„Stalin wird einmal die Welt regieren“ - Sowjetunion-Bilder im Saarland nach der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935

Alexander Friedman (Düsseldorf)

"Volksabstimmung 1935" als Aufdruck auf einer Flugpostmarke aus demselben Jahr. (Gemeinfrei/Foto: René Smolarski)

1. Einleitung

Im Ja­nu­ar 1935 ver­folg­te die so­wje­ti­sche Pres­se auf­merk­sam die Er­eig­nis­se im Saar­ge­biet.[1] In der wich­tigs­ten so­wje­ti­schen Zei­tung Prav­da („Wahr­heit“) er­schie­nen die Be­rich­te der Kor­re­spon­den­ten aus Ber­lin und Pa­ris, wel­che die La­ge an der Saar vor und nach der Volks­ab­stim­mung be­leuch­te­ten. Der gro­ßen in­ter­na­tio­na­len Be­deu­tung der Saarab­stim­mung be­wusst, ent­sand­te die Prav­da zu­dem ei­nen Re­por­ter nach Saar­brü­cken.[2]  In der Zei­tung Iz­ves­ti­ja („Nach­rich­ten“) ana­ly­sier­te der be­rühm­te bol­sche­wis­ti­sche Funk­tio­när und Pu­bli­zist Karl B. Ra­dek (1885-1939) die Er­geb­nis­se der Volks­ab­stim­mung und ih­re mög­li­chen Kon­se­quen­zen für das Saar­ge­biet, für Deutsch­land und Eu­ro­pa. Prav­da, Iz­ves­ti­ja und Zei­tun­gen aus der Pro­vinz ver­öf­fent­lich­ten im Ja­nu­ar 1935 Nach­rich­ten­mel­dun­gen der Te­le­gra­fe­nagen­tur der So­wjet­uni­on (TASS) über die an­ge­spann­te Si­tua­ti­on an der Saar. Die TASS be­rief sich da­bei auf die In­for­ma­tio­nen west­li­cher Nach­rich­ten­agen­tu­ren (Ha­vas, Reu­ters, As­so­cia­ted Press), auf Pu­bli­ka­tio­nen ame­ri­ka­ni­scher, eng­li­scher, deut­scher (im „Drit­ten Reich“ und von deut­schen Emi­gran­ten im Aus­land her­aus­ge­ge­be­nen) und vor al­lem fran­zö­si­scher so­wie saar­län­di­scher (ins­be­son­de­re der kom­mu­nis­ti­schen Ar­bei­ter-Zei­tung) Pres­se­or­ga­ne.

Im Hin­blick auf die Saarab­stim­mung be­zog die UdSSR ei­ne kla­re Po­si­ti­on: So­wohl die Ver­ei­ni­gung des Saar­ge­biets mit Frank­reich als auch sei­ne Rück­kehr zu Deutsch­land wur­den ent­schlos­sen ab­ge­lehnt. Man stell­te den deut­schen Cha­rak­ter des Saar­ge­bie­tes und die deut­sche Iden­ti­tät sei­ner Be­völ­ke­rung zwar nicht in Fra­ge, be­vor­zug­te je­doch an­ge­sichts der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft in Deutsch­land die Sta­tus-Quo-Lö­sung, den Ver­bleib des Saar­ge­bie­tes un­ter der Ver­wal­tung des Völ­ker­bun­des[3], und ei­nen „spä­te­ren An­schluss an ein frei­es Deutsch­lan­d“.[4] Die an­ti­fa­schis­ti­sche Be­we­gung an der Saar – in ers­ter Li­nie die „Ein­heits­fron­t“ der Kom­mu­nis­ten und So­zi­al­de­mo­kra­ten, die sich für die­se Lö­sung im Saar­kampf ein­setz­ten – ge­noss die mas­si­ve Un­ter­stüt­zung der bol­sche­wis­ti­schen Pro­pa­gan­da.[5] 

Un­mit­tel­bar nach dem 13. Ja­nu­ar be­ton­te die Prav­da, dass es kei­ne de­mo­kra­ti­sche und freie Volks­ab­stim­mung an der Saar ge­ge­ben ha­be. Un­ter dem Deck­man­tel ei­ner Volks­ab­stim­mung ha­be sich dort ei­ne dra­ma­ti­sche Far­ce ab­ge­spielt. Um das Saar­ge­biet „heim ins Reich“ zu ho­len, ha­be die von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten do­mi­nier­te „Deut­sche Fron­t“ die Saar­ein­woh­ner sys­te­ma­tisch be­tro­gen, schi­ka­niert und ein­ge­schüch­tert. Man ha­be ge­gen die Kom­mu­nis­ten, So­zi­al­de­mo­kra­ten und wei­te­re An­ti­fa­schis­ten Ge­walt ein­ge­setzt. Un­ter die­sen Um­stän­den hät­ten die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ihr Traum­er­geb­nis er­rei­chen kön­nen: Mehr als 90 Pro­zent der Stimm­be­rech­tig­ten un­ter­stütz­ten die Ver­ei­ni­gung mit Deutsch­land. In der UdSSR war man sich ei­ner deut­li­chen Zu­stim­mung für die „deut­sche Lö­sun­g“ be­wusst und nahm den Sieg des „deut­schen Ka­pi­ta­lis­mus“ über die „saar­län­di­schen Berg­leu­te“ am 13.1.1935 da­her eher ge­las­sen zum Kennt­nis. Es wur­de be­haup­tet, dass die Saar­be­woh­ner ih­re Stim­men für Deutsch­land und nicht für die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Dik­ta­tur ab­ge­ge­ben hät­ten.

Im Be­zug auf die be­vor­ste­hen­de Ein­glie­de­rung des Saar­ge­bie­tes ins „Drit­te Reich“ rech­ne­te die so­wje­ti­sche Pro­pa­gan­da mit der sich schon in der zwei­ten Ja­nu­ar­hälf­te ab­zeich­nen­den Aus­wan­de­rung der an­ti­fa­schis­tisch ein­ge­stell­ten Be­völ­ke­run­g  mit der Ver­schär­fung der Un­ter­drü­ckung von Werk­tä­ti­gen und mit bru­ta­len Re­pres­sio­nen ge­gen Kom­mu­nis­ten und an­de­re Geg­ner des Fa­schis­mus. Gleich­zei­tig pries man die „hel­den­haf­te“ KPD, die ih­ren „selbst­lo­sen“ Kampf für die kom­mu­nis­ti­sche Zu­kunft des Saar­ge­bie­tes und Deutsch­lands trotz des fa­schis­ti­schen Ter­rors fort­setz­ten wür­de.

In der zwei­ten Ja­nu­ar­hälf­te 1935 ver­trat Mos­kau die An­sicht, dass die Saarab­stim­mung kei­nen Bei­trag zum Frie­den in Eu­ro­pa ge­leis­tet und viel­mehr Ber­lins re­van­chis­ti­sche Am­bi­tio­nen be­feu­ert ha­be. Die so­wje­ti­sche Pres­se in­for­mier­te ih­re Le­ser und Le­se­rin­nen über die zu­rück­hal­ten­den Re­ak­tio­nen auf die Volks­ab­stim­mung in Frank­reich und in wei­te­ren west­li­chen Län­dern, über den fre­ne­ti­schen Übel in Deutsch­lan­d  und über ei­ne be­sorg­te Stim­mung in Ös­ter­reich und Po­len, wo man die Re­vi­si­on der exis­tie­ren­den Gren­zen be­fürch­te­te.

