das NS-Re­gime of­fen­bar Ge­fal­len an der Re­form­haus­be­we­gung fand und die­se ent­spre­chend för­der­te, führt zu ei­ner Rei­he von Fra­gen, die man mit de­ren eher sel­ten er­zähl­ten Ge­schich­te in Ver­bin­dung brin­gen kann: et­wa nach den so­zia­len, öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Kon­tex­ten der Ent­ste­hung die­ser Be­we­gung, ih­rer Rol­le im Kon­text der sich her­aus­bil­den­den mo­der­nen Kon­sum­ge­sell­schaft und nach der po­ten­zi­el­len An­schluss­fä­hig­keit der Ide­en von „Le­bens­re­for­mern“ an an­ti­mo­der­ne, völ­ki­sche Ideo­lo­gi­en und Be­we­gun­gen.

Werbung für das Reformhaus Karl August Heynen, Lütteringhauser Zeitung, 14.8.1903. (gemeinfrei)

 

1. Fortschrittsoptimismus in der Boomtown: Barmen um 1900

Zum Ver­ständ­nis ih­rer Ent­ste­hungs­ge­schich­te lohnt ein Blick auf die Welt um 1900 im All­ge­mei­nen und auf ei­ne grö­ße­re Stadt wie Bar­men im Be­son­de­ren. Für Zeit­ge­nos­sen aus bür­ger­li­chen Mi­lieus gab es im Fin de sié­cle ei­gent­lich aus­rei­chend Grund zum Op­ti­mis­mus. Die In­dus­trie­na­tio­nen des Wes­tens, die deut­sche ein­ge­schlos­sen, wa­ren aufs Gan­ze ge­se­hen wohl­ha­bend ge­wor­den – ei­ne Bi­lanz, die sich im All­tag spür­bar ab­bil­de­te. Wachs­tum und Fort­schritt auf na­he­zu al­len ge­sell­schaft­li­chen Ge­bie­ten wa­ren prä­gen­de Merk­ma­le der Zeit. Dies äu­ßer­te sich et­wa in der Pro­duk­ti­vi­tät der In­dus­trie und der Wirt­schaft ins­ge­samt, der Grö­ße der Städ­te, des dor­ti­gen Wohl­stands, der ur­ba­nen Kul­tur oder auch der Stre­cken­län­ge des im­mer dich­te­ren Ei­sen­bahn­net­zes. „Um 1900 leb­te in Deutsch­land ein Vier­tel der Be­völ­ke­rung in Groß­städ­ten, die ge­prägt wa­ren von tech­ni­schen Bau­wer­ken, leb­haf­tem Ver­kehr und ers­ten Film­vor­füh­run­gen. Te­le­gra­fen ver­ban­den die gan­ze Welt, Flüs­se wur­den be­gra­digt, rie­si­ge Stau­däm­me er­rich­tet. Neue Er­fin­dun­gen und Tech­ni­ken ver­spra­chen na­he­zu täg­lich wei­te­re spek­ta­ku­lä­re Ver­än­de­run­gen, die auch den Um­gang mit Na­tur und Um­welt be­tra­fen.“[7] Vie­le Kom­men­ta­to­ren sa­hen in die­ser Ent­wick­lung ei­nen ge­ra­de­zu un­auf­halt­sa­men Sie­ges­zug ‚des Fort­schritts‘ in Wirt­schaft, Wis­sen­schaft, Tech­nik oder Me­di­zin. Die stei­gen­de Le­bens­er­war­tung galt da­für als ein über­zeu­gen­des Ar­gu­ment. Ehe­mals töd­li­che Krank­hei­ten wa­ren in­zwi­schen heil­bar, die Ur­sa­chen von Epi­de­mi­en er­forscht, Hun­ger­ka­ta­stro­phen, die noch zur Mit­te des 19. Jahr­hun­derts den Kon­ti­nent er­schüt­ter­ten, längst Ver­gan­gen­heit. Das lag nicht zu­letzt auch an der Er­näh­rung, die ins­ge­samt ab­wechs­lungs­rei­cher und schier un­be­grenzt ver­füg­bar schien. Wenn über­haupt − so mach­te künf­tig nicht mehr der Man­gel krank, son­dern der Über­fluss – je­den­falls so­weit man dar­an teil­ha­ben konn­te. In­di­vi­du­el­le Le­bens­sti­le wa­ren zu­min­dest in der bür­ger­li­chen Welt bei­na­he frei wähl­bar. Tra­di­tio­nel­le Ord­nun­gen und Sit­ten wur­den lo­cke­rer, die Ge­sell­schaft ins­ge­samt mo­bi­ler.

In­ten­si­ve Ver­än­de­rungs­er­fah­run­gen präg­ten al­so den ur­ba­nen All­tag der Men­schen: rast­lo­se Bau­tä­tig­keit, stän­di­ger Lärm, pau­sen­lo­se Be­we­gung, atem­be­rau­ben­des Tem­po und Be­schleu­ni­gung. Die Her­aus­for­de­run­gen im Ur­ba­ni­sie­rungs­pro­zess wa­ren eben­so ge­wal­tig wie all­ge­gen­wär­tig. Pro­fes­sio­nel­le ‚Leis­tungs­ver­wal­tun­gen‘ mit Be­am­ten­ap­pa­rat und fest­an­ge­stell­ten Fach­leu­ten küm­mer­ten sich in den Rat­häu­sern um das Ge­mein­wohl und die Da­seins­vor­sor­ge in den Kom­mu­nen. Öf­fent­li­che Hy­gie­ne­e­in­rich­tun­gen et­wa soll­ten si­cher­stel­len, dass die Men­schen in den räum­lich und per­so­nell ver­dich­te­ten Städ­ten ge­sund blei­ben konn­ten. So voll­zog man den Schritt vom Ord­nen zum Pla­nen: Die In­stru­men­te mo­der­ner Städ­te­tech­nik zur Ent­wick­lung von In­fra­struk­tur[8] präg­ten den Pro­zess der Ur­ba­ni­sie­rung. Zeit­ge­nos­sen nann­ten die­se In­ter­ven­tio­nen in öf­fent­li­cher Re­gie „Mu­ni­ci­pal­so­zia­lis­mus“[9] .

Bar­men, Hei­mat­stadt von Fried­rich En­gels, kam da­bei ei­ne Pio­nier­rol­le im „Me­ga­pro­zes­s“ der Ur­ba­ni­sie­rung zu.[10] Die Stadt zähl­te um die Jahr­hun­dert­wen­de zu­sam­men mit dem be­nach­bar­ten El­ber­feld zu den stark wach­sen­den „Boom­town­s“ in Preu­ßen und im Deut­schen Reich.[11] 1840 be­leg­ten Bar­men und El­ber­feld mit zu­sam­men et­wa 42.000 Ein­woh­nern den sechs­ten Platz in­ner­halb der preu­ßi­schen Ge­bie­te. 25 Jah­re spä­ter war die­ser Ag­glo­me­ra­ti­ons­raum mit na­he­zu 130.000 Men­schen auf den drit­ten Platz hin­ter Ber­lin und Bres­lau im preu­ßi­schen Städ­te­ver­gleich vor­ge­rückt. 1880 leb­ten in der Dop­pel­stadt dann rund 190.000 Ein­woh­ner, was sie im Groß­stadt-Ran­king des seit 1871 be­ste­hen­den Deut­schen Kai­ser­reichs auf Platz sechs vor­rü­cken ließ. Im Jahr 1900 un­ter­schritt man nur knapp die Mar­ke von 300.000. Das äu­ßer­te sich auf ver­schie­de­nen Ebe­nen der Stadt­ent­wick­lung, nicht zu­letzt in ei­ner schnell fort­schrei­ten­den Aus­dif­fe­ren­zie­rung des Ein­zel­han­dels. In den In­nen­städ­ten von Bar­men und El­ber­feld kon­zen­trier­ten sich um die Jahr­hun­dert­wen­de ei­ne kaum noch über­schau­ba­re Zahl von spe­zia­li­sier­ten Fach­ge­schäf­ten mit un­ter­schied­lichs­ten An­ge­bo­ten von Kon­sum­gü­tern und Wa­ren des all­täg­li­chen Be­darfs. Dies war zu­gleich ein Re­flex auf die lang­sa­me, aber ste­ti­ge Stei­ge­rung der Re­al­ein­kom­men der ge­sam­ten Be­völ­ke­rung ein­schlie­ß­lich der Ar­bei­ter­schaft, die in Bar­men (mit da­mals 142.000 Ein­woh­nern) zu mehr als 50% von der Tex­til­in­dus­trie leb­te.

