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Abraham Roentgen war ein deutscher Kunstschreiner (Ebenist) und Kabinettmacher. Als einer der ersten Vermittler des englischen Möbelstils in Deutschland begründete er eine Möbelmanufaktur in Neuwied, deren meisterhafte Werkstücke in kontinuierlicher Weiterentwicklung durch seinen Sohn David Roentgen an zahlreiche europäische Fürstenhöfe und Königshäuser geliefert wurden und bis heute Weltruhm genießen.
Abraham Roentgen wurde am 30.1.1711 als Sohn des Schreinermeisters und Holzschnitzers Gottfried Roentgen (1675/1680-1751) und Elisabeth Hermans (1681-1751) in Mülheim am Rhein (heute Stadt Köln) geboren. Seine Lehrjahre verbrachte er in der Werkstatt seines Vaters und begab sich 1731-1738 auf Gesellen-Wanderschaft, die ihn über eingesessene Werkstätten in Den Haag, Rotterdam und Amsterdam bis nach London führte. In allen Städten sammelte er wichtige künstlerische und handwerkliche Eindrücke, die den Stil seiner Möbel nachhaltig beeinflussen sollten. In London (1733-1738) erfüllte er als „journey-man“ freischaffend Auftragsarbeiten von Kabinettmachern, und stand 1738 unter anderem mit dem Ebenisten John Channon (1711-1783) in Kontakt, der auf dem Gebiet gravierter Messingeinlagen Bedeutendes geleistet hatte.
In London hörte Abraham 1737 auch zum ersten Mal die Predigten des pietistischen Missionars Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1769), Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine. Roentgen schloss sich dieser „Brüder Unität“ im Frühjahr 1738 an. Kurz danach nach Deutschland zurückgekehrt, arbeitete er als Schreiner in der Herrnhuter Gemeine Marienborn in der Wetterau. 1739 heiratete er durch Losentscheid das Gemeinemitglied Susanna Maria Bausch (1717-1776), Tochter des Frankfurter Schuhmachers und Krämers Johann Georg Bausch, siedelte anschließend in die neu gegründeten und noch im Aufbau befindliche Siedlung Herrnhaag bei Büdingen über und beabsichtigte von dort zusammen mit seiner Frau Anfang April 1740 eine Missionsreise nach South Carolina zu unternehmen. Susanna Maria musste er jedoch kurz nach Reiseantritt auf der niederländischen Insel Texel zurücklassen, da sie am 9.5.1740 mit einer Tochter niederkam, die nur wenige Tage überlebte. Das Sinken des Schiffes vor der irischen Hafenstadt Galway zwang auch Abraham zur Rückkehr. Zusammen mit seiner Frau lebte er bis 1742 in der Herrnhuter Kolonie „Herrendijk“ bei Ysselstein und verdiente seinen Unterhalt mit Tischlerarbeiten. Im Juni 1742 kehrte das Paar mittellos nach Herrnhaag zurück. Hier gründete Abraham Roentgen mit Hilfe des bereits etablierten Kunsttischlers und Instrumentenbauers Johann Friedrich Hintz (1711-1772) seine erste Möbelwerkstatt.
Als „Englischer Cabinettmacher“ gelang es ihm bald, unter anderem mit Hilfe der Brüdergemeine, wichtige Kontakte zu finanzkräftigen Kunden zu knüpfen, die als Käufer von Luxusware im 18. Jahrhundert galten. Zu seinem Repertoire gehörten Sitz- und Schreibmöbel, Verwandlungstische sowie Schatullen, Kommoden und Schränke, die in streng gegliedertem Aufbau und harmonisch geschwungener Linienführung des Rokoko, gemäß der ethischen Auffassung der Herrnhuter in höchster handwerklicher Qualität und zu gerechten Preisen angeboten wurden. Seine Modelle füllten eine Marktlücke: Die diversen Methoden der Bearbeitung verschiedener Materialien, auf die er sich in England konzentriert hatte, im Besonderen die Feinheit der Schnitzarbeiten und in Rauten eingelegte Marketerien, das erfindungsreiche Gravieren von Messingeinlagen zur dekorativen Aufwertung der Schauseiten und die Anwendung raffinierter Mechanik, die Geheimfachtüren und Schwenkschubkästen bewegte, machten ihn in Kreisen des Hochadels zu einem gefragten Meister.