Fotografie von Karl Radek, ca. 1920. (Gemeinfrei)

 

In der zwei­ten Hälf­te der 1930er Jah­re spiel­te das Saar­land kei­ne be­mer­kens­wer­te Rol­le in der so­wje­ti­schen Pro­pa­gan­da, wel­che sich vor dem Hit­ler-Sta­lin-Pakt auf den an­ti­fa­schis­ti­schen Kampf der KPD kon­zen­trier­te und ei­nen bal­di­gen un­aus­weich­li­chen Zu­sam­men­bruch der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ge­walt­herr­schaft so­wie die kom­mu­nis­ti­sche Zu­kunft Deutsch­lands be­haup­te­te. Im Kon­text die­ser Pro­pa­gan­da muss auch das in Mos­kau kurz nach der Saarab­stim­mung her­aus­ge­ge­be­ne Buch „Hu­bert im Wun­der­lan­d“ der deut­schen kom­mu­nis­ti­schen Schrift­stel­le­rin Ma­ria Os­ten (1908-1942) be­trach­tet wer­den. In die­sem Buch er­zähl­te Os­ten die Ge­schich­te ih­res Pfle­ge­kin­des, deut­schen Jung­pio­niers Hu­bert L’Hos­te (1923–1958), den sie – zu­sam­men mit ih­rem Le­bens­part­ner, dem be­rühm­ten Prav­da-Re­por­ter Mi­chail E. Kol’cov (1898-1940) – aus der saar­län­di­schen Ge­mein­de Ober­linx­wei­ler nach Mos­kau brach­te und so­mit vom Fa­schis­mus ret­te­te. In der „ro­ten Haupt­stadt“ der So­wjet­uni­on ha­be Hu­bert das glück­li­che Le­ben ei­nes so­wje­ti­schen Ju­gend­li­chen füh­ren kön­nen.  Das Buch und das Brett­spiel für Kin­der und Ju­gend­li­che „Von der Saar nach Mos­kau“ mach­te den jun­gen Hu­bert in der gan­zen So­wjet­uni­on be­kannt. 

Wäh­rend Hu­bert L’Hos­te Mit­te der 1930er Jah­re von der kom­mu­nis­ti­schen Pro­pa­gan­da in­stru­men­ta­li­siert und zum Sym­bol der „glück­li­chen Kind­heit“ in der So­wjet­uni­on sti­li­siert wur­de, saß sein On­kel müt­ter­li­cher­seits, der ehe­ma­li­ge kom­mu­nis­ti­sche Ge­mein­de­ab­ge­ord­ne­ter in Ober­linx­wei­ler, Karl Sch., im No­vem­ber 1935 in Un­ter­su­chungs­haft in Saar­brü­cken.  Der 42-jäh­ri­ge pen­sio­nier­te Ei­sen­bah­ner und In­ha­ber ei­nes Ver­mitt­lungs­bü­ros in Frank­furt am Main wur­de be­schul­digt, in ei­ner Saar­brü­cker Wirt­schaft an­ge­trun­ken „kom­mu­nis­ti­sche Re­den“ ge­hal­ten, da­bei das „ein­zig rich­ti­ge“ Herr­schafts­sys­tem in der UdSSR ge­lobt und die kom­mu­nis­ti­sche Welt­herr­schaft so­wie ein „ro­tes Deutsch­lan­d“ spä­tes­tens in 20 Jah­ren be­schwo­ren zu ha­ben. Am 19.5.1936 wur­de er zu fünf­ein­halb Mo­na­ten Ge­fäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt.  Die Jus­tiz­ak­ten aus dem Saar­land der zwei­ten Hälf­te der 1930er Jah­re zei­gen, dass an der Saar vor dem Hit­ler-Sta­lin-Pakt trotz der ra­di­ka­len an­ti­so­wje­ti­schen Pro­pa­gan­da der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten un­ter­schied­li­che – manch­mal wie bei dem er­wähn­ten Kom­mu­nis­ten Sch. – sehr po­si­ti­ve Vor­stel­lun­gen über die UdSSR im Um­lauf wa­ren.

Die­se in der For­schung bis­lang nicht sys­te­ma­tisch un­ter­such­ten So­wjet­uni­on-Bil­der ste­hen im Mit­tel­punkt die­ser Fall­stu­die, die sich in ers­ter Li­nie auf Jus­tiz­ak­ten stützt. Die­se Quel­len und ih­re Be­son­der­hei­ten wer­den im ers­ten Teil des Bei­tra­ges zu­sam­men­fas­send cha­rak­te­ri­siert. An­schlie­ßend wird auf die Fak­to­ren ein­ge­gan­gen, wel­che die Ent­wick­lung der So­wjet­uni­on-Bil­der im Saar­land der 1930er Jah­re präg­ten. Im zwei­ten Teil wer­den die im Saar­land ver­brei­te­ten Vor­stel­lun­gen über die UdSSR aus­führ­lich ana­ly­siert.

Logo der sowjetischen Zeitschrift "Pravda". (Gemeinfrei)

 

2. Justizakten und ihre Besonderheiten

Der so­wje­ti­sche His­to­ri­ker Io­sif M. Le­min (1898-1968) wies 1934 in ei­ner um­fang­rei­chen Ab­hand­lung über die Kriegs­pro­pa­gan­da in Ja­pan und Deutsch­land auf die im „Drit­ten Reich“ staat­lich ge­för­der­te De­nun­zia­ti­on hin. Die De­nun­zia­tio­nen, die Le­min scharf ver­ur­teil­te und die auch in der UdSSR tat­säch­lich vor­han­den und so­mit für die so­wje­ti­schen Le­ser und Le­se­rin­nen kei­nes­falls über­ra­schend sein soll­ten, gal­ten zu­recht als ein we­sent­li­ches Merk­mal der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schafts­pra­xis.  In ei­ner to­ta­li­tä­ren Dik­ta­tur konn­te ei­ne un­vor­sich­ti­ge Be­mer­kung auf der Stra­ße, in ei­ner Gast­wirt­schaft oder un­ter Kol­le­gen das Le­ben ei­ner Per­son dra­ma­tisch ver­än­dern. Die Er­mitt­lungs- und Straf­pro­zess­ak­ten aus dem Saar­land der zwei­ten Hälf­te der 1930er Jah­re ver­an­schau­li­chen die­se Ten­denz: Von ih­ren Mit­bür­ger und Mit­bür­ge­rin­nen de­nun­zier­te Saar­län­der und Saar­län­de­rin­nen, die – oft un­ter dem Ein­fluss von Al­ko­hol – über Adolf Hit­ler und wei­te­re hoch­ran­gi­ge Staats- und Par­tei­funk­tio­nä­re her­ge­zo­gen, die Re­gie­rungs­po­li­tik ge­gei­ßelt oder mit Ju­den, der So­wjet­uni­on und an­de­ren Fein­den des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus sym­pa­thi­siert hat­ten, wur­den fest­ge­nom­men, we­gen ei­nes Ver­ge­hens ge­gen das Ge­setz vom 20.12.1934 ge­gen heim­tü­cki­sche An­grif­fe auf Staat und Par­tei und zum Schutz der Par­tei­uni­for­men (Heim­tü­cke­ge­setz) an­ge­klagt und zu ei­ner mehr­mo­na­ti­gen Ge­fäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt. Die Er­mitt­ler und Rich­ter, wel­che das Schick­sal be­trof­fe­ner Men­schen be­sie­gel­ten, ver­füg­ten über ei­nen be­trächt­li­chen Frei­raum: Die Per­son des „Tä­ter­s“, der Cha­rak­ter und die Um­stän­de sei­nes Ver­ge­hens be­ein­fluss­ten das Straf­maß.

