Weibliche Salonkultur im 19. Jahrhundert und die Salons der Sibylle Mertens-Schaaffhausen
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1. Der Salon: eine Welt für sich
Der Salon gehört zu den interessanten Phänomenen der europäischen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt eines Salons steht eine Frau - sie gestaltet die Struktur des Zusammenseins, die Zeit und die Regelmäßigkeit der Treffen, die Gäste, die Form der Geselligkeit, die Grenze der Öffentlichkeit. In dieser Spannung zwischen privat und öffentlich ist der Salon auch ein Freiraum, in dem diskutiert und ausgetauscht wird. Maßgeblich geprägt von der Gastgeberin, spiegelt er deren Leidenschaft und Interessen wider und kann in vielseitiger Hinsicht auch nach außen wirken.
Der Salon ist also ein zentrales Kapitel weiblicher Kultur in Europa und bezeugt eine neue Rolle für Frauen in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Als sie noch von institutionellen Leitungspositionen und universitären Laufbahnen ausgeschlossen waren, konnten finanziell privilegierte Frauen durch ihre gesellschaftlichen Räume ihre Stimme deutlicher und lauter erheben und damit eine Wirkung in der Außenwelt erzielen. So war es auch mit den Salons der Rheinländerin Sibylle Mertens-Schaaffhausen.
2. Eine außergewöhnliche Frau: Sibylle Mertens-Schaaffhausen
Ihrem Biographen, dem Literaturwissenschaftler Heinrich Hubert Houben, ist es zu verdanken, dass die Erinnerung an diese passionierte Sammlerin, Archäologin und Mäzenin wach geblieben ist, indem er viele Quellen über ihr Leben und Wirken aus privaten und öffentlichen Archiven ans Licht gebracht hat. Um das internationale Flair ihrer Salons zu schildern, sind daneben Veröffentlichungen aus ihren Stammbüchern (Ottendorf-Simrock) und ihrer Korrespondenz (Clasen/Ottendorff-Simrock) von Bedeutung.
Die Stammbücher oder Freundschaftsbücher, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geselligkeit begleiteten, sind eine ganz spezielle Quellengattung. Die Einträge sind jeweils eine Hommage an die Gastgeberin: man verewigte sich in dem Buch durch ein Motto, eine Zeichnung, ein Gedicht. Stamm- oder Freundschaftsbücher dienten außerdem der asynchronen Kommunikation mit anderen Gästen, da die Freundschaftsbücher von Hand zu Hand gingen und durchgeblättert wurden. Sie bildeten so das Profil einer Gemeinschaft ab.
Sibylle Mertens-Schaaffhausen kam am 19.1.1797 in Köln zur Welt. Ihre Mutter, Maria Anna Schaaffhausen geborene Giesen (1760-1797), starb kurz nach ihrer Geburt. Sibylle wuchs hauptsächlich mit dem kunstgesinnten Vater auf, dem Bankier, Handelsherrn und Kölner Ratsherrn Abraham Schaaffhausen (1756-1824), der bereits eine bedeutende Kunstsammlung angelegt hatte. Darin waren beispielsweise die Tafel der Maria Magdalena von Lucas Cranach dem Älteren (1472-1553), die sich heute im Wallraf-Richartz-Museum-Fondation Corboud befindet oder die der Jeanne d’Arc aus der Werkstatt von Peter Paul Rubens (heute Raleigh, North Carolina Museum of Art) zu sehen. Die mit dem Vater befreundeten Mitglieder der Olympischen Gesellschaft zu Köln, einer Versammlung von Gelehrten und Kunstkennern, die auch durch ihre patriotische Gesinnung verbunden waren, trugen zu ihrer Erziehung bei, insbesondere Ferdinand Franz Wallraf, Matthias Joseph de Noël (1782-1849), aber auch der Kanonikus Franz Pick (1750-1819). Sie führten sie in das Studium der Antike ein und waren oft Gäste ihrer kultivierten Soiréen.
1816 arrangierte Abraham Schaaffhausen die Ehe zwischen seiner ersten und eigenwilligen Tochter Sibylle mit seinem tüchtigen und verlässlichen Angestellten Joseph Ludwig (Louis) Mertens (1782-1842). Die Familie wuchs schnell, sechs Kinder kamen auf die Welt, aber ein friedliches Zusammenleben des Ehepaares war, auch wegen differenter Interessen, kaum möglich, was oft zu einer räumlichen Trennung der beiden führte.