1750 wurde die Herrnhuter Religionsgemeinschaft aus Herrnhaag ausgewiesen. Abraham Roentgen zog mit seiner Frau und inzwischen fünf Söhnen und zwei Töchtern sowie 40 weiteren Herrnhuter nach Neuwied, wo ihnen Johann Friedrich Alexander Graf zu Wied-Neuwied (1706-1791) eine Siedlungsfläche zur Verfügung stellte. Der Zuzug der Herrnhuter Brüdergemeine nach Neuwied wurde am 31.1.1756 durch ein Privileg des Grafen endgültig genehmigt. Dieses stützte sich auf das 1662 von Friedrich Graf zu Wied (1618-1698) verkündete Stadtrechtsprivileg, das zum Ziel hatte, die 1653 neu gegründete Residenzstadt Neuwied zu entwickeln. Demgemäß wurden neuen Bürgern großzügige Freiheiten gewährt, unter anderem auch die freie Religionsausübung und das Bauen eines eigenen Hauses, für das ein kostenloser Bauplatz zur Verfügung gestellt wurde. Abraham Roentgen beteiligte sich aktiv am Aufbau der Gemeinehäuser. Von seinem eigenen, 1763 errichteten stattlichen Haus mit angegliederten Werkstätten in der Pfarrstraße, das er bis zum Verkauf 1776 bewohnte, hat sich das geschnitzte Eingangsportal erhalten (Neuwied, Roentgen-Museum).
Das Grafenhaus Wied förderte das Unternehmen von Abraham Roentgen nachhaltig, nicht nur durch den Ankauf zahlreicher Möbel, sondern auch mit der schriftlichen Versicherung, nach dem Erwerb des Bürgerrechts der Stadt Neuwied (18.4.1764) jenseits der strengen Zunftordnung (die Zahl der Gesellen war auf zwei beschränkt und zunftfremde Tätigkeiten, wie zum Beispiel Metallarbeiten, durften nicht ausgeführt werden) frei arbeiten zu können. Zusätzlich wurde ein Privileg zur zollfreien Einfuhr aller benötigter Materialien erlassen. So konnte Abraham sein Unternehmen zu einer Kunstmöbelmanufaktur von internationalem Rang ausbauen, in welcher zahlreiche Gesellen beschäftigt, und unterschiedliche Arbeiten von Spezialisten ausgeführt wurden.
Die Übertragung einmal gefundener Gestaltungsprinzipien auf einzelne Möbeltypen ermöglichte eine gewisse Rationalisierung des Fertigungsprozesses für die Vorproduktion jener Luxus- Möbel, die 1754 auch zum ersten Mal auf der Frankfurter Messe angeboten wurden. Zu den Käufern aus bürgerlichem Kreise gehörte unter anderem Goethes Vater Johann Caspar Goethe (1710-1782), der 1756-1757 zwölf Lehnsessel, zwei Konsoltische und einen Eichenstuhl für seinen Neubau am Großen Hirschgraben in Frankfurter erwarb.
Trotz der Serienherstellung stand der individuellen und besonders luxuriösen Oberflächengestaltung, die sich nach den Wünschen der exklusiven Käufer richtete, nichts im Wege. Figurativ gestaltete Metallgravuren, feinste Einlagen aus Furnieren, Elfenbein und Buntmetallen, virtuos geschnittene Marketerien mit Chinoiserien, Insekten- und Blumenmustern, stets dem aktuellen französischen und englischen Zeitgeschmack angepasst, sowie die holztechnischen Inneneinrichtungen und immer raffiniertere Mechanik der beweglichen Teile, machten die Roentgen-Möbel unübertroffen.