Über die dor­ti­gen fi­nan­zi­el­len Ver­hält­nis­se und den Le­bens­stan­dard um die Jahr­hun­dert­wen­de weiß man nicht zu­letzt auf­grund der akri­bi­schen Auf­zeich­nun­gen von Hein­rich Haa­cke bes­tens Be­scheid. Haa­cke zähl­te zu den zahl­rei­chen neu­en kom­mu­na­len Be­am­ten und war lang­jäh­ri­ger Lei­ter des Sta­tis­ti­schen Am­tes der Stadt. Die blo­ße Exis­tenz ei­ner sol­chen Ver­wal­tungs­ein­heit ver­weist auf das Ni­veau qua­li­ta­ti­ver Ur­ba­ni­sie­rung und die Ent­wick­lung vor­aus­schau­en­der Da­seins­vor­sor­ge. Das schlug sich auf ver­schie­de­nen Ebe­nen der neu­en „Städ­te­tech­ni­k“ nie­der, vor al­lem bei den mo­der­nen Hy­gie­ne­e­in­rich­tun­gen in kom­mu­na­ler Re­gie. Da­zu ge­hör­ten die Was­ser­ver­sor­gung (seit 1883), Ka­na­li­sa­ti­on und Müll­ab­fuhr (ab 1888), Stra­ßen­rei­ni­gung (ab 1906), Kran­ken­an­stal­ten (1912) so­wie die zahl­rei­chen, ar­chi­tek­to­nisch auf­wen­di­gen Schul­neu­bau­ten. Da­mit lag man weit vorn im Ver­gleich deut­scher Groß­städ­te. Die­ses ak­ti­vier­te Sys­tem kom­mu­na­ler Selbst­ver­wal­tung war vor al­lem Sa­che funk­tio­na­ler bür­ger­li­cher Eli­ten. Das wohl­ha­ben­de Bar­mer Bür­ger­tum do­mi­nier­te un­ter den re­strik­ti­ven Be­din­gun­gen des kom­mu­na­len Drei­klas­sen­wahl­rech­tes und be­stimm­te ex­klu­siv die Ge­schi­cke der Stadt. Ei­gent­lich gab es al­so um die Jahr­hun­dert­wen­de tat­säch­lich gu­te Grün­de, op­ti­mis­tisch in die Zu­kunft zu bli­cken. Die Vor­stel­lung von der Be­herr­schung der Na­tur durch Wirt­schaft und Tech­nik ver­band sich mit ei­nem schier un­be­grenz­ten Fort­schritts­glau­ben, und des­sen Fix­punk­te wa­ren ne­ben den Me­tro­po­len auch in­dus­tri­el­le Groß­städ­te wie El­ber­feld oder Bar­men.

2. Konsumgesellschaft und Krisenstimmung

Mit der In­dus­tria­li­sie­rung und Ur­ba­ni­sie­rung seit der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts be­gann zu­gleich ein neu­es Zeit­al­ter in Sa­chen Er­näh­rung: Es eta­blier­ten sich die Kon­tu­ren ei­ner mo­der­nen Kon­sum­ge­sell­schaft als Über­gang von der Man­gel- zur Über­fluss­ge­sell­schaft. Ein Ef­fekt der Ur­ba­ni­sie­rung war – wie am Bar­mer Bei­spiel ge­se­hen – der Um­stand, dass die Wachs­tums­ra­ten des Klein- und Ein­zel­han­dels in­zwi­schen die­je­ni­gen der Ein­woh­ner­zah­len weit über­tra­fen.[12] Da­ne­ben wa­ren in den Städ­ten vor al­lem die Wo­chen­märk­te zen­tra­le Ort der Le­bens­mit­tel­ver­sor­gung des täg­li­chen Be­darfs an Obst, Ge­mü­se, Fleisch und Fisch. El­ber­feld et­wa un­ter­hielt um die Jahr­hun­dert­wen­de vier gro­ße Plät­ze mit zahl­rei­chen Ein­zel­märk­ten pro Wo­che, wo Na­tur­er­zeug­nis­se, Back­wa­ren, zum Teil auch Kurz­wa­ren ver­kauft wur­den. Ob­wohl die tra­di­tio­nel­len For­men der Selbst­ver­sor­gung mit Obst und Ge­mü­se aus ei­ge­nem An­bau im Zu­ge der Ur­ba­ni­sie­rung all­mäh­lich an Be­deu­tung ver­lo­ren, wa­ren wei­te Tei­le der Ar­bei­ter­schaft aber noch im­mer dar­auf an­ge­wie­sen, mög­lichst ein klei­nes Stück Land an der Pe­ri­phe­rie zu be­wirt­schaf­ten, um an­ge­sichts kar­ger Löh­ne über die Run­den zu kom­men. Ver­bes­ser­te wirt­schaft­li­che Kon­junk­tur­la­gen im Kai­ser­reich wirk­ten sich al­ler­dings auch auf den Le­bens­un­ter­halt von Ar­bei­ter- und Hand­wer­ker­haus­hal­ten aus und da­mit zu­gleich auf Kon­sum­ver­hal­ten, Er­näh­rungs- und Le­bens­sti­le. Bür­ger­li­che Ess­kul­tu­ren strahl­ten all­mäh­lich in pro­le­ta­ri­sche Mi­lieus aus, wenn­gleich da­von eher die Haus­hal­te der qua­li­fi­zier­ten Ar­bei­ter­schaft pro­fi­tier­ten. Da­ge­gen muss­te die gro­ße Zahl der Un­ge­lern­ten in den Fa­bri­ken, die Ta­ge­löh­ner, Ge­le­gen­heits­ar­bei­ter und klei­nen Hand­werks­ge­sel­len wei­ter­hin den Gro­ß­teil ih­rer Löh­ne für die Exis­tenz­si­che­rung auf­wen­den, wäh­rend der Rest nicht sel­ten für Ta­bak und Al­ko­hol aus­ge­ge­ben wur­de.

So­gar ei­ne Su­per­markt­ket­te wur­de kurz vor der Jahr­hun­dert­wen­de in Ber­lin ge­grün­det: Ede­ka − als Akro­nym für ‚Ein­kaufs­ge­nos­sen­schaft der Ko­lo­ni­al­wa­ren­händ­ler‘. Dies folg­te dem lan­des­wei­ten Trend, dass im­mer mehr Kauf­leu­te ko­lo­nia­le Pro­duk­te wie Kaf­fee, Tee, Zu­cker, Reis, Zi­gar­ren, exo­ti­sche Früch­te etc. an­bo­ten. Das An­ge­bot rich­te­te sich da­bei zu­nächst an die Kund­schaft aus der Mit­tel­schicht, be­vor Ko­lo­ni­al­wa­ren klas­sen­über­grei­fend all­täg­lich und da­mit Teil ei­nes glo­ba­li­sier­ten Kon­sums wur­den.