3. Die Salons in Köln, Plittersdorf und Bonn
Über den ersten Salon Sibylles in der Trankgasse 21 in Köln ist wenig bekannt. Er wurde hauptsächlich im Winter geführt, da Sibylle mit den Kindern in den wärmeren Jahreszeiten an den Rhein bei Bonn übersiedelte. Der Salon bot bereits eine bunte Mischung aus Gesprächspartnern des Ehemannes, der das Bankgeschäft des Schwiegervaters übernommen hatte, Intellektuellen und Gelehrten. In diesem ersten Salon traf Sibylle zum ersten Mal Henriette Paalzow (1792-847), Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) und Adele Schopenhauer – Frauen, die wie sie selbst auf dem Weg einer individuellen und intellektuellen Emanzipation waren und die ihre engsten Freundinnen wurden.
Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1824 bezog Sibylle fast das ganze Jahr über den von väterlicher Seite geerbten Auerhof in Plittersdorf (heute Stadt Bonn), der dank der Erwerbungen von Louis Mertens zu einem Rittergut mit Ländereien und einem prächtigen Landschaftspark anwuchs (heute Villa Carstanjen).
Hier konnte Sibylle ihren Leidenschaften freien Lauf lassen. Sie arrangierte den Park mit seltenen, aus allen Ländern kommenden Pflanzen und Blumen, die eine exotische Pracht an den Rhein brachten. Sie herrschte über ihre Villa rustica, zu der auch Weinberge in Niederdollendorf und am Petersberg gehörten. In seinem Buch „Wanderung aus und um Godesberg" (1844) beschrieb Ernst Moritz Arndt, Professor für Geschichte und Rektor der Universität Bonn, der oft Gast bei Sibylle war, dieses fast mythische Anwesen[1]: „Dieser stattliche Ort [Plittersdorf] hat […] einen schönen Rittersitz mit einem im großen Stil angelegten Park, ein Besitz der Frau Schaafhausen Mertens in Bonn. Möge diese wackre durch Geist und Herz durch Liebe für Kunst und Wissenschaft und durch stille christliche Nächstenliebe ausgezeichnete Frau diesen ihren lieblichen und stillen Sitz mit ihren Kindern noch manche schöne Jahre bewohnen! […] Wer den Silberblick Gottes aus der Natur versteht, der setze sich in den Park der Frau Mertens oder vor dem Gasthause unter der Linde hin und und lasse die Herrlichkeit und Schönheit dieser irdischen Welt ruhig auf sich spielen. Ich wüßte dieser Stelle am ganzen Rhein nichts zu vergleichen.“
Hier versammelte Sibylle ihre erste archäologische Sammlung, die schon früh berühmt war, ebenso wie ihre große, auf Antike, Glyptik und Numismatik spezialisierte Bibliothek. Eine ironische Beschreibung der Freundin Henriette Paalzow bezeugt diese Besonderheit am Rhein[2]: ich betrete Deine heidnische Schwelle und im Hausflur steht Amor und Psyche […] an der Treppe verfolgt Silen eine Nymphe, im Vorsaal glaube ich Daphne schreien zu hören, so unanständig zudringlich nah ist der abscheuliche Apoll gekommen […] alles überbaut mit Seneca, Plato […].
Aber der Kult der Klassik war nicht nur in der Raumeinrichtung zu erleben. Sibylle bot ihren Gästen die Gelegenheit, die Antike auch in Form von Spielen und Sport in freier Natur neu zu erleben. So wurde zum Beispiel Diskuswurf im Park geübt und am Ende der heißen Sommerabende das in der griechischen Antike beliebte Kottabosspiel nachgeahmt.
