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Heinrich Cornelius, genannt Agrippa von Nettesheim, war wohl eine der schillerndsten Gestalten des vorreformatorischen Europas. Er trat sowohl als Theologe, Philosoph, Jurist, Astrologe und Arzt in Erscheinung und kann wohl am besten als Renaissance-Gelehrter faustischen Charakters bezeichnet werden. Nicht von ungefähr erscheint Agrippa in Christopher Marlowes (1564-1593) Adaptation des Stoffes als gefährlicher Lehrmeister des skrupellosen Dr. Faustus. Eine angebliche Wundertätigkeit scheint jedoch eher auf einen Lesefehler zurückzugehen, denn zumindest zeitweise passt auch die Bezeichnung Wanderprediger auf diesen von Köln aus in ganz Europa umherziehenden Gelehrten.
Über die Abstammung und Familienverhältnisse Agrippas ist nichts bekannt. Hugo Delff sah ihn noch „durch Herkunft und Reichthum ausgezeichnet“, zuweilen ist aber auch zu lesen, er stamme aus einer verarmten Kölner Patrizierfamilie. Beides ist wohl falsch; sein eigentlicher Name lautete Heinrich Cornelis, in der Matrikel der Universität Köln schrieb er sich am 22.7.1499 als Henricus de Nettesheym ein. Dort durchlief er die übliche akademische Ausbildung und lernte an der Artistenfakultät die so genannten Sieben Freien Künste, die sprachliche, dialektische, naturwissenschaftliche und musische Kompetenzen vermittelten. Im Frühjahr 1502 wurde er zur Lizenziatenprüfung zugelassen; in der Folge setzte er seine nunmehr höheren Studien der Rechtswissenschaft und Medizin in Paris fort. Typisch für seine Zeit entwickelte er jedoch keinen spezifischen Schwerpunkt, sondern strebte eine universelle Bildung an und beschäftigte sich daher weiterhin auch mit Physik, Sprachen und Philosophie.
Letztere war in der vorreformatorischen Zeit im Begriff, sich von der mittelalterlichen Scholastik zu lösen und nach neuen Wegen zum Verständnis der Welt zu suchen. Dabei orientierte sie sich insbesondere am klassischen Altertum; auch Agrippa setzte sich mit den antiken Schriften auseinander, folgte aber daneben einer zweiten Strömung, die am ehesten als naturphilosophisch, jedoch auch als okkult und magisch beschrieben werden kann. Vermutlich war der junge, gerade 20-jährige Mann von der Möglichkeit zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, ungemein fasziniert. 1507 soll er in Paris einen okkultistischen Geheimbund gegründet haben, bevor er sich auf ausgedehnte Reisen nach Italien und Spanien begab. Für seine zahlreichen Unternehmungen und Studien fand er meist Mäzene, die ihn finanzierten.
So erhielt er im Jahr 1509 aufgrund seiner guten Kontakte zum Erzbischof von Besançon, Antoine de Vergy (Episkopat 1502-1541) eine Anstellung an der wenig bedeutenden Universität Dôle in der Franche-Comté, an der er Vorlesungen über Johannes Reuchlins (1455-1522) Werk „De verbo mirifico“ hielt. Reuchlin hat neben Erasmus von Rotterdam (1465-1536) als bedeutendster europäischer Humanist zu gelten, der sich als erster nichtjüdischer Gelehrter mit den hebräischen Urtexten des Christentums beschäftigte und dabei insbesondere die Kabbala, die jüdische Mystik, fokussierte.
Dort und in den antiken Philosophien, etwa bei Platon, sah er bereits die Prinzipien der christlichen Lehre angelegt. Die Entscheidung Reuchlin zu lesen spiegelte also zum einen Agrippas bisherigen eigenen akademischen Werdegang in einer Verbindung aus Humanismus und Okkultismus wider, handelte ihm zum anderen aber auch den Ruf eines Ketzers ein, da er von der traditionellen Lehrmeinung abwich.