Bei der „Ent­lar­vun­g“ und Be­kämp­fung von Re­gime­geg­nern konn­ten die Ge­sta­po und die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Jus­tiz auf rach­süch­ti­ge Men­schen und pro­fit­gie­ri­ge Op­por­tu­nis­ten, die sich auf Kos­ten ih­rer Mit­bür­ger und Mit­bür­ge­rin­nen pro­fi­lie­ren woll­ten, so­wie ins­be­son­de­re auf glü­hen­de Na­tio­nal­so­zia­lis­ten wie zum Bei­spiel auf Hans Jo. aus Saar­brü­cken zäh­len. Im Früh­jahr 1937 ver­wi­ckel­te der Fahr­gast Jo. den Stra­ßen­bahn­füh­rer Karl P. in ei­ne Dis­kus­si­on über den Bür­ger­krieg in Spa­ni­en. Im Ge­spräch ge­wann Jo. den Ein­druck, dass P., der ei­nen Sen­der aus der Schweiz hör­te, „be­stell­te So­wjet­ar­beit ver­rich­te“. Der Stra­ßen­bahn­füh­rer hat­te Glück: Das Ver­fah­ren ge­gen ihn wur­de aus un­be­kann­ten Grün­den ein­ge­stellt.  Das er­wähn­te Bei­spiel zeigt, dass die Glaub­wür­dig­keit von Jus­tiz­ak­ten na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Pro­ve­ni­enz kri­tisch hin­ter­fragt und die­ser Quel­len­kom­plex sorg­fäl­tig ana­ly­siert wer­den muss. An­ge­sichts die­ser Be­son­der­heit wer­den die Er­mitt­lungs- und Straf­pro­zess­ak­ten in der vor­lie­gen­den Un­ter­su­chung als Quel­len be­trach­tet, die zwar nicht im­mer die tat­säch­lich statt­ge­fun­de­nen Vor­komm­nis­se kor­rekt wi­der­spie­geln, je­doch in der Ge­sell­schaft ver­brei­te­te Vor­stel­lun­gen und Ent­wick­lun­gen ver­an­schau­li­chen.

3. Einflussfaktoren

Nach der Ok­to­ber­re­vo­lu­ti­on in Russ­land 1917 setz­ten sich zahl­rei­che west­li­che kom­mu­nis­ti­sche und an­ti­so­wje­tisch ein­ge­stell­te Au­to­ren mit dem bol­sche­wis­ti­schen Ex­pe­ri­ment aus­ein­an­der. Die am­bi­va­len­te Ent­wick­lung der UdSSR und die In­nen- und Au­ßen­po­li­tik der so­wje­ti­schen Füh­rung wur­den in der im Saar­ge­biet ver­brei­te­ten in­ter­na­tio­na­len und auch lo­ka­len Pres­se kon­tro­vers dis­ku­tiert. Die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­pa­gan­da warn­te vorm „jü­di­schen Bol­sche­wis­mus“, der die So­wjet­uni­on ver­wüs­tet ha­be und nach der Welt­herr­schaft stre­be. Hin­ge­gen stell­ten die Kom­mu­nis­ten die UdSSR in ih­rer Druck- und Mund­pro­pa­gan­da als blü­hen­den „Ar­bei­ter- und Bau­ern­staa­t“ dar, in dem das Klas­sen­sys­tem ab­ge­schafft wor­den sei und die Werk­tä­ti­gen ein wür­di­ges wohl­ha­ben­des und fröh­li­ches Le­ben füh­ren wür­den.  An­hand die­ser wi­der­sprüch­li­chen und oft ver­zerr­ten Be­richt­er­stat­tung kon­stru­ier­ten die Ein­woh­ner des Saar­ge­bie­tes ih­re Vor­stel­lun­gen über das frem­de Land. Ih­re So­wjet­uni­on-Bil­der wur­den dar­über hin­aus durch Be­rich­te rus­si­scher Emi­gran­ten und ein­zel­ner Reichs­deut­scher be­ein­flusst, wel­che sich an der Saar nie­der­ge­las­sen be­zie­hungs­wei­se die UdSSR be­sucht hat­te. Man kann zu­dem da­von aus­ge­hen, dass die im spä­te­ren Kai­ser­reich – vor al­lem wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs – vor­an­ge­trie­be­ne dif­fa­mie­ren­de an­ti­rus­si­sche Pro­pa­gan­da ih­re Spu­ren auch im Saar­ge­biet hin­ter­las­sen hat.  

Zur besseren und notwendigen Verständigung während der Arbeit zwischen deutschen Bergbaubetrieben und ihren Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion gab der Bergbauverein Essen 1941 ein ›Russisch-Deutsches Bild-Wörterbuch für den Steinkohlebergbau‹ heraus. (Foto: Horst Schmadel)

 

4. Russen an der Saar

Hit­lers „Macht­er­grei­fung“ am 30.1.1933 führ­te zu ei­ner ra­di­ka­len Ver­schlech­te­rung der deutsch-so­wje­ti­schen Be­zie­hun­gen. Wäh­rend die so­wje­ti­sche Ge­heim­po­li­zei NKVD nach tat­säch­li­chen und an­geb­li­chen deut­schen Spio­nen und Agen­ten in der UdSSR such­te und sich da­bei ins­be­son­de­re mit den Russ­land­deut­schen be­schäf­tig­te, er­fass­te die Ge­sta­po die rus­si­schen Emi­gran­ten be­zie­hungs­wei­se „so­wjet­rus­si­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen“ im „Drit­ten Reich“ und re­gis­trier­te ins­be­son­de­re ih­re „Ras­sen­zu­ge­hö­rig­keit“.

Im saar­län­di­schen Amts­be­zirk Mer­zig-Land ge­riet En­de 1936 auf die­se Wei­se Mi­cha­el Ja. aus der Ge­mein­de Ba­chem ins Blick­feld der Staats­po­li­zei­stel­le Saar­brü­cken. Der 1899 in der Ukrai­ne ge­bo­re­ne rus­sisch-or­tho­dox ge­tauf­te Land­wirt und spä­te­re Fa­brik­ar­bei­ter Ja. war im Ers­ten Welt­krieg in die za­ris­ti­sche Ar­mee ein­be­ru­fen und von der kai­ser­li­chen Ar­mee ge­fan­gen ge­nom­men wor­den. Der jun­ge Sol­dat ge­hör­te zu ei­nem aus rus­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen zu­sam­men­ge­stell­ten Ar­beits­kom­man­do, das nach Ba­chem ge­bracht wor­den war. In die­ser Ge­mein­de hat­te sich Ja. ei­ne neue Exis­tenz auf­ge­baut. Mit der Saar­län­de­rin An­na Sch. ver­hei­ra­tet, blieb er lan­ge Zeit staa­ten­los und stell­te nach der Saarab­stim­mung ei­nen Ein­bür­ge­rungs­an­trag. Sei­ne Ein­bür­ge­rung ver­zö­ger­te sich trotz sei­ner nicht­jü­di­schen Her­kunft.  Erst Mit­te Ju­li 1939 – kurz vor dem Hit­ler-Sta­lin-Pakt – wur­de Ja. „in den deut­schen Staats­ver­band ein­ge­bür­ger­t“, wo­bei der Amts­bür­ger­meis­ter von Mer­zig-Land zu­frie­den fest­stel­len konn­te, dass es in sei­nem Amts­be­zirk „kei­ne Aus­län­der mehr“ ge­be.  Nach meh­re­ren Jah­ren an der Saar schien Ja. sei­ne Bin­dung an die al­te Hei­mat ver­lo­ren zu ha­ben. Die Ok­to­ber­re­vo­lu­ti­on und die Eta­blie­rung der bol­sche­wis­ti­schen Herr­schaft dort hat­te er schon nicht mehr er­lebt.

Im Ge­gen­satz zu Ja. hat­ten die ehe­ma­li­gen Bür­ger des Za­ren­rei­ches B., G. und M. am rus­si­schen Bür­ger­krieg teil­ge­nom­men, Russ­land erst nach der Nie­der­la­ge der an­ti­bol­sche­wis­ti­schen „wei­ßen Be­we­gun­g“ ver­las­sen und sich in Gü­din­gen in der Nä­he von Saar­brü­cken an­ge­sie­delt. Auch an der Saar sind sie glück­lich nicht ge­wor­den: Mit­te 1935 wa­ren die Emi­gran­ten ar­beits­los. Un­zu­frie­den mit ih­rem Le­ben und of­fen­sicht­lich an­ti­bol­sche­wis­tisch ein­ge­stellt, hör­ten sie Mit­te Ju­ni und An­fang Ju­li 1935 die Re­den des eben­falls ar­beits­lo­sen, aus der schle­si­schen Stadt Fran­ken­stein (heu­te Ząb­ko­wice Śląs­kie in Po­len) stam­men­den Ma­schi­nen­set­zers Al­fred K. (Jahr­gang 1878). K. be­schränk­te sich da­bei nicht nur auf die scho­nungs­lo­se Kri­tik der Re­gie­rungs­po­li­tik, son­dern griff den „Tsche­cho­slo­wa­ken“ Adolf Hit­ler (1889-1945) und den „Lett­län­der“ Al­fred Ro­sen­berg (1893-1946) per­sön­lich an. Na­zi­deutsch­land und die sta­li­nis­ti­sche So­wjet­uni­on wur­den gleich­ge­setzt: „Russ­land ist ein ar­mer Bol­sche­wis­mus. Deutsch­land ist ein ka­pi­ta­lis­ti­scher Bol­sche­wis­mus“. Von sei­nen rus­si­schen Ge­sprächs­part­nern de­nun­ziert, lan­de­te K. An­fang Ju­li 1935 hin­ter Git­tern. Sein wei­te­res Schick­sal ist un­be­kannt. 