Neben diesem Paradies hatte die „Rheingräfin“ Sibylle - wie der Maler Wilhelm Wach (1787-1845) sie scherzhaft nannte - ab 1832 einen anderen wichtigen Ort für ihre Soiréen: das neu errichtete Haus in der Wilhelmstraße Nr. 33 in Bonn, in dessen Oberstock ihre Sammlungen aufbewahrt wurden. Beide Salons waren jahrelang der Mittelpunkt einer geistvollen Gesellschaft. Hier tauschten sich aus Matthias Joseph de Noël, Ernst Moritz Arndt, der Literatur- und Sprachwissenschaftler August Wilhelm von Schlegel, der Kunsthistoriker Eduard Joseph d’Alton (1772-1840), der klassische Philologe und Archäologe Friedrich Gottlieb Welker, der norwegische Indologe Christian Lassen (1800-1876), der Botaniker Nees von Esenbeck, der Mineraloge Jacob Nöggerath (1788-1877), der Geologe Ernst August von Beust (1783-1859), der Mathematiker und Astronom Karl Dietrich von Münchow (1788-1836), der Jurist und Übersetzer Eduard Böcking (1802-1870), der Altertumsforscher und Kurator der Universität Bonn, Moritz August von Bethmann-Hollweg, der Komponist und Orchesterleiter Ferdinand Ries mit seinem Bruder Pieter Hubert Ries (1802-1886), der Dichter und Musikpassionierte Karl Simrock, der Schriftsteller Philipp Joseph von Rehfues (1779-1843), der Theologe Johann Martin August Scholz (1794-1852), der Philosoph Christian August Brandis (1790-1876), die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer (1766-1838) und ihre Tochter Adele, die Sibylle Leben lange begleiten sollte.
Zu den Stammgästen, die mal in Bonn, mal in Plittersdorf eingeladen wurden, muss man noch die große Zahl der durchreisenden Gäste rechnen, die oft lange die Gunst des Salons Mertens-Schaaffhausen genossen, so zum Beispiel der Maler Wilhelm von Schadow (1788-1862), der Bildhauer Christian Daniel Rauch (1777-1857), der Maler Wilhelm Wach mit seiner Schwester Henriette Paalzow, die im Sommer 1833 fünf Wochen lang bei Sibylle blieben, der Professor aus Jena Oskar Bernhard Ludwig Wolff (1799-1851) mit dem Schriftsteller Ludwig Bechstein (1801-1860), der italienische Schriftsteller Giovanni Berchet (1783-1851), der Sibylle wichtige Empfehlungsbriefe für ihren genuesischen Aufenthalt im Jahr 1835 gab, der Professor L.J.F. Janssen (1806-1869), Leiter des Altertumsmuseums in Leiden, der österreichische Numismatiker Anton Steinbüchel (1793-1883), Direktor des Münz- und Antiquitätenkabinetts in Wien, und die englische Schriftstellerin Anne Jameson (1795-1860), die mit Empfehlungen der befreundeten Ottilie von Goethe (1796-1872) an den Rhein kam. Zu den wichtigsten Gästen des Salons zählt auch Annette von Droste-Hülshoff, die zwischen Sommer 1829 und Herbst 1831 in Bonn bei ihrem Vetter Clemens August von Droste-Hülshoff (1792-1832) wohnte und von Oktober 1830 bis Frühjahr 1831 auf dem Auerhof die schwer erkrankte Sibylle pflegte. In dem Kreis um Mertens-Schaffhausen, besonders in den Schopenhauers und in d’Alton, fand die Dichterin wichtige Zuhörer und Leser für ihre ersten literarischen Versuche.
Das Haus in der Wilhelmstraße 33 wurde außerdem die erste Adresse Bonns für musikalische Abende: Sibylle war eine virtuose Klavierspielerin, die 1819 in Köln sogar die berühmte Koloratursopranistin Angelica Catalani (1780-1849) begleiten durfte. Sie komponierte und improvisierte gerne, auch ihre Töchter Marie und Therese waren in diesem Sinn begabt. Der Salon wurde der Treffpunkt für Musikliebhaber am Rhein und die Gastgeberin lud wichtige Stimmen zu sich, wie die Sängerinnen Anna Milder-Hauptmann (1785-1838) und Margarete Stockhausen (1803-1877), die im Jahr 1833 bei ihr auftraten, oder die Sopranistin Auguste von Faßmann (1808-1872), die im Sommer 1839 bei ihr residierte. Besonders wichtig in dieser Hinsicht war die im Jahr 1827 begonnene, tiefe Freundschaft mit Ferdinand Ries, von dem Sibylle auch autographische Partituren besaß (zum Beispiel Op. 74, heute im Beethoven Haus in Bonn). Als Ries-Schüler war der Privatdozent für alte Sprachen Friedrich Heimsoeth (1814-1877) herzlich willkommen in ihrem Salon. Er leitete den von ihr gegründeten „Verein für Alte Musik“ und wurde bald ihr Schwiegersohn. Friedrich Heimsoeth und Sibylle organisierten im Laufe der Jahre mehrere Musikveranstaltungen, halfen bei den Aufführungen der Niederrheinischen Musikfeste, förderten das erste Klavierkonzert in Frankfurt des Wunderkindes Anton Rubinstein (1829-1894), sowie die Errichtung des Beethoven Denkmals in Bonn (1845).