Johann Philipp von Walderdorff, Erzbischof und Kurfürst von Trier, gehörte neben den Grafen zu Wied und Isenburg-Büdingen zu den größten Abnehmern von Roentgen-Möbeln. Sein spektakulärster Auftrag an Abraham Roentgen war ein Pultschreibtisch (1758-1760, heute im Rijksmuseum Amsterdam) – ein Prunkmöbel, das, mit dem Staatswappen und dem in Perlmutt geschnittenen Porträtmedaillon des Kurfürsten, mit Gravuren von Messing, Silber, Perlmutt und Elfenbein sowie Marketerieszenen mit ländlichen Idyllen nach Nicolaas van Berchem (1620-1683) – der Staatsrepräsentation und der Verherrlichung des Kurfürsten diente.
Ab 1762 hatte Abraham in seinem ältesten Sohn David, der seit 1757 bei ihm in die Lehre ging, einen wichtigen Helfer, dem es gelang, Ende der 1760er Jahre das Unternehmen aus der in infolge von Rezession und dem Siebenjährigen Krieg bedingten tiefen wirtschaftlichen Krise, herauszuführen. Aufgrund von Schwierigkeiten mit der konservativen Brüdergemeine und dem Tod seiner Frau 1771 übergab er David 1772 offiziell die Leitung des Betriebes, unterhielt aber bis 1775 weiterhin eine eigene Werkstatt und blieb noch bis 1784 in der Manufaktur aktiv. Ein Jahr später verließ Abraham Neuwied, um in Herrnhut (bei Löbau in Sachsen), im Chorhaus der Witwer, bis zu seinem Tod am 1.3.1793 seinen Lebensabend zu verbringen. Beigesetzt wurde er auf dem Gottesacker unterhalb des Hutberges; dort ist sein Grab heute noch zu finden.
Neben David erlernten auch seine vier weiteren Söhne das Tischlerhandwerk und arbeiteten zeitweise in der Roentgen-Manufaktur. Sein Sohn Ludwig (1755-1814), Uhrmacher und Prediger, schrieb die Biographie seines Vaters nieder. Er charakterisierte ihn mit den Worten: „Seine Bekanntschaft mit so vielen großen und kleinen Höfen hob seinen Geist aus der engen Sphäre bürgerlichen Lebens und dem damals noch sehr beschränkten Ideenkreis der Brüdergemeine und gab ihm eine Vielseitigkeit, eine Gewandtheit und einen Adel der Gesinnung, Duldung und Menschenliebe, die man wahrlich bei wenigen Menschen seiner Zeit fand.“ (Ludwig Roentgen, zitiert in: Doderer-Winkler, S. 69).
Quellen
Roentgen, Ludwig, Das erste Buch meines Lebens, Rotterdam 1845.
Literatur
Doderer-Winkler, Melanie, Abraham und David Roentgen (1711-1793; 1743-1807), in: Rheinische Lebensbilder 17, Köln 1997, S. 57-78.
Fabian, Dietrich, Abraham und David Roentgen. Das noch aufgefundene Gesamtwerk ihrer Möbel- und Uhrenkunst in Verbindung mit der Uhrmacherfamilie Kinzing in Neuwied, Bad Neustadt/Saale 1996.
Greber, Josef Maria, Abraham und David Roentgen. Möbel für Europa, Werdegang, Kunst und Technik einer deutschen Kabinett-Manufaktur, Text- und Tafelband, Starnberg 1980.
Huth, Hans, Abraham und David Roentgen und ihre Neuwieder Möbelwerkstatt, München 1974.
Thillmann, Wolfgang/Willscheid, Bernd (Hg.), Möbel Design – Roentgen, Thonet und die Moderne, Ausstellungskatalog Roentgen-Museum Neuwied, 2011.
Online
Adam, Cornelius, Tischlermeister D. Roentgen. [Online]
Prange, Peter, „Roentgen, Abraham“, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 730-731. [Online]
Roentgen-Museum Neuwied. [Online]
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Steger, Denise, Abraham Roentgen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/abraham-roentgen/DE-2086/lido/57cd227c585055.00636610 (abgerufen am 06.12.2024)