Reformhaus Eden in Neuwied nach dem Umbau, 1936. (Landeshauptarchiv Koblenz/ Best. 710 Nr. 6806)

 

Die In­dus­tria­li­sie­rung der Nah­rungs­mit­tel im Be­reich von Pro­duk­ti­on, Kon­ser­vie­rung und Ver­tei­lung brach­te jetzt den Vor­teil sai­so­na­ler Un­ab­hän­gig­keit und schein­bar un­be­grenz­ter Ver­füg­bar­keit. Die Kon­ser­ve mach­te aus der Nah­rungs­mit­tel­in­dus­trie ei­nen Wachs­tums­zweig ers­ten Ran­ges. Mas­sen­pro­duk­ti­on von Le­bens­mit­teln wur­de all­mäh­lich zur Re­gel, aber zu­gleich zum Im­puls­ge­ber ent­spre­chen­der Ge­gen­be­we­gun­gen. Ar­bei­ter schlos­sen sich häu­fig be­triebs­be­zo­gen in so­ge­nann­ten „Kon­sum­ver­ei­nen“ zu­sam­men, um den kol­lek­ti­ven Ein- und ver­bil­lig­ten Ver­kauf von Wa­ren zu or­ga­ni­sie­ren. Ein sol­cher be­stand in El­ber­feld schon seit 1860. Ein Ent­ste­hungs­mo­tiv von „Kon­sum­ge­nos­sen­schaf­ten“ war vor al­lem die Un­zu­frie­den­heit mit den Prei­sen und der Qua­li­tät von Wa­ren, wie sie vom Ein­zel­han­del ver­langt und vor­ge­hal­ten wur­den. Hier traf der Wunsch, Geld zu spa­ren, auf die Be­reit­schaft zum po­li­ti­schen En­ga­ge­ment. Die pro­le­ta­ri­schen Ge­nos­sen­schaf­ten ver­ban­den wei­ter­ge­hen­de ge­sell­schaft­li­che Zie­le mit dem zu­kunfts­ori­en­tier­ten Mo­dell­cha­rak­ter ei­ner nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­form. Kon­kur­renz­fä­hig ge­gen­über dem Ein­zel­han­del wa­ren sol­che Ver­kaufs­stel­len al­ler­dings nur mit Mü­he; zu klein die Sor­ti­men­te, zu kurz die Öff­nungs­zei­ten. Den­noch er­leb­ten sie be­son­ders in der Zeit vor dem Ers­ten Welt­krieg ei­nen deut­li­chen Auf­schwung. Die „Kon­sum­ge­nos­sen­schaft Vor­wärts“ in Bar­men et­wa ent­stand 1899 zur Ver­sor­gung von zu­nächst 45 Grün­dungs­fa­mi­li­en. Fünf Jah­re spä­ter hat­te sie be­reits über 3.800 Mit­glie­der, 1912 rund 14.000. Die An­la­ge in der Bar­mer Se­dan­stra­ße na­he dem Bahn­hof Heu­bruch ver­füg­te un­ter an­de­rem über ei­ne Brot­fa­brik mit un­ter­ir­di­schem Bahn­an­schluss. In der Ver­sor­gungs­kri­se des Ers­ten Welt­kriegs sol­len dort bis zu 50.000 Bro­te täg­lich pro­du­ziert wor­den sein. Als fu­sio­nier­te Kon­sum­ge­nos­sen­schaft „Vor­wärts-Be­frei­un­g“ zähl­te sie spä­ter mit mehr als 48.000 Mit­glie­dern und 800 Be­schäf­tig­ten zu den grö­ß­ten in ganz Deutsch­land.[13] Und die Kon­sum­ge­nos­sen­schaf­ten wirk­ten stil­bil­dend. „Kon­sum“ wur­de der neue Kurz­be­griff, der sich par­al­lel zum Er­folg der Ge­nos­sen­schaf­ten im all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch ein­bür­ger­te. Bald schon wur­de er auch zum Ge­gen­stand wis­sen­schaft­li­cher Ana­ly­sen, spie­gel­ten sich doch im Kon­sum­ver­hal­ten als Kon­sum­kul­tur zu­gleich ge­sell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se und Wert­hal­tun­gen der Zeit.[14] 

Fort­schritt­s­op­ti­mis­mus und Auf­bruchs­stim­mung aber muss­ten sich nicht voll­stän­dig mit der ge­sell­schaft­li­chen Rea­li­tät de­cken, denn längst nicht al­le sa­hen die Ent­wick­lun­gen po­si­tiv. An den Rän­dern der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft for­mier­te sich als Ge­gen­be­we­gung ei­ne zu­nächst über­schau­ba­re, aber den­noch wach­sen­de Zahl von Skep­ti­kern, selbst­er­nann­ten Non­kon­for­mis­ten, Le­bens­re­for­mern, Groß­stadt- und Zi­vi­li­sa­ti­ons­kri­ti­kern. Die­se oft­mals bun­te, auch exo­ti­sche Schar von In­di­vi­dua­lis­ten, Uto­pis­ten und Künst­lern in or­ga­ni­sier­ten, zu­meist gut ver­netz­ten Grup­pen, schien sich vor al­lem in der Über­zeu­gung ei­nig, dass Stadt­luft längst nicht mehr frei, son­dern krank ma­che. Das woll­ten sie än­dern. Im lau­fen­den Pro­zess von In­dus­tria­li­sie­rung und Ur­ba­ni­sie­rung mit den her­aus­for­dern­den so­zia­len, öko­lo­gi­schen und psy­chi­schen Fol­gen sah man vor al­lem die Ri­si­ken für die Ge­sund­heit von Kör­per und Geist. „Er­fah­run­gen des Ver­lus­tes und der Be­ängs­ti­gung wuch­sen sich um die Jahr­hun­dert­wen­de zu ei­ner ma­ni­fes­ten Ori­en­tie­rungs­kri­se aus.“[15] Vor al­lem die Ver­wer­fun­gen der Ge­sell­schaft, so­zia­le Not, Woh­nungs­elend und kras­se Ge­gen­sät­ze zwi­schen Arm und Reich, bil­de­ten tat­säch­lich die Kehr­sei­te der Fort­schritts­me­dail­le. Die for­cier­te Klas­sen­spal­tung wur­de da­bei nicht nur von der auf­stre­ben­den Ar­bei­ter­be­we­gung the­ma­ti­siert, son­dern auch von Ver­tre­tern des li­be­ra­len Bür­ger­tums. Die Kri­sen­stim­mung, für die der Be­griff „Fin de siècle“ (fran­zö­sisch: En­de des Jahr­hun­derts) ge­prägt wur­de, wur­de vor al­lem von den kul­tu­rel­len Eli­ten des Bil­dungs­bür­ger­tums in prä­gnan­te Bil­der und Wor­te ge­fasst. „Es ge­hör­te zu den Pa­ra­do­xi­en der Zeit, dass in ei­ner Pha­se, als in Deutsch­land die ka­pi­ta­lis­ti­sche Wirt­schaft und die mo­der­ne Wis­sen­schaft, mit­hin die her­vor­ra­gen­den Be­tä­ti­gungs­fel­der des Bür­ger­tums ei­ne nie ge­kann­te Blü­te er­reich­ten, die­ses Bür­ger­tum in tie­fe Selbst­zwei­fel ver­fiel und zu den kul­tu­rel­len Aus­wir­kun­gen der ei­ge­nen Er­fol­ge im­mer stär­ke­re Dis­tanz fand.“[16] 

3. Die Lebensreformbewegung: Gesellschaftsveränderung durch Selbstoptimierung

Die­se Dis­tan­zie­rung vom Fort­schritts­pa­ra­dig­ma und sei­nen Aus­wir­kun­gen äu­ßer­te sich un­ter an­de­rem in der „Le­bens­re­form­be­we­gung“, wo sich Na­tur­heil- und Kör­per­kul­tur­be­weg­te, Nu­dis­ten, Klei­dungs­re­for­mer, al­ter­na­ti­ve Sied­ler, Gar­ten­stadt­prot­ago­nis­ten, Er­näh­rungs­re­for­mer, Ve­ge­ta­ri­er, Ab­sti­nenz­ler, ju­gend­be­weg­te „Wan­der­vö­gel“, bür­ger­li­che Aus­stei­ger und Ex­zen­tri­ker al­ler Cou­leur tra­fen, aber auch ra­di­ka­li­sier­te Impf­geg­ner, kon­ser­va­ti­ve Hei­mat­schüt­zer, Eso­te­ri­ker, Völ­ki­sche und An­ti­se­mi­ten. Das Spek­trum der An­hän­ger­schaft war eben­so viel­fäl­tig, wie schwer über­schau­bar und wi­der­sprüch­lich. Es ver­sam­mel­ten sich Men­schen, die der ver­meint­li­chen spi­ri­tu­el­len Lee­re und dem Ma­te­ria­lis­mus der Zeit et­was ent­ge­gen­set­zen woll­ten. Die An­hän­ger der ver­schie­de­nen Strö­mun­gen mit ih­ren zahl­rei­chen Quer­ver­bin­dun­gen for­mu­lier­ten da­bei we­ni­ger die ra­di­ka­le Ab­kehr von ei­ner tech­ni­sier­ten Um­welt und ma­te­ria­lis­ti­schen Ge­sell­schaft, als viel­mehr de­ren kon­ti­nu­ier­li­che Ver­än­de­rung im Sin­ne ei­ner na­tur­nah er­neu­er­ten, ganz­heit­li­chen Le­bens­wei­se: Ge­sell­schafts­ver­än­de­rung durch Selbst­op­ti­mie­rung; erst das Ich, dann das Wir. Das über­grei­fen­de Merk­mal die­ser he­te­ro­ge­nen Be­we­gung mit flie­ßen­den Über­gän­gen zwi­schen den La­gern ih­rer Prot­ago­nis­ten war das of­fen­siv re­kla­mier­te Ziel ei­ner ganz­heit­li­chen Ge­sell­schafts­re­form via Selbst­re­form und da­mit die Pri­va­ti­sie­rung der so­zia­len Fra­ge.[17] In die­ser Grund­po­si­ti­on als Ver­bin­dung von So­zi­aluto­pi­en und Er­lö­sungs­phan­ta­si­en un­ter­schied sich die Le­bens­re­form­be­we­gung von an­de­ren Re­form­be­we­gun­gen.[18] 