Wäh­rend der Schle­si­er K. für sei­ne Äu­ße­run­gen ins Ge­fäng­nis ge­sperrt wur­de, ließ die saar­län­di­sche Jus­tiz den staa­ten­lo­sen Land­ar­bei­ter Ignatz Usch. En­de 1935 über­ra­schend frei. Der in Li­tau­en ge­bo­re­ne 42-jäh­ri­ge Usch. ge­riet in der An­fangs­pha­se des Ers­ten Welt­kriegs in deut­sche Ge­fan­gen­schaft. An der Saar tauch­te Usch. je­doch erst 1932 auf und fand An­stel­lung bei ei­nem Land­wirt in Kir­kel-Neu­häu­sel. Der Staats­po­li­zei fiel er 1935 durch sei­ne sys­te­ma­ti­schen „ab­fäl­li­gen Be­mer­kun­gen“ über Hit­ler („Mör­der“, „Lum­p“, „Va­ga­bun­d“) und die Reichs­re­gie­rung auf, die Usch. in der Re­gel im an­ge­trun­ke­nen Zu­stand mach­te. An­fang Au­gust 1935 be­merk­te er in ei­ner Wirt­schaft zum Bei­spiel, dass die La­ge in Frank­reich, wo er bis zu sei­ner Über­sied­lung ins Saar­ge­biet ge­wohnt ha­be, bes­ser als in Deutsch­land sei. An die Zu­kunft der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft in Deutsch­land glaub­te Usch. nicht: „Russ­land macht Deutsch­land ka­put­t“. Der Al­ko­hol be­frei­te ihn zu­dem von der Angst vor der deut­schen Jus­tiz: „Wenn sie mich ein­sper­ren, be­hal­ten sie mich 14 Ta­ge, dann las­sen sie mich lau­fen.“

Zu­nächst sah es da­nach aus, dass sei­ne be­trun­ke­nen Es­ka­pa­den oh­ne Kon­se­quen­zen blie­ben. Erst zwei Wo­chen spä­ter er­stat­te­te der Zeu­ge Sch. – selbst stark be­trun­ken – ei­ne An­zei­ge ge­gen Usch. Die Tat­sa­che, dass ein Al­ko­ho­li­ker ei­nen an­de­ren Al­ko­ho­li­ker und da­zu noch mit ei­ner er­heb­li­chen Ver­spä­tung de­nun­zier­te, be­ein­fluss­te höchst­wahr­schein­lich die Ent­schei­dung der Staats­an­walt­schaft Saar­brü­cken, das Ver­fah­ren ge­gen Ignatz Usch. Ein­zu­stel­len. 

In der zwei­ten Hälf­te der 1930er Jah­re sam­mel­te die Ge­sta­po die In­for­ma­tio­nen nicht nur über „rus­si­sche Emi­gran­ten“, son­dern auch über „Reichs­deut­sche“, die aus der So­wjet­uni­on zu­rück­ka­men.  Als po­ten­zi­el­le so­wje­ti­sche Agen­ten oder vom Bol­sche­wis­mus ge­präg­te Men­schen gal­ten die „Russ­land­rei­sen­den“ und die so­ge­nann­ten „Russ­land­rück­keh­rer“ als be­son­ders su­spekt.  Zu die­sen „Russ­land­rück­keh­rern“ zähl­ten et­wa Wil­helm H., der 1935 auf der Gru­be Jä­gers­freu­de bei Saar­brü­cken be­schäf­tigt war, und der in Ott­wei­ler ge­bo­re­ne Berg­mann Kurt A. 

Unmittelbar nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses verlassen viele Gegner des nationalsozialistischen Deutschlands das Saargebiet, hier eine Gruppe von Emigranten am Bahnhof des französischen Grenzortes Sarreguemines, 1935. (Landesarchiv Saarland)

 

Der aus Ma­ri­en­dorf bei Aa­chen stam­men­de Stei­ger H. hat­te in Frank­reich und in der So­wjet­uni­on, wo er sich zwi­schen 1930 und 1932 auf­ge­hal­ten hat­te, um­fang­rei­che Le­bens­er­fah­run­gen ge­sam­melt. An der Saar fühl­te er sich nicht wohl: In ei­ner Gast­wirt­schaft ha­be der Stei­ger sich im Au­gust 1935 sehr ab­wer­tend über die Saar­län­der ge­äu­ßert, die, hät­ten sie nicht ge­gen den Sta­tus-Quo ge­stimmt, „heu­te […] zu fres­sen und zu sau­fen“ hät­ten. Die­se „Saar­ra­ben“ und „Idio­ten“ hät­ten sich für den Sta­tus-Quo ent­schei­den müs­sen, denn sie hät­ten nach dem 30.1.1933 mit ih­ren ei­ge­nen Au­gen se­hen kön­nen, wie pre­kär die Si­tua­ti­on im von der Welt­wirt­schafts­kri­se ge­zeich­ne­ten Deutsch­land tat­säch­lich ge­we­sen sei. 1935 be­dau­er­te der von der so­wje­ti­schen Pro­pa­gan­da be­ein­fluss­te H. sei­ne Rück­kehr nach Deutsch­land: In die­sem Land wür­den die Pro­le­ta­ri­er aus­ge­beu­tet, wäh­rend es den Ar­bei­tern in Loth­rin­gen bes­ser ge­he. In der UdSSR ha­be er gut ge­lebt und sei mit sei­ner Frau so­gar in ei­nem Strand­bad ge­we­sen. Im Fal­le H. zeig­te die Staats­an­walt­schaft ei­ne eher un­ge­wöhn­li­che Mil­de: Ei­ne Straf­ver­fol­gung wur­de nicht an­ge­ord­net, da Wil­helm H. sei­ne Äu­ße­run­gen nur im „en­gen Krei­se“ ge­macht ha­be. 

Im Ge­gen­satz zu Wil­helm H. wur­de das KPD-Mit­glied Kurt A. we­ni­ge Wo­chen nach sei­ner Rück­kehr aus der So­wjet­uni­on (En­de 1937, An­fang 1938) „we­gen Vor­be­rei­tung zum Hoch­ver­ra­t“ in ei­nem Rück­wan­der­er­heim in Mett­mann bei Düs­sel­dorf von der Ge­sta­po fest­ge­nom­men. Sein Lei­dens­weg führ­te ihn in die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Bu­chen­wald und Sach­sen­hau­sen, in die be­rüch­tig­ten Ge­fäng­nis­se Ber­lin-Moa­bit und Ha­meln so­wie ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ham­burg-Neu­gam­me. Dort kam er am 1.3.1942 ums Le­ben.  