4. Neue Erfahrungen: Genua und Rom
Der Tod von Louis Mertens 1842 wurde zu einem Wendepunkt in Sibylles Leben. Sie beschloss, Bonn zu verlassen und fuhr im Herbst 1843 nach Italien Richtung Rom - das ersehnte Ziel ihres ganzen Lebens.
Auf dem Weg nach Süden blieb sie zuerst ein Jahr lang in Genua, wo sie schon zwischen Sommer 1835 und Sommer 1836 gelebt hatte und einen wichtigen Teil der lokalen Eliten kennengelernt hatte. Auch in der ligurischen Stadt führte Sibylle einen Salon in einer gemieteten Wohnung in der Nähe des Stadttheaters. Hier wurde samstags um 22 Uhr (nach der Theatervorstellung) eingeladen, und, anders als in Bonn, gehörte hier ein großer Teil der Gäste zum Adel. Die Genueser Adligen waren durch die gleichen politischen Ideale des italienischen Risorgimento mit dem Großbürgertum vereint. In Sibylles Salon verkehrten daher auch viele Exponenten der Bewegung Giovane Italia von Giuseppe Mazzini (1805-1872). Es waren, wie Sibylle in ihren Briefen beschrieb, Abende im Stil Boccaccios, in denen man sich herrlich mit literarischen Erzählungen der geistreichen und aufgeklärten Gesellschaft amüsieren konnte. Stammgäste dieser Soiréen waren unter anderem der Marchese Gian Carlo di Negro (1769-1857), in dessen Villa am Rande der Altstadt sich die internationale politische und kulturelle Elite der Zeit traf, der Politiker und Geologe Lorenzo Pareto (1800-1865), der Entomologe Massimiliano Spinola (1780-1857), der Kunstsammler Marcello Durazzo (1790-1848), die Kunstsammlerin und Mäzenin Teresa Corsi Pallavicino.
Adele Schopenhauer erreichte Sibylle in Genua im Winter 1844, zusammen fuhren sie nach Rom weiter: im Caput Mundi, dem Paradies der Archäologen, in dem sich schon eine internationale Gesellschaft zusammengefunden hatte, lebte Sibylle bis Sommer 1846 sehr glücklich. Sie bezog zuerst eine Wohnung in der Via Gregoriana 49, in der Nähe des Monte Pincio, und mietete Ende 1845 einen Teil des prachtvollen Palazzo Poli (o della Stamperia Reale), dessen Fassade die Kulisse des weltberühmten Trevibrunnens ist. An beiden Orten führte sie einen grandiosen Salon, dessen Ruhm über die italienischen Grenzen hinausging und bis Deutschland zurückwirkte.
In der Leipziger Allgemeinen am 5.1.1846 konnte man lesen[3]: „Unter den gelehrten Abendzirkeln dieses Winters sind die interessantesten die, welche Madame Mertens aus Köln an jedem Dienstag zu geben pflegt. Außer den hier lebenden Zelebritäten finden sich dort die berühmtesten italienischen Literaten, auch Engländer und Franzosen ein. Ein Klub dieser Gattung ist in unserem Rom eine außerordentliche Seltenheit, weil man hier nicht daran gewöhnt ist, die Frau auf gleichem geistigem Niveau mit den Männern stehen zu sehen.“
Die Details einer dieser Soiréen, die dienstags stattfanden, sind von Sibylle selbst zu erfahren, die am 22.1.1846 in einem langen Brief nach Bonn an ihre Halbschwester Elisabeth Deichmann (1811-1888) von ihrem gesellschaftlichen Leben in der Ewigen Stadt berichtete[4]:
Ich wohne in einem hübschen Quartier, gerade über der Fontana di Trevi, die unter den Fenstern meines Saales in ein ungeheures Becken fällt, ziemlich nah an dem Corso, fast im Mittelpunkt des belebteren Teils der Stadt […] Übrigens könntest Du Dienstag Abends bei mir einen grossen Theil der europaeischen Sprachen reden hören, und alle Confessionen vereint sehen, denn ich mache nur Sitte, Bildung und Geist, sowie Duldung und so wenig Klatsch, wie möglich zur Bedingung einer Présentation. Deutsch, Französisch, Italienisch, Dänisch, Russisch, Polnisch und Neugriechisch klingen da gegeneinander, denn in Rom affluiren die bedeutendsten Menschen aller Nationen […] Und nicht nur die verschiedenen Nationen, auch die Stände gehen ruhig durcheinander her: brillante Salondamen, Gelehrte, Geistreiche, gute Hausfrauen, Künstler, musikalische Celebritäten, Touristen, der Monsignore und die Schriftstellerin, der Kaufmann und der Prinz, der Gesandte und der Dr. Juris, der Arzt und die elegante Frau!