Zu ih­ren Avant­gar­dis­ten, die von ih­ren Geg­nern auch als „Kohl­ra­bi-Apos­tel“[19] ver­spot­tet wur­den, zähl­ten pro­mi­nen­te bür­ger­li­che In­tel­lek­tu­el­le wie der Ma­ler Karl Wil­helm Die­fen­bach (1851-1913) oder die Dich­ter Ste­fan Ge­or­ge (1868-1933), Her­mann Hes­se (1877-1962), Franz Kaf­ka (1883-1924) und Erich Müh­sam (1878-1934). An­de­re be­kann­te Au­to­ren pu­bli­zier­ten seit 1903 – oft un­ter fal­schem Na­men – in der Mo­nats­zeit­schrift Die Schön­heit des Schrift­stel­lers und Ver­le­gers Karl Van­se­low (1877-1959), die auf­wen­dig ge­stal­tet nack­ten Kör­per­kult für ein vor­wie­gend bür­ger­li­ches Pu­bli­kum ins Bild setz­te: Luft­ba­de­kos­tü­me.[20] Ih­re re­dak­tio­nel­len The­men dreh­ten sich um Kör­per­hy­gie­ne, Lei­bes­übung und Frei­kör­per­kul­tur als ei­ne Mi­schung aus Na­tur­heil­kun­de, Gym­nas­tik, Tanz, Spi­ri­tua­li­tät und völ­ki­scher Leh­re. Ab 1915 drif­te­te das Ma­ga­zin mit dem Ju­gend­stil-Ti­tel­blatt im­mer stär­ker ins rech­te völ­ki­sche Mi­lieu ab, um schlie­ß­lich (Volks-)Kör­pe­ri­dea­le der so­ge­nann­ten „Ras­sen­hy­gie­ne“ zu nor­ma­li­sie­ren.[21]

Hauptsitz der Konsumgenossenschaft "Vorwärts-Befreiung", aus: Konsumgenossenschaft „Vorwärts-Befreiung“ eGmbH Wuppertal, um 1931, Foto: Emil Daurin-Sorani. (Stadtarchiv Wuppertal/ F3178/ CC BY-SA 4.0)

 

Im sel­ben Jahr, als Karl Au­gust Heynen sein Bar­mer Re­form­haus er­öff­ne­te, grün­de­te ei­ne il­lus­tre Grup­pe aus An­ar­chis­ten, Ve­ge­ta­ri­ern, Pa­zi­fis­ten, Nu­dis­ten und Zi­vi­li­sa­ti­ons­flüch­ten­den auf dem Mon­te Ve­ritá bei As­co­na im Tes­sin ei­ne Aus­stei­ger­kom­mu­ne als Ge­gen­welt zum wil­hel­mi­ni­schen Ob­rig­keits­staat. Das ex­zen­tri­sche Kol­lek­tiv ver­sam­mel­te sich hin­ter dem Wahl­spruch „Zu­rück zur Na­tur“ und ir­ri­tier­te das Pu­bli­kum durch lan­ge Bär­te, na­tur­be­las­se­ne Be­klei­dung, be­wuss­te Ver­zichts- und de­mons­tra­ti­ve Frei­kör­per­kul­tur. Nach dem Ers­ten Welt­krieg wur­de die­ser Pil­ger­ort des al­ter­na­ti­ven Trei­bens dann von dem rei­chen El­ber­fel­der Ban­kier, Kunst­mä­zen und spä­te­ren NS­DAP-Mit­glied Edu­ard von der Heydt (1882-1964) ge­kauft, der 1926 dort ein mo­der­nes Ho­tel im Bau­haus­stil er­rich­ten ließ. Die­ses wur­de zu ei­nem be­lieb­ten Sze­ne-Treff­punkt von Künst­lern, Po­li­ti­kern und Pro­mi­nen­ten.[22] Im En­ga­ge­ment des um­strit­te­nen Kunst­samm­lers und Mä­zens bil­de­ten sich zu­gleich Schnitt­men­gen zwi­schen Va­ri­an­ten der Le­bens­re­form- und der völ­kisch-an­ti­se­mi­ti­schen Be­we­gun­gen ab. Das „Zu­rück zur Na­tur“-Mo­tiv ließ sich leicht in ein völ­ki­sches „Zu­rück zur deut­schen Na­tur“ über­set­zen und spä­ter vom Na­tio­nal­so­zia­lis­mus im Hand­um­dre­hen ad­ap­tie­ren. Ker­n­ide­en der Le­bens­re­for­mer stie­ßen aber zu­gleich auf Re­so­nanz in eman­zi­pa­to­ri­schen po­li­ti­schen Strö­mun­gen. So­zi­al­de­mo­kra­ti­sche und ge­werk­schaft­li­che Grup­pie­run­gen et­wa ver­folg­ten da­bei eher klas­sen­be­wuss­te, ge­sell­schafts­ver­än­dern­de Pro­jek­te. Auch wenn sie an­fangs eher „Spiel­feld ei­ner avant­gar­dis­ti­schen Min­der­heit“[23] wa­ren, so er­ziel­ten die Re­form­grup­pen den­noch ei­ne Wir­kung bis tief in die Ge­sell­schaft.

4. Großstadtfeindschaft als Zivilisationskritik

Ei­nes ih­rer Merk­ma­le war die in­zwi­schen stark ver­brei­te­te Groß­stadt­feind­schaft, wel­che sich mit ei­ner ei­gen­tüm­li­chen Agrar­ro­man­tik ver­band, die das na­tur­ge­bun­de­ne länd­li­che Le­ben ge­gen­über dem städ­ti­schen mit star­ken Bil­dern und Me­ta­phern ver­herr­lich­te. Die Stadt wur­de ge­ra­de­zu zum Fo­kus der zer­stö­re­ri­schen Kräf­te von Ra­tio­na­li­tät, Abs­trak­ti­on und Ver­mas­sung er­klärt, wäh­rend die Na­tur als prin­zi­pi­ell sinn­stif­ten­de, jetzt aber in ih­ren Grund­fes­ten be­droh­te In­stanz über­höht wur­de. Die auf die­sen Grund­la­gen ent­ste­hen­de Be­we­gung or­ga­ni­sier­te sich et­wa im bil­dungs­bür­ger­li­chen „Bund Hei­mat­schut­z“, der 1904 von dem Mu­si­ker Ernst Ru­dorff (1840-1916) mit­ge­grün­det wor­den war und in der Fol­ge­zeit agrar­ro­man­ti­sche, völ­ki­sche und an­ti­se­mi­ti­sche Ide­en ver­trat.[24] Dort ga­ben Leu­te wie der Ma­ler und Ar­chi­tekt Paul Schult­ze-Naum­burg (1869-1949) den Ton an, ein be­ken­nen­der An­ti­se­mit und Ras­sist, der sich in vol­ler Über­zeu­gung spä­ter dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus an­schloss. Das konn­te nicht über­ra­schen, war doch für die Be­we­gung der Hei­mat­schüt­zer die völ­kisch-na­tio­na­lis­ti­sche Per­spek­ti­ve zen­tral. Groß­stadt­kri­tik ver­band sich hier mit der Ver­klä­rung ei­ner agra­ri­schen Welt der Bau­ern, des Dor­fes und des Lan­des als po­si­ti­ves Ge­gen­stück zur ver­meint­lich de­ge­ne­rier­ten, ur­ba­nen Ge­sell­schaft an­ony­mer und ent­frem­de­ter Groß­städ­te.