5. „Heil Moskau“

Die aus­ge­wer­te­ten Jus­tiz­ak­ten aus der zwei­ten Hälf­te der 1930er Jah­re ent­hal­ten In­for­ma­tio­nen über zahl­rei­che ehe­ma­li­ge KPD-Mit­glie­der und kom­mu­nis­tisch ge­sinn­te Men­schen, die dem Kom­mu­nis­mus nicht ab­ge­schwo­ren hat­ten, ih­re Zu­ge­hö­rig­keit zur kom­mu­nis­ti­schen Par­tei stolz her­vor­ho­ben, die kom­mu­nis­ti­schen Pa­ro­len „Rot Fron­t“ und „Heil Mos­kau“ rie­fen und die sta­li­nis­ti­sche So­wjet­uni­on in ih­ren Re­den prie­sen.  Mit Ge­fäng­nis­stra­fen für ih­re „kom­mu­nis­ti­schen Ak­tio­nen“ be­legt, ver­kör­per­ten die­se Op­fer der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur in Au­gen der bol­sche­wis­ti­schen Pro­pa­gan­da den er­bit­ter­ten kom­mu­nis­ti­schen Wi­der­stand ge­gen die fa­schis­ti­sche Herr­schaft. Als Bei­spiel kann das Mit­glied der KPD und der In­ter­na­tio­na­len Ro­ten Hil­fe, Bau­ar­bei­ter Ar­nold M. (Jahr­gang 1893) aus Völk­lin­gen, ge­nannt wer­den. Laut den Er­mitt­lungs­ak­ten ha­be M. die UdSSR im Mai 1935 für ei­nen „Ide­al­staa­t“ ge­hal­ten, in dem die Macht den Ar­bei­tern und Bau­ern ge­hö­re. Die Kin­der hät­ten dort „oh­ne Re­li­gi­on ei­ne bes­se­re Er­zie­hung als in Deutsch­land mit Re­li­gi­on“. Das „Drit­te Reich“ sei hin­ge­gen ein „ka­pi­ta­lis­ti­scher Staa­t“, in dem un­ter an­de­rem an der Saar ei­ne Ver­staat­li­chung der In­dus­trie von­nö­ten sei. M. wur­de im Ju­li 1935 zu vier Wo­chen Ge­fäng­nis ver­ur­teilt. 

Die Tat­sa­che, dass sich der Fall M. in der An­fangs­pha­se der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft im Saar­land er­eig­ne­te, er­klärt das re­la­tiv mil­de Ge­richts­ur­teil ge­gen den Bau­ar­bei­ter. Im Ge­gen­satz zu M. muss­te der Mit­te April 1937 ver­ur­teil­te Ar­bei­ter Gus­tav Adolf Sch. aus Saar­brü­cken (Jahr­gang 1881) acht Mo­na­te hin­ter Git­tern ver­brin­gen. Das Da­mo­kles­schwert der Ge­sta­po schweb­te be­reits seit No­vem­ber 1936 über ihm: Der Ar­bei­ter wur­de von der Ge­sta­po be­ob­ach­tet, weil er sich mit „Im­mer noch Rot Fron­t“ ver­ab­schie­de. Der über­zeug­te An­ti­fa­schist Sch., der sich 1919 der SPD an­ge­schlos­sen hat­te, ließ sich von der an­ti­bol­sche­wis­ti­schen Pro­pa­gan­da der NS­DAP über die dra­ma­ti­sche Si­tua­ti­on in der So­wjet­uni­on nicht be­ir­ren. Nach An­ga­ben der Staats­an­walt­schaft Saar­brü­cken be­merk­te der an­ge­trun­ke­ne Ar­bei­ter in ei­ner Gast­wirt­schaft am 16.1.1937: „In Deutsch­land kön­nen die Kin­der ver­hun­gern, wäh­rend in Russ­land zu fres­sen ge­nug ist. Die fa­na­ti­schen Na­tio­nal­so­zia­lis­ten glau­ben das nicht, weil sie kei­ne an­de­re Zei­tung zu le­sen be­kom­men und da­her nicht sa­gen kön­nen, wie die Ver­hält­nis­se in Russ­land sin­d“. Noch mehr als die „un­zu­läs­si­gen Äu­ße­run­gen“ über den bol­sche­wis­ti­schen Staat em­pör­te die Er­mitt­ler al­ler­dings sei­ne Ein­schät­zung der La­ge im Saar­land: Zwei Jah­re nach der „ge­scho­be­nen“ Ab­stim­mung sei­en die meis­ten Saar­län­der vom NS-Staat ent­täuscht und wür­den heu­te mehr­heit­lich (80 Pro­zent) für den Sta­tus-Quo stim­men. Hät­ten sie dies aber be­reits 1935 ge­tan, gin­ge es ih­nen jetzt be­stimmt bes­ser. Die Ar­bei­ter müss­ten nicht – wie in Si­bi­ri­en (!) – für ei­nen Stun­den­lohn von 60 Pfen­ni­gen schuf­ten. Nach die­sem Vor­fall blieb Sch. le­dig­lich vier Ta­ge auf frei­em Fuß. Am 20. Ja­nu­ar wur­de er fest­ge­nom­men. 

Nach dem 30.1.1933 ver­ur­teil­te die so­wje­ti­sche Pres­se im Geis­te des pro­le­ta­ri­schen In­ter­na­tio­na­lis­mus ent­schlos­sen den Ras­sis­mus und An­ti­se­mi­tis­mus im „Drit­ten Reich“. Sie hob gleich­zei­tig die in der UdSSR ge­währ­leis­te­te Gleich­be­rech­ti­gung der Völ­ker her­vor, be­rich­te­te über die Be­kämp­fung des An­ti­se­mi­tis­mus in der So­wjet­uni­on und ent­rüs­te­te sich über ein­zel­ne an­ti­se­mi­tisch ein­ge­stell­te Kom­mu­nis­ten.  

An der Saar wur­de die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ju­den­ver­fol­gung von ehe­ma­li­gen Kom­mu­nis­ten 1935 un­ter­schied­lich wahr­ge­nom­men: Man­che von ih­nen – wie et­wa der 28-jäh­ri­ge Hüt­ten­ar­bei­ter Theo­dor M. aus Düp­pen­wei­ler – lehn­ten die an­ti­jü­di­sche Po­li­tik ka­te­go­risch ab ; an­de­re – wie zum Bei­spiel der 24-jäh­ri­ge Berg­mann Ri­chard B. aus Mar­pin­gen – mach­ten kei­nen Hehl aus ih­rem glü­hen­den Ju­den­hass und gei­ßel­ten den „Ju­den“ Adolf Hit­ler und die „Ju­den­re­gie­run­gen“ in Ber­lin und in Rom. 

Be­strebt un­ter der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur zu über­le­ben, pass­ten sich meh­re­re ehe­ma­li­ge So­zi­al­de­mo­kra­ten und Kom­mu­nis­ten der neu­en po­li­ti­schen Wirk­lich­keit an, ver­heim­lich­ten ih­re an­ti­fa­schis­ti­schen Über­zeu­gun­gen oder en­ga­gier­ten sich so­gar in der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Be­we­gung. So wech­sel­te bei­spiels­wei­se der Han­dels­ver­tre­ter Mat­thi­as G. aus Keu­ch­in­gen vor der Saarab­stim­mung von der SPD zur KPD und dann zur „Deut­schen Fron­t“. Sei­nen Le­bens­un­ter­halt ver­dien­te G. En­de 1935 mit dem Ver­kauf von Bil­dern des „Füh­rer­s“ und wei­te­rer Re­gie­rungs­mit­glie­der. Sei­ne Lie­be zum Al­ko­hol wur­de ihm bei­na­he zum Ver­häng­nis. Wäh­rend der Er­mitt­lun­gen ge­gen G. wur­de fest­ge­stellt, dass der Han­dels­ver­tre­ter am 5. De­zem­ber in ei­ner Gast­wirt­schaft in Saar­hölz­bach er­folg­los ver­sucht ha­be, die Bil­der zu ver­kau­fen, und sich – ent­täuscht und be­trun­ken – ne­ga­tiv über die Re­gie­rungs­po­li­tik ge­äu­ßert ha­be. Sei­ner Wut und sei­nen an­ge­stau­ten Emo­tio­nen ließ er frei­en Lauf, in­dem er „Heil Mos­kau“ ge­schrien, Orts­funk­tio­nä­re der NS­DAP be­lei­digt und die Ein­woh­ner der Ge­mein­de Saar­hölz­bach zu Kom­mu­nis­ten er­klärt ha­be. Für die Staats­an­walt­schaft war Ma­thi­as G. eher ein ver­zwei­fel­ter Op­por­tu­nist und Al­ko­ho­li­ker und kein ge­fähr­li­cher Kom­mu­nist und Un­ru­he­stif­ter. In sei­nem Fall sah man von der Straf­ver­fol­gung ab. 