Agrippa verließ daraufhin Dôle und ging nach England, wo er 1510 bei John Colet (1467-1519) hörte, dem Begründer der Oxford School, die die humanistische Toleranz in der katholischen Lehre verankern wollte. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Köln, wo er quodlibetanische Diskurse über die Theologie anbot und sich dabei sehr schnell mit den Dominikanern überwarf, hielt Agrippa sich zwischen 1511 und 1518 überwiegend in Oberitalien auf und stand dort wohl im Dienst Kaiser Maximilian I. (Regierungszeit 1486-1519). Es ist bemerkenswert, dass er offenbar zeitgleich als kaiserlicher Offizier im Feld unter anderem gegen die Republik Venedig stand und dennoch Vorlesungen an der Universität Pavia hielt. Den zweiten Teil seines Italien-Aufenthalts verbrachte Agrippa wiederum mit ausgedehnten Wanderungen, wobei Pavia sein Bezugsort blieb, wo er auch heiratete und sich möglicherweise in Medizin und beiden Rechten promovierte. Hierzu fehlen jedoch verlässliche Quellen. Dass er eine höhere juristische Qualifikation erworben haben muss, zeigt seine Anstellung als Stadtsyndikus in Metz, wohin er 1518 zog. Agrippa ergriff Partei für die Reformation und prangerte den schlechten Zustand der Kirche an. 1519 übernahm er die Verteidigung einer der Hexerei angeklagten Frau; beides ließ ihn beim Bischof von Metz, Jean de Lorraine-Guise (1498-1550) aus dem streng katholischen lothringischen Fürstenhaus, in Ungnade fallen. Zudem machten Gerüchte, Agrippa sei selbst ein schwarzer Magier, die Runde, sodass ihm Anfang 1520 nur die Rückkehr nach Köln blieb, wo sein alter Streit mit den Theologen der Universität jedoch bald wieder aufflammte. Agrippa verließ seine Heimatstadt daraufhin wieder in Richtung Metz. Dort starb 1521 seine erste Frau, mit der er einen Sohn namens Aymont (geboren 1517) hatte, an der Pest.
Es ist denkbar, dass dieses Erlebnis Agrippa dazu brachte, sich mehr mit der Heilkunst zu beschäftigen. 1521 ließ er sich in Genf als Arzt nieder und heiratete dort Jana Luisa Tissie (geboren 1503), die einer vornehmen Genfer Familie entstammte. Er scheint mit seinen Fähigkeiten einigen Eindruck hinterlassen zu haben und wurde 1522 zum Direktor des Stadtkrankenhauses bestellt. Gegen seinen Weggang nach Freiburg im Üechtland, wo er die Stelle eines Stadtphysikus annahm, protestierte der Genfer Rat vergeblich. Auch in Freiburg hielt es ihn jedoch nicht lange: angeblich behandelte er die Armen umsonst und brachte damit die etablierten Ärzte und Apotheker gegen sich auf. 1524 jedenfalls übersiedelte er nach Lyon, wo er als Leibarzt der französischen Königinmutter Louise von Savoyen (1476-1531) tätig war. Diese verlangte von ihm auch die Erstellung von Horoskopen, was Agrippa zunächst ablehnte, dann aber doch eine für das Haus Valois ungünstige Vorsehung verfasste. Erwartungsgemäß wurde er daraufhin aus dem Dienst der Königinmutter entlassen.
Er ging nach Antwerpen und praktizierte dort weiter als Arzt. Allerdings unterband die dortige medizinische Fakultät diese Tätigkeit, möglicherweise, weil er die erforderliche Qualifikation doch nicht nachweisen konnte. Die Statthalterin der Spanischen Niederlande, Margarethe von Österreich (1480-1530), beschäftigte ihn für eine kurze Zeit als Hofhistoriographen; in dieser Eigenschaft verfasste er einen offiziellen Bericht zur Kaiserkrönung Karl V. (Regierungszeit 1519-1556) im Februar 1530 in Bologna.
Agrippa hatte Margarethe bereits während seiner Zeit in Dôle kennen gelernt und ihr zu Ehren eine Huldigung des weiblichen Geschlechts verfasst. Jedoch blieb er nicht lange in Brüssel, sondern trat heimlich in die Dienste des englischen Königs Heinrich VIII. (Regierungszeit 1509-1547) und geriet damit wiederum in den Verdacht der Häresie. Er flüchtete zurück in seine Heimat, das Erzstift Köln, wo er unter dem besonderen Schutz Erzbischofs Hermann von Wied stand. Allerdings hielt es den Umtriebigen nicht lange in Köln, und er brach zu einer Reise durch Frankreich auf. Da er dort allerdings immer noch in Ungnade stand, wurde er verhaftet. Es scheint zwar, als habe er befreit werden können; er kehrte jedoch nicht mehr nach Köln zurück, sondern starb am 18.2.1535 in Lyon oder Grenoble.