Die­se Ideo­lo­gie traf auf durch­aus frucht­ba­ren Bo­den, war doch für vie­le Men­schen um die Jahr­hun­dert­wen­de die Stadt le­ben­dig und des­il­lu­sio­nie­rend zu­gleich. Die so­zia­len und öko­lo­gi­schen Kos­ten von In­dus­tria­li­sie­rung und Ur­ba­ni­sie­rung sah man in der mo­der­nen Stadt ver­dich­tet und mit al­len Sin­nen spür­bar – zu­min­dest dann, wenn man in den fal­schen Vier­teln und Quar­tie­ren le­ben muss­te.[25] 1896 ver­öf­fent­lich­te der Pu­bli­zist und be­ken­nen­de An­ti­se­mit Theo­dor Fritsch (1852-1933) sein uto­pi­sches Buch Die Stadt der Zu­kunft und be­zeich­ne­te dar­in (Groß-)Städ­te als un­ge­sun­de Aus­wüch­se der Ci­vi­li­sa­ti­on, als Was­ser­köp­fe und Pest­beu­len der Kul­tur. So­gar Schwei­ne­stäl­le der Kul­tur wür­den sie ge­nannt und lei­der mit ei­nem ge­wis­sen Recht.[26] Groß­stadt­feind­schaft ent­sprang – of­fen oder ver­deckt – aus zahl­lo­sen Quel­len und kam be­son­ders un­ver­hüllt und wort­ge­wal­tig bei ei­ni­gen pro­mi­nen­ten In­tel­lek­tu­el­len zum Aus­druck. Lud­wig Kla­ges (1872-1956) et­wa, der Sohn von Ste­fan Ge­or­ge, ei­ne schil­lern­de Fi­gur der Mün­che­ner Bohè­me-Sze­ne und ein Mo­de­phi­lo­soph des spä­ten Kai­ser­rei­ches, wur­de in der Sa­che be­son­ders deut­lich: Die meis­ten Men­schen sei­en in Groß­städ­ten zu­sam­men­ge­sperrt und von Ju­gend auf an rau­chen­de Schlo­te, Ge­tö­se des Stra­ßen­lärms und tag­hel­le Näch­te ge­wöhnt. Der Blick für die Schön­heit der Land­schaft sei ih­nen ver­lo­ren ge­gan­gen, denn sie wä­ren schon be­glückt, wenn in ma­ge­ren Chaus­see­bäu­men ei­ni­ge Sta­re und Spat­zen zwit­schern. Die Zi­vi­li­sa­ti­on trägt die Zü­ge ent­fes­sel­ter Mord­sucht, und die Fül­le der Er­de ver­dorrt vor ih­rem gif­ti­gen An­hauch. So se­hen al­so die Früch­te des Fort­schritts aus.[27] Sol­che ein­dring­li­chen Wor­te und star­ken Me­ta­phern in Sa­chen Zi­vi­li­sa­ti­ons­kri­tik konn­te das Pu­bli­kum in sei­nen Gruß­wor­ten zum „Ers­ten Frei­deut­schen Ju­gend­ta­g“ 1913 hö­ren und le­sen.

In die­ser Form von Groß­stadt­kri­tik fan­den sich vor­weg­ge­nom­me­ne Va­ri­an­ten ei­ner so­zi­al­bio­lo­gi­schen Theo­rie des Ur­ba­ni­sie­rungs­pro­zes­ses, die auf die Op­po­si­ti­on „kran­ke Stadt“ ver­sus „ge­sun­des Lan­d“ hin­aus lie­fen.28 Das Bild des „pa­ra­si­tä­ren Städ­ter­s“, der al­lein nicht über­le­bens­fä­hig sei, wur­de hier in grif­fi­ge For­meln über­setzt: Die Stadt zehrt, das Land nährt. Das Dorf wur­de bei­spiel­haft auch von Ge­sell­schafts­theo­re­ti­kern un­ter­schied­lichs­ter Cou­leur – ob Fried­rich En­gels, Fer­di­nand Tön­nies (1855-1936) oder Ge­org Sim­mel (1858-1918) – als ide­al­ty­pi­scher Ge­gen­ent­wurf zu den ra­sant wach­sen­den Ag­glo­me­ra­ti­ons­räu­men der In­dus­trie­städ­te und Me­tro­po­len the­ma­ti­siert: „[…] als an­hei­meln­der Ge­gen­pol zum ur­ba­nen Mo­loch, […] als das idyl­li­sche An­de­re ei­ner un­ge­lieb­ten Mo­der­ne, de­ren Be­dro­hun­gen und Grau­sam­kei­ten ge­ra­de in den Groß­städ­ten of­fen zu­ta­ge tre­ten. […] Es scheint, als sei ihr Ge­gen­satz fest im Quell­code der Mo­der­ne ein­ge­schrie­ben.[28] 

5. Lebensreform als „antimoderner Reflex“? Eine Debatte

Sol­che Dis­kur­se wa­ren Va­ri­an­te und Aus­druck ei­ner kol­lek­ti­ven Stim­mungs­la­ge um die Jahr­hun­dert­wen­de und bil­de­ten den Kon­text zur Deu­tung der An­zie­hungs­kraft al­ter­na­ti­ver Le­bens­zu­schnit­te und per­sön­li­cher Aus­drucks­for­men. Doch wie lässt sich das ver­meint­lich rät­sel­haf­te Stim­mungs­tief der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft am Fin de Siècle ur­säch­lich er­klä­ren? Der His­to­ri­ker Joa­chim Rad­kau sieht ei­nen Schlüs­sel da­für in der all­ge­mei­nen Ner­vo­si­tät, „die als Epi­de­mie der Zeit emp­fun­den wur­de, und in den Na­tur­heil­leh­ren, die um die Jahr­hun­dert­wen­de weit ver­brei­tet wa­ren.“[29] Der da­mals re­nom­mier­te Neu­ro­lo­ge Wil­helm Hils (Le­bens­da­ten un­be­kannt) ha­be 1908 die „Ner­vo­si­tät‘“ der Stadt­be­woh­ner so­gar zur neu­en „Volks­krank­heit“ er­klärt. Nur so sei die ra­pi­de Zu­nah­me an Ner­ven- und Na­tur­heil­stät­ten und der Auf­schwung von ein­schlä­gi­gen Na­tur­heil­ver­fah­ren er­klär­bar. Rad­kau lei­tet dar­aus ei­nen psy­cho­so­zia­len Zu­sam­men­hang von Na­tur- und Re­form­be­we­gun­gen ab. Die „ner­vö­se Stadt“ (oder eher die wach­sen­de Zahl der Neu­ras­the­ni­ker in ih­rem „ner­ven­auf­rei­ben­den Ge­trie­be“) sei­en zum The­ma ih­rer Prot­ago­nis­ten ge­wor­den, die da­mit zu­gleich im ge­sell­schaft­li­chen Main­stream an­ka­men und nicht als ver­ein­zel­te Exo­ten oder „Spin­ner“ an des­sen Rän­dern ver­küm­mer­ten. Emp­feh­lun­gen für in­di­vi­du­el­le Ver­hal­tens­kor­rek­tu­ren schlu­gen durch bis in die höchs­ten Eta­gen der Ge­sell­schaft und der funk­tio­na­len Eli­ten, wo selbst der Kai­ser an­geb­lich vom früh­mor­gend­li­chen Wein­trin­ker zum strik­ten An­ti­al­ko­ho­li­ker mu­tiert sei.[30] 

Klaus Berg­mann da­tiert den Be­ginn der an­ti­ur­ba­nen Dis­kur­se und ent­spre­chen­der Be­we­gun­gen auf die 1890er Jah­re.[31] Im Zen­trum der Groß­stadt­kri­tik der Le­bens­re­for­mer ste­he vor al­lem die kol­lek­ti­ve Über­for­de­rung durch die neue „Un­über­sicht­lich­keit der Groß­städ­te“ als Aver­si­on ge­gen den ge­fürch­te­ten „Asphalt­dschun­gel“. Ih­re Reich­wei­te sei aber ins­ge­samt eher auf bil­dungs­bür­ger­li­che Mi­lieus be­grenzt ge­blie­ben.[32] De­ren pes­si­mis­tisch ver­än­der­te Stim­mungs­la­ge las­se sich bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad mit dem Be­deu­tungs­ver­lust ge­gen­über dem in­dus­tri­el­len Groß­bür­ger­tum er­klä­ren und den da­mit ver­bun­de­nen Ori­en­tie­rungs- und Iden­ti­täts­kri­sen. So ver­stärk­te sich im be­ob­acht­ba­ren Pro­zess der Spe­zia­li­sie­rung und Ver­wis­sen­schaft­li­chung der Welt bei vie­len Zeit­ge­nos­sen ein Ge­fühl von Un­si­cher­heit oder Un­ver­ständ­nis ge­gen­über der An­ony­mi­tät ver­bor­ge­ner, schwer durch­schau­ba­rer Ent­schei­dungs­struk­tu­ren. Die­se bo­ten wie­der­um Stoff für Ver­schwö­rungs­my­then und Er­lö­sungs­phan­ta­si­en al­ler Art.