Propagandaplakat für die Rückführung des Saargebietes ins Deutsche Reich im Zusammenhang mit der Volksabstimmung im Saargebiet am 13.01.1935. (Heimatmuseum Quierschied, Inv.-Nr.: 2007HMQ505)

 

6. „... da sind’s die Juden und hier sind’s die anderen Henkersknechte“

Vie­le Saar­län­der kon­stru­ier­ten ih­re So­wjet­uni­on-Bil­der in der zwei­ten Hälf­te der 1930er Jah­re un­ter dem ent­schei­den­den Ein­fluss der an­ti­so­wje­ti­schen na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Pro­pa­gan­da. Glü­hen­de An­ti­fa­schis­ten und ver­folg­te Re­gime­geg­ner gin­gen mit die­ser Pro­pa­gan­da se­lek­tiv um: Die UdSSR er­schien ih­nen al­lein als Erz­feind des ver­hass­ten na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Re­gimes sym­pa­thisch. Be­mer­kens­wert sind in die­sem Zu­sam­men­hang die Ge­schich­ten des Saar­brü­cker Ob­dach­lo­sen Jo­hann Ju. und des Bon­ner Schacht­meis­ters Franz P.

Die Er­mitt­lungs­ak­ten ge­gen den vor­be­straf­ten Ju. zei­gen, dass der 33-Jäh­ri­ge 1935 vom Zu­sam­men­bruch des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus träum­te und von der So­wjet­uni­on die Er­lö­sung er­war­te­te: Auf die Tür sei­ner Ge­fäng­nis­zel­le in Saar­brü­cken ha­be er „So­wjet­ster­ne“ ge­malt. Ju. sei über­zeugt ge­we­sen, dass die Be­din­gun­gen in ei­nem so­wje­ti­schen Ge­fäng­nis deut­lich bes­ser als in ei­nem deut­schen Straf­an­stalt wä­ren, und ha­be sich zu­dem über „Agen­ten“ ge­freut, wel­che die So­wjet­uni­on in die SS und SA ein­ge­schleust ha­be, „um die­se For­ma­tio­nen po­li­tisch zu un­ter­höh­len“. En­de Ok­to­ber 1935 wur­de er zu ei­ner Ge­fäng­nis­stra­fe von ins­ge­samt zehn Mo­na­ten ver­ur­teilt.  Mit dem Le­ben hin­ter Git­tern im Saar­land war der Ob­dach­lo­se Ju. deut­lich bes­ser ver­traut als mit der tat­säch­li­chen Si­tua­ti­on in der So­wjet­uni­on.

Für den nicht vor­be­straf­ten Schacht­meis­ters Franz P. (Jahr­gang 1872) brach hin­ge­gen am 13.10.1936 ei­ne Welt zu­sam­men. P., an­ge­stellt bei ei­ner Zwei­brü­cker Fir­ma, die den Bahn­bau zwi­schen Ott­wei­ler und Ku­sel aus­führ­te, wur­de an die­sem Tag fest­ge­nom­men und im März 1937 zu sechs Mo­na­ten Ge­fäng­nis ver­ur­teilt. Ihm wur­de vor­ge­wor­fen, die La­ge der Ar­bei­ter in der So­wjet­uni­on (Mit­be­stim­mungs­recht, staat­li­che Un­ter­stüt­zung) vor der ihm un­ter­stell­ten Ar­bei­ter­ko­lon­ne ge­prie­sen und die Be­rich­te über den Ter­ror in der sta­li­nis­ti­schen UdSSR be­strit­ten zu ha­ben. 

Bei der straf­recht­li­chen Be­ur­tei­lung des Fal­les P. durf­te auch die in den Er­mitt­lungs­ak­ten her­vor­ge­ho­be­ne Zu­ge­hö­rig­keit des An­ge­klag­ten zur im „Drit­ten Reich“ ver­folg­ten Be­we­gung der „Bi­bel­for­scher“ ei­ne we­sent­li­che Rol­le ge­spielt ha­ben. Als „eif­ri­ger Bi­bel­for­scher“ hät­te P. al­lein auf­grund sei­ner re­li­giö­sen Über­zeu­gun­gen mit der mi­li­tant athe­is­ti­schen So­wjet­uni­on kaum sym­pa­thi­sie­ren kön­nen. Über die­se Ent­wick­lun­gen in der UdSSR wuss­te er ent­we­der nichts oder blen­de­te die­se we­gen sei­ner tie­fen Ab­leh­nung des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus vor­sätz­lich aus.

Ähn­lich wie Franz P. konn­te ein wei­te­rer Bi­bel­for­scher, Franz. F. aus Kai­sers­lau­tern, nicht mit der Nach­sicht der Jus­tiz rech­nen. Der 1891 ge­bo­re­ne F. ver­trieb Kru­zi­fi­xe und wei­te­re re­li­giö­se Ge­gen­stän­de und kam auf die­se Wei­se im Au­gust 1936 nach Rie­gels­berg. In ei­ner Gast­wirt­schaft nahm er an ei­nem Ge­spräch über die Si­tua­ti­on in Spa­ni­en teil und schloss da­bei nicht aus, dass Deutsch­land ei­ne düs­te­re Epo­che bol­sche­wis­ti­scher Herr­schaft er­war­te. Im Ge­gen­satz zu P. war sich F. der an­ti­re­li­giö­sen Po­li­tik in der So­wjet­uni­on und der an­ti­re­li­giö­sen Aus­rich­tung spa­ni­scher Re­pu­bli­ka­ner be­wusst. Im Lau­fe der Er­mitt­lun­gen wies Franz F. be­harr­lich auf sei­ne an­ti­bol­sche­wis­ti­sche Ein­stel­lung hin. Die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Jus­tiz ließ sich aber da­von nicht be­ein­dru­cken. F. wur­de mit acht Mo­na­ten Ge­fäng­nis be­straft. 

Die glei­che Stra­fe muss­te der Elek­tri­ker Theo­dor S. aus En­gel­fan­g­en An­fang März 1936 über sich er­ge­hen las­sen. Vor der Saarab­stim­mung pro­fi­lier­te sich S. (Jahr­gang 1896) als Geg­ner der „Rück­glie­de­run­g“. Im Ja­nu­ar 1935 ge­hör­te S. zu den Aus­wan­de­rern aus dem Saar­ge­biet, über die die so­wje­ti­sche Pres­se be­rich­te­te. Sechs Ta­ge nach der Ab­stim­mung war er nach Frank­reich emi­griert, kehr­te je­doch im Mai 1935 zu­rück – ei­ne Ent­schei­dung, die er bald be­reu­te. Die Ad­vents­zeit ver­brach­te der Elek­tri­ker in Un­ter­su­chungs­haft. Laut Er­mitt­lungs­ak­ten ha­be er am 17.10.1935 in ei­ner Gast­wirt­schaft die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Wirt­schafts­po­li­tik scharf kri­ti­siert und für die Ver­schlech­te­rung der La­ge der Ar­bei­ter ver­ant­wort­lich ge­macht. Au­ßer­dem ha­be S. sei­ne Über­zeu­gung ge­äu­ßert, dass die Fort­set­zung die­ser Po­li­tik das En­de des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus be­schleu­ni­gen und den Sieg des Bol­sche­wis­mus in Deutsch­land be­güns­ti­gen wer­de. Die Si­tua­ti­on in Deutsch­land und in Eu­ro­pa wer­de da­durch aber nicht bes­ser. Die Tat­sa­che, dass S. nicht be­trun­ken war und die Ent­wick­lun­gen in Eu­ro­pa nüch­tern ana­ly­sier­te, ver­schlech­ter­te sei­ne La­ge zu­sätz­lich. 