Der Erfolg ihres römischen Salons lag gerade in dieser ausgewogenen und internationalen Mischung: Geisteswissenschaftler aller Art, Aristokraten und hohe Beamte, junge Künstler auf der Suche nach Auftraggebern und mutige, kultivierte Frauen, die neue Wege der Selbstverwirklichung aus den sozialen Konventionen heraus suchten.
Die Mehrheit der Gäste gehörte zu den Mitgliedern und den Korrespondenten des im Jahr 1829 gegründeten Istituto di Corrispondenza Archeologica, an dessen Sitzungen Sibylle als anerkannte Archäologin und Fachkennerin teilnehmen durfte, auch um Exponate ihrer Sammlung vorzustellen. Zu diesem Kreis gehörten die Bonner Professoren Friedrich Gottlieb Welker und Friedrich Wilhelm Ritschl (1806- 1876), Professor für Klassische Philologie, die 1846 ihren Salon besuchten, der Berliner Numismatiker Julius Friedländer (1813-1884), der zusammen mit Theodor Mommsen (1817-1903) auf Reisen in Italien war, und natürlich die Stammgäste wie August Emil Braun (1809-1856), Leiter des Istituto di Corrispondenza, der berühmte Archäologe und Architekt Luigi Canina (1795-1856), der Gelehrte Antonio Coppi (1783-1870), Präsident der Accademia Tiberina, die Epigraphiker Giovanni Battista De Rossi (1822- 1894) und der junge Johann Heinrich Wilhelm Henzen (1821-1882), der Martens-Schaffhausen wegen ihrer Sympathie für Giuseppe Garibaldi (1807-1882) scherzhaft die „Rote Sibylla Renana“ nannte, dazu der Archäologe und Paläograph Pietro Matranga (1807-1855), der aus Piana degli Albanesi, einer griechischen Enklave in Süditalien, kam. Matranga war einer der besten Kenner des Alt- und Neugriechischen in Rom. Sibylle förderte maßgeblich seine wissenschaftlichen Publikationen auf dem Gebiet der Archäologie; als Privatsekretär des Kardinals Angelo Mai (1782-1854) erhielt Matranga eine wichtige Stelle als Bibliothekar für die griechischen Schriften der Vatikanischen Bibliothek. Aber er war nicht der einzige gute Bekannte Sibylles in den Lesesälen der prächtigen Biblioteca, auch der befreundete Sprachwissenschaftler Kardinal Giuseppe Gaspare Mezzofanti (1774-1849) hatte dort eine leitende Position. Sibylle Mertens-Schaffhausen konnte also immer auf Unterstützung zählen, wenn sie alte Pergamentbände erforschen wollte.
Außer den Archäologen und Altertumswissenschaftlern verkehrten in ihrem Salon auch zahlreiche hohe Beamte, Politiker, Diplomaten, Kardinäle (die in Rom auch politische Funktionen hatten) und Rechtsgelehrte, wie zum Beispiel der Graf Federico Broglia, bevollmächtigter Botschafter des Königs von Sardinien im Vatikan, der Legationsrat August Kestner (1777-1853), der Sohn von Goethes Lotte, der preußische Konsul in Rom, Anton Marstaller (1809-865), der Graf Pellegrino Rossi (1787-1848), Jurist und Politiker von internationalem Rang, der 1845 außerordentlicher Botschafter Frankreichs im Vatikan wurde, der Kardinal Vincenzo Macchi, (1770-1860), Kardinal Francesco de' Medici di Ottajano (1808-1857), der erste Kämmerer des Papstes, und wieder prominente „Touristen“, wie die Rechtsgelehrten Otto Mejer aus Göttingen (1818-1893) und Bernhard Windscheid aus Bonn (1817-1892). Besonders nah stand Sibylle ein anderer häufiger Gast ihrer Soiréen: Michelangelo Caetani (1804-1882), Prinz von Teano und ab 1850 Herzog von Sermoneta. Er war als Politiker und Forscher eine vielseitig orientierte Persönlichkeit und teilte mit Sibylle die Leidenschaft für Dantes Göttliche Komödie und für die etruskische Antike. Die Sammlerin war in Rom also, wie davor in Genua, mit den höchsten Kreisen der Gesellschaft in bester Verbindung. Das erklärt auf der einen Seite ihren sozialen Erfolg, auf der anderen Seite die absolute Selbstsicherheit, mit der sie sich gegenüber den verschiedenen politischen und akademischen Institutionen bewegte.