Die or­ga­ni­sier­te Ar­bei­ter­schaft ent­wi­ckel­te da­ge­gen ei­ge­ne Ver­bün­de und Pro­jek­te, et­wa die Na­tur­freun­de­be­we­gung, die das „Na­tur­er­leb­nis für al­le“ mit Leit­mo­ti­ven so­zia­ler Ge­rech­tig­keit, So­li­da­ri­tät und Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik zu ver­bin­den such­te und Mit­te der 1920er Jah­re die bür­ger­li­che Hei­mat­schutz­be­we­gung an Mit­glie­der­zah­len bei wei­tem über­traf.[33] Flo­ren­ti­ne Frit­zen wie­der­um be­zeich­net die aus­ge­präg­te Kon­sum­kri­tik und die Ver­zichts­for­de­run­gen auch der Re­form­haus­be­we­gung ins­ge­samt als „Lu­xusphä­no­men der ent­ste­hen­den Wohl­stands­ge­sell­schaft.“[34] Da­bei sei es we­ni­ger um Geg­ner­schaft zur Mo­der­ne ge­gan­gen, als um Selbst­op­ti­mie­rung und in­di­vi­du­el­le Wün­sche nach ei­nem an­de­ren, ei­nem bes­se­ren Le­ben.

Vol­ker Weiß be­tont ge­gen­über Joa­chim Rad­kau, dass die al­ter­na­ti­ven Re­for­mer ins­be­son­de­re der völ­ki­schen Be­we­gung sehr na­he­ge­stan­den hät­ten. Weiß be­schreibt die Wi­der­sprüch­lich­keit zwi­schen dem Be­mü­hen, ei­ner­seits „das Gu­te im Men­schen zum Vor­schein zu brin­gen“ und an­de­rer­seits der Nä­he zu an­ti-eman­zi­pa­to­ri­schen Ideo­lo­gi­en wie Ras­sis­mus, Frau­en­feind­lich­keit oder An­ti­se­mi­tis­mus.[35] Wäh­rend der Co­vid-Pan­de­mie stell­te der Jour­na­list An­dre­as Speit den Be­zug zu den so­ge­nann­ten „Quer­den­kern“ her und ord­ne­te die­se in den Kon­text der lan­gen Tra­di­ti­on ei­nes „an­ti­mo­der­nen Re­fle­xes“ ein.[36]  Als Kron­zeu­gen da­für führt er un­ter an­de­rem den Ma­ler Hu­go Höpp­ner (1868-1948) an, der un­ter dem Pseud­onym Fi­dus ei­ne ge­wis­se Be­rühmt­heit er­lang­te und ex­pli­zit völ­ki­schem Den­ken an­hing. Höpp­ner prä­sen­tier­te gern sei­nen an­dro­gyn in­sze­nier­ten, oft nur in Licht ge­klei­de­ten Kör­per, mu­tier­te zu ei­ner Iko­ne der Ju­gend­be­we­gung und zum Pop­star der 1920er Jah­re. Noch vor der Macht­über­tra­gung wur­de Höpp­ner Mit­glied der NS­DAP, oh­ne je­doch son­der­lich Be­deu­tung in der Par­tei zu ge­win­nen.

Auch Rad­kau hebt ins­be­son­de­re die Am­bi­va­lenz der Be­we­gung her­vor und sieht die­se kol­lek­tiv ab­ge­bil­det in der oben zi­tier­ten Per­son des Lud­wig Kla­ges, der sich ei­ner­seits von je­der Form des So­zi­al­dar­wi­nis­mus dis­tan­ziert ha­be, ex­pli­zit pa­zi­fis­tisch auf­ge­tre­ten und 1914 emi­griert sei, des­sen Schrif­ten aber prall ge­füllt sei­en mit an­ti­se­mi­ti­schen Res­sen­ti­ments.[37] 

Eduard von der Heydt, Porträtfotografie, undatiert, Original im Stadtarchiv Wuppertal/ FS 1705, Foto: Erich Sellin. (gemeinfrei)

 

Das kam auch spä­ter bei den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten gut an, wenn­gleich nicht auf gan­zer Li­nie. Kla­ges taug­te of­fen­bar nicht zwei­fels­frei zum ideo­lo­gi­schen Aus­hän­ge­schild. So be­schreibt Rad­kau die bun­te Ver­samm­lung von Non­kon­for­mis­ten und Sys­te­m­ab­weich­lern eher als ei­ne Be­we­gung, die we­der in der Ge­sell­schaft des se­mi­feu­da­len Kai­ser­rei­ches noch in an­de­ren au­to­ri­tä­ren Struk­tu­ren ih­re Flucht­punk­te ge­sucht und ge­fun­den ha­be. Die Le­bens­re­form sei „nicht das gänz­lich an­de­re der Mo­der­ne und auch kei­ne rei­ne Ge­gen­welt zur wil­hel­mi­ni­schen Ge­sell­schaf­t“ ge­we­sen. Sie als ins­ge­samt „re­ak­tio­när“ oder „an­ti­mo­dern“ zu be­zeich­nen, grei­fe zu kurz. Im Selbst­ver­ständ­nis der Zeit­ge­nos­sen er­schien manch le­bens­re­for­me­ri­sche For­de­rung durch­aus pro­gres­siv als al­ter­na­ti­ve Mo­der­ne und ihr völ­ki­scher Re­flex in prä­fa­schis­ti­scher Zeit noch nicht hin­rei­chend durch­schaut.[38] 

Die An­schluss­fä­hig­keit et­wa der Re­form­haus-Be­we­gung an den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus lässt sich al­ler­dings kaum über­se­hen, ist sie nicht zu­letzt auch per­so­nen­ge­schicht­lich pro­mi­nent do­ku­men­tiert. Ei­ner ih­rer pu­bli­zis­tisch ak­tivs­ten Köp­fe, der Le­bens­re­for­mer und Pu­bli­zist Wer­ner Alt­pe­ter (1902-1985), war ab 1925 jahr­zehn­te­lang ver­ant­wort­li­cher Re­dak­teur der eben­so pro­gram­ma­ti­schen, wie auf­la­gen­star­ken und kos­ten­los ver­teil­ten Zeit­schrift „Das Re­form­haus“ und de­ren Fol­ge­or­ga­nen „Neu­form-Rund­schau“ so­wie „Re­form-Rund­schau“. Alt­pe­ter trat 1937 in die NS­DAP ein, nach­dem er be­reits frü­her durch an­ti­se­mi­ti­sche Schrif­ten auf­ge­fal­len war, wur­de Mit­glied zahl­rei­cher NS-Ver­bän­de, un­ter an­de­rem der Deut­schen Ar­beits­front (DAF) und ver­öf­fent­lich­te in den Kun­den­zeit­schrif­ten re­gel­mä­ßig The­men und The­sen, die ex­pli­zit der NS-Ideo­lo­gie folg­ten.[39] 1939 be­schrieb er pro­gram­ma­tisch ei­ne Ziel­per­spek­ti­ve: Al­le Le­bens­re­form hat im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Staat den Zweck, die Volks­ge­sund­heit und da­mit Wehr­fä­hig­keit, Ge­bär­fä­hig­keit und Leis­tungs­fä­hig­keit zu stei­gern.[40]