So­wohl der „Bi­bel­for­scher“ Franz F. als auch der „mar­xis­ti­sche Se­pa­ra­tis­t“ Theo­dor S. wa­ren über­zeug­te Geg­ner des Bol­sche­wis­mus, wel­che die Si­tua­ti­on in Deutsch­land und die in­ter­na­tio­na­le Po­li­tik re­flek­tier­ten, zu ei­nem aus na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Sicht un­zu­läs­si­gen Er­geb­nis ka­men und da­für be­straft wur­den. Im Fall der 1902 ge­bo­re­nen Bü­ro­an­ge­stell­ten Vik­to­ria K. wur­de hin­ge­gen im Mai 1936 kei­ne Straf­ver­fol­gung an­ge­ord­net und im Fall des Hüt­ten­ar­bei­ters Franz L. (Jahr­gang 1886) be­ließ es die Jus­tiz im Mai 1937 bei ei­ner „ein­dring­li­chen Ver­war­nun­g“. Die „Aus­fäl­le“ die­ser Saar­brü­cker schie­nen den Er­mitt­lern of­fen­sicht­lich nicht so ge­fähr­lich zu sein: K. ha­be der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Pro­pa­gan­da miss­traut und die An­sicht ver­tre­ten, die La­ge in Deutsch­land sei noch schlech­ter als in der UdSSR.  L. ha­be kei­nen Un­ter­schied zwi­schen der bol­sche­wis­ti­schen und na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Land­wirt­schafts­po­li­tik ge­se­hen: Die Bau­ern hät­ten in bei­den Län­dern al­les ab­ge­ben müs­sen und wür­den schlecht be­zahlt. In der UdSSR sei die La­ge so­gar ge­ord­ne­ter als in Deutsch­land. Die Be­rich­te über das Elend der Ju­gend oder die Hun­gers­not in der So­wjet­uni­on sei­en er­fun­den. 

Die Bei­spie­le K. und L. spie­geln das Miss­trau­en ein­zel­ner von ih­rer ei­ge­nen Si­tua­ti­on ent­täusch­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ge­gen­über dem na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Staat und sei­ner Pro­pa­gan­da wi­der. Ober­fläch­lich über die Ent­wick­lung der UdSSR in­for­miert und sich für die­ses Land ver­mut­lich nicht be­son­ders in­ter­es­sie­rend, äu­ßer­ten sie ih­ren Un­mut über die ver­zer­ren­de na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­pa­gan­da, wel­che die deut­sche Be­völ­ke­rung durch die Hor­ror­be­rich­te über die So­wjet­uni­on von den Miss­stän­den im „Drit­ten Reich“ ab­zu­len­ken ver­such­te. Der Ver­zicht auf die straf­recht­li­che Ver­fol­gung von Vik­to­ria K. und Franz L. kann auf das Zu­sam­men­spiel von meh­re­ren für die­se Saar­brü­cker güns­ti­gen Fak­to­ren zu­rück­ge­führt wer­den: Die Ver­ur­tei­lung der weib­li­chen Bü­ro­an­ge­stell­ten L., die nicht viel von in­ter­na­tio­na­len Po­li­tik ver­stand und ih­re Be­mer­kun­gen eher un­re­flek­tiert und emo­tio­nell ge­macht ha­be, schien un­zweck­mä­ßig zu sein. L. wie­der­um ha­be kein Ge­spräch über die So­wjet­uni­on ein­ge­lei­tet. Er sei in das Ge­spräch ver­wi­ckelt und zu­dem erst meh­re­re Mo­na­te nach dem Vor­fall de­nun­ziert wor­den. Die gut in­for­mier­ten „Bi­bel­for­scher“ F. und Elek­tri­ker S. mit ih­ren Über­le­gun­gen über das En­de des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und die bol­sche­wis­ti­sche Herr­schaft in Eu­ro­pa, eben­so der 34-jäh­ri­ge Hilfs­ar­bei­ter Jo­hann P. aus Nie­der­würz­bach, wa­ren für die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Jus­tiz deut­lich ge­fähr­li­che­re „Tä­ter“. P. er­schien im Au­gust 1936 in ei­ner Gast­stät­te, be­merk­te „leicht an­ge­trun­ken“, dass es in Spa­ni­en, In­di­en und Russ­land – über­all auf der Welt – „viel bes­ser“ als in Deutsch­land sei, und be­lei­dig­te zu­dem die Re­gie­rungs­mit­glie­der. Die­ser Um­stand ver­schlech­ter­te sei­ne Si­tua­ti­on zu­sätz­lich. P. wur­de zu sie­ben Mo­na­ten Ge­fäng­nis ver­ur­teilt. 

Am 19.3.1935 ver­kün­de­te das Son­der­ge­richt in Saar­brü­cken ein be­mer­kens­wer­tes Ur­teil: Der An­ge­klag­te Pe­ter H. wur­de des Ver­ge­hens ge­gen Pa­ra­graph 2 des „Heim­tü­cke­ge­set­zes“ schul­dig ge­spro­chen und „an­stel­le ei­ner an sich ver­wirk­ten Ge­fäng­nis­stra­fe von sechs Wo­chen zu 300 Reichs­mark Geld­stra­fe“ ver­ur­teilt. Mit die­sem Ur­teils­spruch wur­de das Ver­fah­ren ge­gen den Ge­schäfts­füh­rer ei­ner in Saar­brü­cken be­kann­ten Be­klei­dungs­fir­ma ab­ge­schlos­sen, der er­folg­reich sei­ne Kon­tak­te und gu­ten Be­zie­hun­gen ein­ge­setzt hat­te, um ei­ner Haft­stra­fe zu ent­ge­hen.

Die Straf­sa­che ge­gen H. ver­dient an­ge­sichts der Per­son und des Welt­bil­des des An­ge­klag­ten be­son­de­re Auf­merk­sam­keit: Der 1886 ge­bo­re­ne Pe­ter H. ge­hör­te vor der Saarab­stim­mung zum Wehr­ver­band „Stahl­hel­m“ und zeig­te of­fen sei­ne völ­ki­sche und an­ti­se­mi­ti­sche Ge­sin­nung. H. hat­te das na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Feind­bild des „jü­di­schen Bol­sche­wis­mus“ ver­in­ner­licht und stell­te An­fang Sep­tem­ber 1935 den „jü­di­schen Cha­rak­ter“ der bol­sche­wis­ti­schen Dik­ta­tur in der UdSSR nicht in Fra­ge. Die Gleich­schal­tung des Stahl­helms, Mord­ak­tio­nen im Zu­sam­men­hang mit dem so­ge­nann­ten Röhm-Putsch und wei­te­re na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­bre­chen er­schreck­ten H. je­doch zu­tiefst und be­weg­ten ihn zu ei­ner Be­mer­kung über die So­wjet­uni­on und Deutsch­land: „[...] was ist das schon an­ders; da sind’s die Ju­den und hier sind’s die an­de­ren Hen­ker­s­knech­te. Wie­viel Mor­de sind schon vor­ge­kom­men nach der Macht­er­grei­fung und wie­viel Leu­te wer­den heu­te noch ge­quält in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern“. 

Postkarte mit dem Ergebnis der Volksabstimmung über den Wiederanschluss des Saarlandes an das Deutsche Reich; auf der Rückseite heißt es "Versailles trennte die Saar gewaltsam 15 Jahre vom Reich. Einmütig und geschlossen fordert die Bevölkerung durch die Volksabstimmung vom 13. Januar 1935 ihr Recht - vorbehaltlose Rückkehr zum Reich!". (Heimatmuseum Quierschied, Inv.-Nr.: 2007HMQ497)

 

7. Deutschland und die Sowjetunion vor und nach dem Hitler-Stalin-Pakt: Einblicke aus Sulzbach

Am 23.8.1939 un­ter­zeich­ne­ten die So­wjet­uni­on und Na­zi­deutsch­land in Mos­kau ei­nen Nicht­an­griffs­pakt und teil­ten im ge­hei­men Zu­satz­pro­to­koll die Ein­fluss­zo­nen in Ost­eu­ro­pa auf. Mit dem Hit­ler-Sta­lin-Pakt be­gann ei­ne kurz­fris­ti­ge Epo­che der Schein­freund­schaft zwi­schen der UdSSR und Deutsch­land, die nicht we­ni­ge kom­mu­nis­tisch ge­sinn­te Reichs­bür­ger in ih­rer Über­zeu­gung be­stärk­te, Sta­lin wer­de die neue Si­tua­ti­on nut­zen, um die bol­sche­wis­ti­sche Herr­schaft in Deutsch­land bald zu eta­blie­ren. 