Agrippa von Nettesheim hinterließ ein umfangreiches Schriftwerk. In seinem Hauptwerk „De occulta philosophia“ von 1510 verband er christliche Lehre, antike Philosophie, Mystik und Magie miteinander. Es entstand als erste ihrer Art eine wissenschaftliche Zusammenstellung, die das magische Wissen der Zeit systematisierte und auch zu belegen versuchte. Zumindest teilweise griff Agrippa mit seinen Überlegungen von dem einen Gott, der alles Seiende als Idee beinhalte, die neoplatonische Philosophie des 17. Jahrhunderts vorweg.
Genauso unstet wie sein Leben war jedoch auch sein Schaffen: mehrfach distanzierte er sich von älteren Thesen – mit der „Declamatio de incertitudine et vanitate scientiarum“ revidierte er selbstkritisch seine okkulte Philosophie –, um diese bald danach wieder aufzugreifen, wobei es sich ohnehin selten um wirklich eigene geistige Schöpfungen Agrippas handelte, sondern vielmehr um Synthesen, Kopien und Abwandlungen bestehender Werke. Dennoch erlangte er zurecht als Typus des spätmittelalterlich-vorreformatorischen Suchenden mit einer enormen schriftstellerischen Produktivität und Vielseitigkeit bleibende Bedeutung.
Werke (Auswahl)
Declamatio de nobilitate et praecellentia foeminei sexus, 1510.
De occulta philosophia libri tres, 1510.
De incertitudine et vanitate scientiarum et artium, atque excellentia verbi dei, declamatio, 1526.
Contra pestem antidotum securissima, 1535.
Opera [Gesamtausgabe], 1550.
Moderne Werkausgaben
De occulta philosophia libri tres, ed. Vittoria Perrone Compagni, Leiden/Boston 1992.
Three Books Of Occult Philosophy. Trans. J. F.,edited by Donald Tyson, St. Paul, MN 1993.
Declamation on the Nobility and Preeminence of the Female Sex. Trans. Albert Rabil, Jr., Chicago 1996.
Of the Vanitie and Vncertaintie of Artes and Sciences edited by Catherine M. Dunn. Northridge, CA 1974.
Literatur (Auswahl)
Hahn, E., Die Stellung des Agrippa von Nettesheim in der Geschichte der Philosophie, ungedruckte Dissertation, Leipzig 1923.
Kuper, Michael, Agrippa von Nettesheim – ein echter Faust, Berlin 1994.
Nauert, Charles G. Jr., Agrippa and the Crisis of RenaissanceThought, Urbana/Illinois 1965.
Nauert, Charles G. Jr., Agrippa von Nettesheim, in: Rheinische Lebensbilder 4 (1970), S. 57-77.
van der Poel, Marc, Cornelius Agrippa. The Humanist Theologian and His Declamations, Leiden/Boston 1997.
Thorndike, L., A history of Magic and Experimental Science, 6 Bände, New York 1923-1941.
Zika, Charles, Agrippa of Nettesheim and his Appeal to the Cologne Council in 1533: the Politics of Knowledge in Early Sixteenth-Century Germany, in: Mehl, James V., Humanismus in Köln/Humanism in Cologne, Köln/Weimar/Wien 1991, S. 119-174.
Online
Delff, Hugo, Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, in: ADB 1 (1875), S. 156-158. [Online]
Grimm, Heinrich, Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius“, in: NDB 1 (1953), S. 105-106. [Online]
Agrippa von Nettesheim, Henricus Cornelius, in: Gersmann, Gudrun u. a. (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, in: historicum.net. [Online]
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Bock, Martin, Agrippa von Nettesheim, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/agrippa-von-nettesheim/DE-2086/lido/57a9dcc74476c5.22971358 (abgerufen am 10.10.2024)