Hygienisches Reformhaus, Werbeanzeige 1907, Koblenz, aus: Spezialadressbuch für Coblenz nebst Vor- und Nachbarorten, Coblenzer Volkszeitung (Hg.), Görres-Verlag, Koblenz Juli 1907, S. 65. (gemeinfrei)

 

6. Weltanschauung als Ware

Doch zu­rück nach Bar­men, wo man­che um die Jahr­hun­dert­wen­de be­haup­te­ten, in ei­ner der ge­sün­des­ten deut­schen Groß­städ­te zu le­ben.[41] In die­ser Pio­nier­stadt der Mo­der­ni­sie­rung ent­wi­ckel­ten sich um die Jahr­hun­dert­wen­de mer­kan­ti­le An­sät­ze, die Kon­zep­te von Wi­der­stän­dig­keit und Non­kon­for­mis­mus im Pro­jekt Le­bens­re­form in Kom­mer­zia­li­sie­rung zu über­set­zen, das hei­ßt ein ge­sund­heits­be­wuss­tes Wa­ren­an­ge­bot zur in­di­vi­du­el­len Ver­än­de­rung des ur­ba­nen Le­bens­stils für ei­nen ent­ste­hen­den Markt vor­zu­hal­ten. Karl Au­gust Heynens Re­form­haus, dem er bald ein so­ge­nann­tes „Re­form-Re­stau­ran­t“ und ein Gro­ßhan­dels­la­ger für „Re­form­waren“, Ge­sund­heits­ar­ti­kel und al­ko­hol­freie Ge­trän­ke in Bar­men zur Sei­te stell­te, war ei­ner­seits Re­ak­ti­on auf die Kri­tik an den hu­ma­nen Kos­ten von In­dus­tria­li­sie­rung und Mas­sen­pro­duk­ti­on und ih­rer For­de­rung nach grund­sätz­li­cher Neu­ori­en­tie­rung als Ver­zicht auf und Er­satz von Fleisch, Ge­nuss­mit­teln und Kon­ser­ven durch fri­sche pflanz­li­che Pro­duk­te, Roh­kost und Voll­korn. An­de­rer­seits war es auch Aus­druck ei­ner ge­schäfts­tüch­ti­gen Spe­zia­li­sie­rung im Ein­zel­han­del und da­mit Va­ri­an­te ei­ner ent­ste­hen­den Kon­sum­ge­sell­schaft. Die Pa­let­te an Re­form­pro­duk­ten war in­zwi­schen be­acht­lich: Hau­sen’s Kas­se­ler Ha­fer-Ka­kao, Stein­metz-Brot, Mahr’s po­rö­se Jung­born-Wä­sche, Oz­of­lu­in – ein neu­es Ba­de-In­gre­di­enz, Sa­nella Pflan­zen-Mar­ga­ri­ne, ge­trock­ne­te Ba­na­nen, Ve­ge­ta­ri­sche Sei­fe, al­ko­hol­freie Wei­ne Nek­tar, Dr. Lah­mann’s Ve­ge­ta­bi­le Milch, Carl Braun’s Re­form­stie­fel, Um­bach’s Dampf­töp­fe und ähn­li­ches.[42] Kauf­leu­te und Dienst­leis­ter wie Heynen ent­wi­ckel­ten aus dem kol­lek­ti­ven Be­dürf­nis nach Na­tur­er­le­ben, Ge­sund­heit und ent­spre­chen­der Kost ei­ne lu­kra­ti­ve Ge­schäfts­idee. Re­form­häu­ser ver­sorg­ten die Kund­schaft mit vie­lem, was sie da­zu für nö­tig hiel­ten: vom Frucht­kaf­fee, über die Nuss­but­ter bis zur na­tür­li­chen Un­ter­wä­sche. Die po­ten­zi­el­le Kund­schaft da­für war in­zwi­schen zahl­reich, auch wenn man in den pro­le­ta­ri­schen Mi­lieus not­ge­drun­gen die von den Le­bens­re­for­mern pos­tu­lier­te ge­sun­de pflanz­li­che Er­näh­rung eher als Selbst­ver­sor­ger mit dem ei­ge­nen klei­nen Gar­ten am Stadt­rand rea­li­sier­te. Den­noch war der Be­such ei­nes Re­form­hau­ses künf­tig kei­ne ex­klu­siv bür­ger­li­che An­ge­le­gen­heit mehr. Mit der prag­ma­ti­schen Trans­for­ma­ti­on ei­ner „sä­ku­la­ri­sier­ten Heils­leh­re“[43] in kon­su­mier­ba­re Pro­duk­te mit ent­spre­chen­den Lä­den, die zu­gleich Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Mul­ti­pli­ka­to­ren-Funk­tio­nen über­nah­men, wur­de der ex­klu­si­ve Be­zug auf die non­kon­for­mis­ti­schen Mi­lieus der bür­ger­li­chen Le­bens­re­form­be­we­gung auf­ge­löst zu­guns­ten ei­ner In­te­gra­ti­on der Bran­che in die All­tags­kul­tur der mo­der­nen Ar­bei­ter- und An­ge­stell­ten­ge­sell­schaft. Al­ter­na­ti­ve Welt­an­schau­ung wur­de zur (Re­form)Wa­re.

Der Bar­mer Jung­brun­nen, das na­men­stif­ten­de Stamm­haus al­ler Re­form­häu­ser, hat­te al­ler­dings kei­ne gro­ße Zu­kunft. Es wur­de 1943 bei dem ver­hee­ren­den Bom­ben­an­griff auf die Stadt völ­lig zer­stört. Karl Au­gust Heynen und sei­ne Frau ka­men in den Flam­men am neu­en Stand­ort ih­res Hau­ses in der Schu­chard­stra­ße ums Le­ben.[44] 

Idee und Kon­zept der ge­nos­sen­schaft­lich or­ga­ni­sier­ten Re­form­häu­ser in Deutsch­land und Ös­ter­reich, die noch heu­te als er­folg­rei­che Mul­ti­pli­ka­to­ren ge­sun­der Le­bens­sti­le und Er­näh­rung gel­ten kön­nen, blie­ben wei­ter­hin er­folg­reich, wenn­gleich sich auch eso­te­risch ori­en­tier­te Nach­fah­ren ih­rer le­bens­re­for­me­ri­schen Vor­bil­der ge­le­gent­lich dort ein­fin­den.

Quellen

Adreß­buch der Stadt Bar­men und der Ge­mein­de Lüttring­hau­sen, Bar­men 1913 [On­line].

Haa­cke, Hein­rich, Die Ge­stal­tung der Le­bens­mit­tel­prei­se und Miet­prei­se von 1890 bis 1912 in Bar­men und ihr Ein­fluß auf die Kos­ten der Le­bens­hal­tung, in: Kos­ten der Le­bens­hal­tung in deut­schen Groß­städ­ten, Band 2: West- und Süd­deutsch­land, im Auf­trag des Ver­eins für So­ci­al­po­li­tik her­aus­ge­ge­ben von Franz Eu­len­berg, Mün­chen/Leip­zig 1914, S. 43−90.

Stadt­ar­chiv Wup­per­tal (STAW), J II 027, Kon­sum­ge­nos­sen­schaft Vor­wärts (1900–1924). 

Literatur

Al­brecht, Jörg, Vom Kohl­ra­bi-Apos­tel zum Bi­o­na­de-Bie­der­mei­er. Zur kul­tu­rel­len Dy­na­mik al­ter­na­ti­ver Er­näh­rung in Deutsch­land, Würz­burg 2022.

Alt­pe­ter, Wer­ner, Zur Ge­schich­te der Le­bens­re­form­be­we­gung, Bad Hom­burg/Ber­lin/Ham­burg 1964.

Berg­mann, Klaus, Agrar­ro­man­tik und Groß­stadt­feind­schaft, Mei­sen­heim/Glan 1970.

Botsch, Gi­de­on/Ha­ver­kamp, Jo­sef (Hg.), Ju­gend­be­we­gung, An­ti­se­mi­tis­mus und rechts­ra­di­ka­le Po­li­tik, Ber­lin/Bos­ton 2014.