Die sen­sa­tio­nel­len Nach­rich­ten über die ra­san­te Ver­bes­se­rung der deutsch-so­wje­ti­schen Be­zie­hun­gen er­reich­ten den 32-jäh­ri­gen Kauf­mann Au­gust Sch. im KZ Sach­sen­hau­sen. Der aus der saar­län­di­schen Ge­mein­de Sulz­bach stam­men­de K. wur­de noch An­fang Mai 1939 von der Ge­sta­po ver­haf­tet und im No­vem­ber des Jah­res zwecks „Um­schu­lun­g“ nach Sach­sen­hau­sen über­führt. En­de April 1939 miss­bil­lig­te er un­vor­sich­tig in der Bahn­hofs­wirt­schaft in Tho­ley den „dum­men“ an­ti­so­wje­ti­schen Kurs der Reichs­re­gie­rung: Of­fen­sicht­lich auf die er­folg­rei­che Russ­land-Po­li­tik Ot­to von Bis­marcks und auf die en­gen deutsch-so­wje­ti­schen Kon­tak­te in der Wei­ma­rer Zeit an­spie­lend, hob K. her­vor, dass Deutsch­land sei­ne au­ßen­po­li­ti­schen Zie­le in ei­nem Bünd­nis mit der UdSSR bes­ser er­rei­chen kön­ne.

Der Aus­bruch des Zwei­ten Welt­kriegs, die Auf­lö­sung des pol­ni­schen Staa­tes durch Deutsch­land und die So­wjet­uni­on, die wohl­wol­len­de so­wje­ti­sche Neu­tra­li­tät im deut­schen Krieg im Wes­ten und auch die in­ten­si­ve deutsch-so­wje­ti­sche Zu­sam­men­ar­beit nach dem Hit­ler-Sta­lin-Pakt be­stä­tig­ten die Ana­ly­se des Kauf­manns K. aus Sulz­bach. Sei­ne Frei­las­sung kam je­doch trotz der Mos­kau­er Au­gust­ver­ein­ba­run­gen nicht in Fra­ge. Erst 1942 durf­te er das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Sach­sen­hau­sen ver­las­sen und wur­de in die Wehr­macht ein­be­ru­fen.  Als Wehr­machts­sol­dat sah K., wie sich die Pro­gno­se des saar­län­di­schen Kom­mu­nis­ten Paul R. (Jahr­gang 1905) aus sei­ner Hei­mat­ge­mein­de Sulz­bach be­wahr­hei­te­te: In ei­nem Lo­kal äu­ßer­te R. im Au­gust 1941 – mehr als ein Jahr vor der ent­schei­den­den Schlacht von Sta­lin­grad – sei­ne Ver­mu­tung, dass die deut­sche Ar­mee ih­ren Zu­sam­men­bruch an der Wol­ga er­le­ben wer­de. We­gen „Vor­be­rei­tung zum Hoch­ver­ra­t“ im Ok­to­ber 1941 zu acht Jah­ren Zucht­haus ver­ur­teilt, starb er kur­ze Zeit spä­ter im Saar­brü­cker Ge­fäng­nis Ler­ches­flur.   

8. Fazit

Die Volks­ab­stim­mung am 13.1.1935 mar­kier­te ei­ne tie­fe Zä­sur in der saar­län­di­schen Ge­schich­te. Die Saarab­stim­mung wur­de im Aus­land breit re­zi­piert und als ei­nes der wich­tigs­ten Er­eig­nis­se des Ja­nu­ar 1935 wahr­ge­nom­men. In der UdSSR wur­de die Ab­stim­mung an der Saar als Far­ce dar­ge­stellt und ih­re Fol­gen wur­den aus­führ­lich ana­ly­siert. Die bol­sche­wis­ti­sche Pro­pa­gan­da be­trach­te­te den Saar-Kampf als Teil des von der KPD an­ge­führ­ten an­ti­fa­schis­ti­schen Kamp­fes in Deutsch­land.

Nach der Ver­ei­ni­gung des Saar­ge­bie­tes mit dem „Drit­ten Reich“ wur­den ver­schie­de­ne So­wjet­uni­on-Bil­der an der Saar ver­brei­tet. Die­se durch ei­ge­ne Er­fah­run­gen mit dem bol­sche­wis­ti­schen Staat be­zie­hungs­wei­se mit rus­si­schen Emi­gran­ten und Men­schen, die die­ses Land be­such­ten, durch die Be­richt­er­stat­tung über die UdSSR vor und nach 1935 so­wie durch die kom­mu­nis­ti­sche und na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­pa­gan­da ge­präg­ten Vor­stel­lun­gen spie­geln so­wohl die Wahr­neh­mung der So­wjet­uni­on als auch des „Drit­ten Rei­ches“, sei­ner Pro­pa­gan­da, sei­ner In­nen- und Au­ßen­po­li­tik wi­der. So wa­ren ein­zel­ne – vor al­lem kom­mu­nis­tisch ge­sinn­te – Bür­ge­rin­nen und Bür­ger von der So­wjet­uni­on und von der so­zia­lis­ti­schen Um­ge­stal­tung in die­sem Land fas­zi­niert und sa­hen die UdSSR als Vor­bild für Deutsch­land. Man­che Ein­woh­ner des Saar­lan­des wünsch­ten sich vor dem Hit­ler-Sta­lin-Pakt die Nor­ma­li­sie­rung der zer­rüt­te­ten deutsch-so­wje­ti­schen Be­zie­hun­gen. An­de­re Saar­län­der glaub­ten nicht an die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche an­ti­so­wje­ti­sche Hetz­pro­pa­gan­da, wel­che die UdSSR ab­sicht­lich dif­fa­mier­te. Man­che Re­gime­geg­ner gin­gen da­von aus, dass Mos­kau die Hit­ler-Dik­ta­tur be­sei­ti­gen wer­de, und neig­ten un­ter die­sen Um­stän­den zur Ver­klä­rung des bol­sche­wis­ti­schen Staa­tes. Vom Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ent­täusch­te Geg­ner des Kom­mu­nis­mus sa­hen kei­nen Un­ter­schied zwi­schen der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen und der bol­sche­wis­ti­schen Ge­walt­herr­schaft.

Die an der Saar ver­brei­te­ten Vor­stel­lun­gen über die So­wjet­uni­on las­sen sich an­satz­wei­se an­hand über­lie­fer­ter Jus­tiz­ak­ten re­kon­stru­ie­ren. Die­se Jus­tiz­ak­ten sind ei­ne wich­ti­ge Quel­le für die Er­for­schung der Stim­mung der Be­völ­ke­rung, von Selbst-, Fremd- und Feind­bil­dern so­wie der zwi­schen­mensch­li­chen Be­zie­hun­gen im Saar­land in der zwei­ten Hälf­te der 1930er Jah­re.

Literatur

Bies, Luit­win, Klas­sen­kampf an der Saar 1919-1945, Frank­furt am Main 1978.
von zur Müh­len, Pa­trik, „Schlagt Hit­ler an der Saar!“ Ab­stim­mungs­kampf, Emi­gra­ti­on und Wi­der­stand im Saar­ge­biet 1933-1935, Bonn 1979.
Stif­tung De­mo­kra­tie Saar­land (Hg.), 13. Ja­nu­ar 1935. Der Kampf um die Saar – 70 Jah­re da­nach. Do­ku­men­ta­ti­on ei­ner Ver­an­stal­tungs­rei­he, Saar­brü­cken 2005.

Aus dem Saargebiet ausgewiesene Bewohner werden in Sulzbach abgeführt, 1919. (Landesarchiv Saarland)

 
Zitationshinweis

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Friedman, Alexander, „Stalin wird einmal die Welt regieren“ - Sowjetunion-Bilder im Saarland nach der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/stalin-wird-einmal-die-welt-regieren---sowjetunion-bilder-im-saarland-nach-der-volksabstimmung-vom-13.-januar-1935/DE-2086/lido/6037915cb4e9f9.40705290 (abgerufen am 18.04.2024)