Eine andere, im römischen Salon Sibylles besonders zahlreich vertretene Gruppe waren die Künstler, und speziell die in Rom ansässige deutsche Kunstkolonie. Sibylle liebte und förderte die Künstler des späten Klassizismus. In den großen Sälen des Palazzo Poli konnte man viele schon berühmte oder noch nicht bekannte Schüler und Epigonen Antonio Canovas (1757-1822) und Bertel Thorvaldsens (1770-1844) treffen, wie die Bildhauer Pietro Tenerani (1798-1869), Giovanni Albertoni (1806-1887), Antonio Bisetti (1801-1871), Giuseppe De Fabris (1790-1860), den Berliner Julius Troschler (1806-1863), der seit 1833 in Rom lebte, Franz Woltreck (1800-1847), der seine letzte Jahre in Italien verbrachte, und den Dänen Jens Adolf Jerichau (1816-1883). Aber auch viele Exponenten der Malerkolonie verkehrten oft bei ihr: der große Peter Cornelius (1783-1867), der Berliner Karl Becker (1820-1900), Karl Friedrich Johann von Müller (1813-1881), der seit 1837 in Rom als Schüler Jean-Auguste Dominique Ingres (1780-1867) tätig war, Johann Michael Wittmer (1802-1880), Schüler und Schwiegersohn des Klassizisten Joseph Anton Koch (1768-1839), der Historienmaler Julius Schrader (1815-1900) der aus der Düsseldorfer Akademie kam, Louis Gurlitt (1812-1897) und Carl Hummel (1821-1906), Landschaftsmaler aus Weimar. Alle haben sich in Sibylles Stammbuch verewigt. Die starke Präsenz der Künstler im Palazzo Poli lässt sich erklären mit der Anwesenheit wohlhabender Auftraggeber, von bedeutenden (und in einem Raum versammelten!) Multiplikatoren, wie man heute sagen würde, und Sibylle selbst hatte auch in ihrem Leben viele junge Künstler gefördert, aber dazu kam wahrscheinlich hier ein spezifisches Interesse: ihre Freundin Adele Schopenhauer hatte angefangen, als Ausland-Korrespondentin über Kunstausstellungen und Kunstthemen zu schreiben und hatte deswegen Freundschaften mit den deutschen und den dänischen Künstlerkolonien geschlossen; Sibylle selbst plante in dieser Zeit einen Essay über die Christusikonographie zu verfassen, der leider nie erschienen ist.
5. Die Frauen im Salon
Die prächtigen Soiréen am Palazzo Poli waren außerdem maßgeblich von der Persönlichkeit besonderer Frauen geprägt - und das war die absolute Neuheit in Rom, da man, wie die das erwähnte Zitat aus der Leipziger Allgemeinen betonte, nicht daran gewöhnt war, „die Frau auf gleichem geistigem Niveau mit den Männern stehen zu sehen“. Sibylle bot also durch ihre Gastfreundlichkeit und die Form ihrer Gesellschaft einen Raum zum Austausch und zur Weiterentwicklung in der Akzeptanz und gegenseitigen Anerkennung. Unter diesen Frauen, die sich „auf dem gleichen geistigen Niveau der Männer“ positionierten, ist sicher Enrica Dionigi Orfei (1774-1868) zu erwähnen, Dichterin und Schriftstellerin, die schon 1807 Mitglied der Accademia delle Scienze zu Turin war und die zur italienischen Übersetzung von John Miltons „Paradise Lost“ beigetragen hatte, die schottische Astronomin, Physikerin und Mathematikerin Mary Fairfex Greig Sommerville (1780-1872), die sich wie Sibylle fast komplett autodidaktisch Geistes- und Naturwissenschaften angeeignet hatte und seit 1835 ein anerkanntes Mitglied der Royal Astronomical Society war, die gefeierte englische Opernsängerin Adelaide Kemble Sartoris (1815-1879), Goethes eigenwillige und phantasievolle Schwiegertochter, Ottilie von Goethe, die schon erwähnte hochkultivierte Adele Schopenhauer, die deutsch-polnische, sozialkritische Malerin Elisabeth Baumann (1819-1881), die im Salon von Sibylle in dem dänischen Bildhauer Jens Adolf Jerichau (1816-1883) die Liebe ihres Lebens fand. Noch ein anderes berühmtes Paar bildete sich im Saal des Palazzo Poli: die Schriftstellerin Fanny Lewald (1811-1889) und der zu diesem Zeitpunkt verheiratete Oldenburger Gymnasiallehrer und Kritiker Adolf Stahr (1805-1876) lernten sich bei Sibylle kennen und verliebten sich, wie Lewald in ihrem Tagebuch verewigte[5]:
Der Empfangsaal […] war eines der Frontzimmer in dem Palast der päpstlichen Druckerei, durch dessen Mauern die Wasserleitung der Fontana Trevi geht. Dicht hinter den Fenstern des Saales, in dem wir uns befanden, brach der Wasserstrom, aus dem fernen Gebiet kommend, reich hervor, um sich mit mächtigem Rauschen in das gewaltige Becken zu stürzen, das unten, weit wie ein Teich, einen Teil des Platzes einnimmt. […] Oben in der Ecke des Zimmers ruhte Stahr auf einem Diwan. […] Sybille phantasierte auf dem Flügel […], er hielt meine Hand in der seinen, sein Kopf lehnte sanft an meiner Schulter. […] Ein unsagbarer Zauber ruhte über dieser Stunde. Das helle Mondlicht, das durch das Fenster schien, die linde Frühlingsluft, die uns umspielte, der süße Duft der Veilchen, das Rauschen der Fontäne und die frische Kühle des Wassers, die man zu empfinden meinte, während die Töne, welche Sybille ihrem Flügel entlockte, weinten und klagten, lächelten und jauchzten. Es war etwas Märchenhaftes in diesem Zusammenwirken alles dessen, was die Sinne entzückt und die Herzen erschließt, es war uns, als wären wir der Erde entrückt in Traumseligkeit!
Der römische Salon der Mertens-Schaaffhausen stellte eine Neuigkeit im Vergleich zu den Bonner Salons dar. Sibylle, die schon jahrelang eine erfahrene Gastgeberin war, brachte in die Gestaltung ihrer römischen Gesellschaften auch die Erinnerung an die großen Soiréen ein, die sie mit den aristokratischen Kreisen bei ihrem genuesischen Freund Gian Carlo Di Negro genossen hatte, lehnte sich aber auch durch eine klug ausgewählte, gemischte Gesellschaft und Auflockerungen durch Musik und Kunsttätigkeiten zu Gunsten karitativer Zwecke an die Form des Salons an, den ihre Freundin Johanna Schopenhauer in Weimar geführt hatte.
Aus dem Tagebuch von Fanny Lewald ist ein Eindruck von der Atmosphäre zu gewinnen[6]:
Frau Adelaide Kemble Sartoris[7] versprach toskanische Romanzen, der erste Musiklehrer von Rom, Chevalier Landsberg, übernahm eine einleitende Ouverture, Fräulein Schopenhauer las den Goetheschen Epilog zum Esser, ich ein kleines, skizzenhaftes Märchen, der Maler Carl Müller von Stuttgart[8] stellte uns ein paar lebende Bilder. […] Endlich ließen die anwesenden Künstler sich bereitfinden, während man musizierte und las, auf zurechtgelegte kleine Blätter leichte Skizzen zu entwerfen, um sie zum Schluß des Abends in einer Lotterie verlosen zu lassen, deren Ertrag gleichfalls unserem Wohltätigkeitskapital anheimzufallen bestimmt war […] Selbst der hannöversche Gesandte, Herr Kestner[9], der Sohn von Werthers Lotte, eine Künstlernatur, die noch im Greisenalter sich einem Scherze nicht abhold zeigte, wollte auch „mitwirken“ und ließ sich, da alle Arten von Kunstleistungen bereits erschöpft waren, einen Kamm herbeibringen, auf dem er zu allgemeinem Ergötzen ein ganz sentimentales deutsches Volkslied blies. Der Frohsinn, die Lachlust, die tolle Laune, hatten in diesem Saale nie zuvor in solchem Grade ihre Herrschaft geltend gemacht.