Brüg­ge­mei­er, Franz-Jo­sef, Schran­ken der Na­tur. Um­welt. Ge­sell­schaft. Ex­pe­ri­men­te 1750 bis heu­te, Es­sen 2014.

Buch­holz, Kai, Le­bens­re­for­me­ri­sches Zeit­schrif­ten­we­sen, in: Buch­holz, Kai u.a. (Hg.), Die Le­bens­re­form. Ent­wür­fe zur Neu­ge­stal­tung von Le­ben und Kunst um 1900, Band 1, Darm­stadt 2001, S. 45−51.

Evans, Ri­chard J., Tod in Ham­burg. Stadt, Ge­sell­schaft und Po­li­tik in den Cho­le­ra-Jah­ren 1830–1910, Rein­bek 1990.

Frit­zen, Flo­ren­ti­ne, Ge­sün­der le­ben. Die Le­bens­re­form­be­we­gung im 20. Jahr­hun­dert, Stutt­gart 2006.

Her­bert, Ul­rich, Ge­schich­te Deutsch­lands im 20. Jahr­hun­dert, Mün­chen 2014.

Hirsch­fel­der, Gun­ther/Höch­stet­ter, Sa­rah, Kon­sum im Ber­gi­schen Land, in: Go­ri­ßen, Ste­fan/Sas­sin, Horst/Wes­oly, Kurt (Hg.), Ge­schich­te des Ber­gi­schen Lan­des, Band 2: Das 19. und 20. Jahr­hun­dert, S. 463−483.

Höh­ne, Ste­fan, Die Idio­tie des Stadt­le­bens, in: Zeit­schrift für Ide­en­ge­schich­te 9/2 (2015), S. 39−46.

Ill­ner, Eber­hard (Hg.), Edu­ard von der Heydt. Kunst­samm­ler, Ban­kier, Mä­zen, Mün­chen 2013.

Köll­mann, Wolf­gang, So­zi­al­ge­schich­te der Stadt Bar­men im 19. Jahr­hun­dert, Tü­bin­gen 1960.

Kö­nig, Gu­drun M., Kon­sum­kul­tur. In­sze­nier­te Wa­ren­welt um 1900, Wien 2009.

Ko­er­ber, Rolf, Frei­kör­per­kul­tur, in: Kerbs, Diet­hart/Reule­cke, Jür­gen (Hg.), Hand­buch der deut­schen Re­form­be­we­gun­gen 1880–1933, Wup­per­tal 1998, S. 103−114.

Krab­be, Wolf­gang, Ge­sell­schafts­ver­än­de­rung durch Le­bens­re­form. Struk­tur­merk­ma­le ei­ner so­zi­al­re­for­me­ri­schen Be­we­gung im Deutsch­land der In­dus­tria­li­sie­rungs­pe­ri­ode, Göt­tin­gen 1974.

Krab­be, Wolf­gang, Mu­ni­zi­pal­so­zia­lis­mus und In­ter­ven­ti­ons­staat, in: Ge­schich­te in Wis­sen­schaft und Un­ter­richt 30 (1979), S. 265−283.

Kühl, Uwe (Hg.), Der Mu­ni­zi­pal­so­zia­lis­mus in Eu­ro­pa, Pa­ris 2001.

Laak, Dirk van, Al­les im Fluss. Die Le­bens­adern un­se­rer Ge­sell­schaft – Ge­schich­te und Zu­kunft der In­fra­struk­tur, Frank­furt am Main 2019.

Len­ger, Fried­rich, Stadt-Ge­schich­ten. Deutsch­land, Eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka seit 1800, Frank­furt am Main 2009.

Mers­mann, Ar­no, Ge­nos­sen­schaf­ten im Ber­gi­schen Land, in: Go­ri­ßen, Ste­fan/Sas­sin, Horst/Wes­oly, Kurt (Hg.), Ge­schich­te des Ber­gi­schen Lan­des, Band 2: Das 19. und 20. Jahr­hun­dert, S. 485−487.

Mer­ta, Sa­bi­ne, We­ge und Irr­we­ge zum mo­der­nen Schlank­heits­kult. Diät­kost und Kör­per­kul­tur als Su­che nach neu­en Le­bens­stil­for­men 1880−1930, Wies­ba­den 2003.

Rad­kau, Joa­chim, Das Zeit­al­ter der Ner­vo­si­tät. Deutsch­land zwi­schen Bis­marck und Hit­ler, Mün­chen 1998.

Rad­kau, Joa­chim, Die Ver­hei­ßun­gen der Mor­gen­frü­he. Die Le­bens­re­form in der neu­en Mo­der­ne, in: Buch­holz, Kai u.a. (Hg.), Le­bens­re­form. Ent­wür­fe zur Neu­ge­stal­tung von Le­ben und Kunst um 1900, Band 1, Darm­stadt 2001, S. 55−60.

Reule­cke, Jür­gen, Ge­schich­te der Ur­ba­ni­sie­rung in Deutsch­land, Frank­furt am Main 1985.

Reule­cke, Jür­gen, Ei­ne al­te Tex­til­re­gi­on im Wan­del. Das Wup­per­tal um 1900, in: Piel­hoff, Ste­phen (Hg.), Ber­gi­sche Mi­nia­tu­ren. Ge­schich­ten und Er­fah­run­gen, Es­sen 2010, S. 271−282.

Sig­rist, Han­nes, Kon­sum, Kul­tur und Ge­sell­schaft im mo­der­nen Eu­ro­pa, in: Sig­rist, Han­nes/Ka­el­b­le, Hart­mut/Ko­cka, Jür­gen (Hg.), Eu­ro­päi­sche Kon­sum­ge­schich­te. Zur Ge­sell­schafts- und Kul­tur­ge­schich­te des Kon­sums (18. bis 20. Jahr­hun­dert), Frank­furt am Main/New York 1997, S. 13−48.

Speit, An­dre­as, An­ti­mo­der­ner Re­flex mit lan­ger Tra­di­ti­on. Quer­den­ken und Co­ro­na-Leug­nen als Strö­mung der Le­bens­re­form­be­we­gung, in: Benz, Wolf­gang (Hg.), Quer­den­ken. Pro­test­be­we­gung zwi­schen De­mo­kra­tie­ver­ach­tung, Hass und Auf­ruhr, Ber­lin 2021, S. 172−193.

Speit, An­dre­as, Ver­que­res Den­ken. Ge­fähr­li­che Welt­bil­der in al­ter­na­ti­ven Mi­lieus, Ber­lin 2021.

Von­de, Det­lef, Traum al­ler Träu­me. Stadt­ge­schich­te(n) der Mo­der­ne, Wup­per­tal 2023.

Von­de, Det­lef, Re­vier der gro­ßen Dör­fer. In­dus­tria­li­sie­rung und Stadt­ent­wick­lung im Ruhr­ge­biet 1871−1918, Es­sen 1989.

We­de­mey­er-Kol­we, Bernd, Auf­bruch. Die Le­bens­re­form in Deutsch­land, Darm­stadt 2017.

Weiß, Vol­ker, Zucht und Bo­den. Wie rechts war die Le­bens­re­form?, in: Zeit Ge­schich­te, Jg. 2013, Nr. 2, S. 94−98.

Welti, Fran­ces­co, Der Ba­ron, die Kunst und das Na­zi­gold, Stutt­gart/Wien 2008. 

Online

Rad­kau, Joa­chim, Al­ter­na­ti­ve Mo­der­ne. Ins Freie, ins Licht!, in: ZEIT Ge­schich­te, Jg. 2013, Nr. 2, 21.5.2013, S. 16-21. [On­line]

Laak, Dirk van, In­fra­struk­tu­ren, Ver­si­on 1.0, in: Do­cup­edia-Zeit­ge­schich­te. [On­line]

Ladeneinrichtung des späteren Reformhauses Eden in der Engerserstraße in Neuwied, 1890. (Landeshauptarchiv Koblenz/ Best. 710 Nr. 6811)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Vonde, Detlef, Lebensreform und Zivilisationskritik um 1900. Das Barmer „Reformhaus Jungbrunnen“, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/lebensreform-und-zivilisationskritik-um-1900.-das-barmer-reformhaus-jungbrunnen/DE-2086/lido/6825b998ddac86.64425846 (abgerufen am 09.07.2025)

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 22.05.2025