In Sommer 1846 musste Sibylle schweren Herzens Rom verlassen, um nach Bonn zurückzukehren.
6. Der Geist lebt
Es folgten traurige Jahre, verlore[n] in jenen scheußlichen Gelderörterungen, wie sie selbst an ihre Freundin Ottilie von Goethe schrieb[10]: Erbstreitigkeiten, Prozesse gegen Familienmitglieder, Zwistigkeiten aller Art, der Tod Adele Schopenhauers im Jahr 1849 brachten die stolze und gesellige Frau an den Rand einer tiefen Depression und der gesellschaftlichen Isolierung. Sie verkaufte peu à peu alle ihre Besitzungen am Rhein und beschloss, nach Rom umzuziehen, was im Frühjahr 1857 geschah. Dort fühlte sie sich endlich wieder zum Leben erwacht, aber es war nur ein kurzes Aufatmen: sie starb am 22.10.1857. Ihr Grab befindet sich auf dem Campo Santo Teutonico in der Ewigen Stadt, die sie so liebte. Auf ihrer klassizistischen Grabstele finden sich über ihrem antikisierenden Profil in weißen Marmor gemeißelt die Worte: DER GEIST LEBT.
Quellen
Clasen, Theo/Ottendorff-Simrock, Walther, Briefe an Sibylle Mertens-Schaaffhausen, Bonn 1974.
Literatur
Arndt, Ernst Moritz, Wanderungen in und um Godesberg, Bonn 1844.
Büch, Gabriele, La principessa tedesca. Sibylle Mertens-Schaaffhausen 1797–1857, Bonn 2009.
Heinen, Elmer, Die Rheingräfin Sibylle Mertens-Schaaffhausen, in: Godesberger Heimatblätter 35 (1997), S. 47-63.
Hellberg, Helmut, Die Frauen vom Auerhof [später Haus Carstanjen]. „Frühfeminismus“ in Bonn, in: Godesberger Heimatblätter 24 (1986), S. 14-35.
Houben, Heinrich Hubert, Die Rheingräfin. Das Leben der Kölnerin Sibylle Mertens-Schaaffhausen, Essen 1935.
Lewald, Fanny, Römisches Tagebuch 1845/46, hg. v. Heinrich Spiero, Leipzig 1927.
Maurer, Doris, Der Salon der Sibylla Mertens-Schaaffhausen, in: Jüssen, Anne (Hg.), Die Töchter der Loreley. Romantik, Revolution und Feysinn. Frauen am Rhein, Roßdorf 2004, S. 113-131.
Maurer, Doris u. Arnold E., Ein Bonner Salon. Sibylle Mertens-Schaaffhausen und ihr Kreis, in: Bonn erzählt. Streifzüge durch das literarische Bonn von 1780-1980, Bonn 1983, S. 61-72.
Ottendorf-Simrock, Walther, Sibylle Mertens-Schaaffhausen und ihr Stammbuch, in: Bonner Geschichtsblätter 14 (1960), S. 29-68.
Steidele, Angela, Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, Berlin 2010.
- 1: Arndt, Wanderungen, S. 160.
- 2: Houben, Die Rheingräfin, S. 91.
- 3: Houben, Die Rheingräfin, S. 344.
- 4: Houben, Die Rheingräfin, S. 384.
- 5: Lewald, Römisches Tagebuch, S. 149-150.
- 6: Lewald, Römisches Tagebuch, S. 210-211.
- 7: Adelaide Kemble (1815-1879), verheiratete Satoris, englische Opernsängerin (Sopran).
- 8: Karl Friedrich Johann von Müller (1813-1881), Schüler von Ingres, dem er 1837 nach Rom gefolgt war und dort elf Jahre lebte.
- 9: Georg August Christian Kestner (1777-1853), Sohn von Charlotte Buff (1753-1828), 1773 Heirat mit Johann Christian Kestner (1741-1800).
- 10: Maurer, Ein Bonner Salon, S. 72.
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Fabbri, Francesca, Weibliche Salonkultur im 19. Jahrhundert und die Salons der Sibylle Mertens-Schaaffhausen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/weibliche-salonkultur-im-19.-jahrhundert-und-die-salons-der-sibylle-mertens-schaaffhausen/DE-2086/lido/621dee066e4813.97426251 (abgerufen am 07.12.2024)