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Der SS-Obersturmführer Albert Gemmeker war von Oktober 1942 bis April 1945 Kommandant des „Polizeilichen Durchgangslagers Westerbork“ in den Niederlanden, von dem aus rund 80.000 jüdische Menschen in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden. Am 2.1.1949 wurde er in den Niederlanden zu zehn Jahren Haft verurteilt, von denen er zwei Jahre verbüßte. Nach seiner Entlassung aus der Haft kehrte er in seine Heimatstadt Düsseldorf zurück. Bis zum Ende seines Lebens beteuerte er, nicht gewusst zu haben, dass die Menschen nach der Deportation ermordet wurden.
Albert Gemmeker wurde am 27.9.1907 als viertes und jüngstes Kind von Karl und Therese Gemmeker geborene Königs in Düsseldorf-Derendorf geboren. Er hatte zwei Brüder und eine Schwester. Der Vater war Steinmetz und bearbeitete vor allem Grabsteine für den nahe gelegenen Nordfriedhof. Die Familie war katholisch und wohnte in der Kanonierstraße. Albert Gemmeker besuchte die Katholische Volksschule (heute Thomas-Schule). 1916 starb die Mutter nach einem Treppensturz; noch innerhalb Jahresfrist heiratete der Vater erneut. Die Jugend von Gemmeker war geprägt vom frühen Tod der Mutter, dem Ersten Weltkrieg und den anschließenden gewalttätigen Konflikten im Rheinland.
In den 1920er Jahren erhielt Karl Gemmeker kaum noch Aufträge, weshalb der Sohn nach dem Verlassen der Schule im Alter von 14 Jahren als Laufbursche bei der Viktoria-Versicherung zu arbeiten anfing. Er hätte gerne seine Schullaufbahn fortgesetzt und das Görres-Gymnasium besucht, doch der Vater war dagegen. 1926 wurde Albert Gemmeker arbeitslos.
Im Jahr darauf begann Gemmeker eine einjährige Ausbildung an der Polizeischule in Bonn und arbeitete anschließend bei der Schutzpolizei in Duisburg, vorzugsweise im Innendienst, bis er Ende 1932, Anfang 1933 eine weitere Prüfung ablegte, um sich durch Fortbildung und „überdurchschnittliche Loyalität“ zu empfehlen. 1933 wurde Gemmeker in seiner Heimatstadt Assistent des Verbindungsoffiziers der Polizei mit dem Büro des Regierungspräsidenten. Im selben Jahr heiratete er die zwei Jahre ältere Maria Gassen. Die Ehe wurde im März 1938 geschieden. Wenige Wochen später heiratete er seine zweite Frau, Käthe Wunderling. Bereits vor der Eheschließung hatte das Paar eine gemeinsame Tochter bekommen, auf die bis 1942 zwei weitere Mädchen folgten.
1935 wechselte Albert Gemmeker zur Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Düsseldorf. In Verhören nach den Kriegsjahren gab er an, gehofft zu haben, so schneller Karriere zu machen. Ende 1937 wurde er Chef der Abteilung 1 C3, die verantwortlich war für das Inkasso der Kosten für Schutzhaft, die die Inhaftierten selbst zahlen mussten, für jeden Tag 1,50 Mark. Er sei, so seine Aussage, lediglich in der Verwaltung tätig gewesen und habe sich nicht an Aktionen der Gestapo beteiligt, wie etwa Verhaftungen und „verschärften Verhören“. Auch von den Pogromen am 9. November 1938 habe er „nichts mitbekommen“. Der Historiker van Liempt fand jedoch ein Dokument mit Instruktionen für diese Nacht, die von jemandem namens ''Gemmeke'' (Gemmekers Name wurde häufig falsch geschrieben) telefonisch nach Krefeld durchgegeben worden waren.
Am 1.5.1937 trat Albert Gemmeker der NSDAP (Mitgliedsnummer 5.620.430) und am 1.11.1940 der SS bei. Am 25.8.1940 wurde er nach Den Haag versetzt, nachdem er von Oberregierungsrat Karl Haselbacher (1904-1940) als „außergewöhnlich qualifizierter Beamter“ empfohlen worden war. Dort war er beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) bis Juni 1942 als Personalreferent tätig, sein Vorgesetzter war der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Wilhelm Harster (1904-1991). Von Mai bis August 1941 besuchte er einen Lehrgang an der SD-Führerschule in Bernau und legte die Prüfung zum Polizei-Inspektor ab – ein weiterer Karriereschritt. Nach Einschätzung des Historikers Hans-Christian Harten war diese Institution ein „Schulungsort für Massenmord“.
Im Juni 1942 wurde Albert Gemmeker – für ihn überraschend – die Leitung des Geisellagers Sint-Michielsgestel übertragen, auf Empfehlung von Wilhelm Harster und trotz fehlender praktischer Erfahrung. Dort, in einem ehemaligen Kloster, waren sogenannte „indische Geiseln“, zum Teil prominente Personen – Politiker, Wissenschaftler und Künstler – untergebracht, die aus Vergeltung der Verhaftung von Deutschen in Niederländisch-Indien festgehalten wurden. Während Gemmekers Zeit in diesem Lager wurden acht Geiseln hingerichtet, eine Reaktion auf Sabotageakte des niederländischen Widerstandes und auf Anweisung des Reichskommissariats. Gemmeker bereitete die Exekutionen vor, war aber an ihnen nicht persönlich beteiligt. Kurz danach ließ er anfragen, ob eine Versetzung möglich sei: Er wäre gerne an einen Schreibtisch in Den Haag zurückgekehrt.
Stattdessen wurde Albert Gemmeker zum Kommandanten des „Polizeilichen Durchgangslagers Westerbork“ ernannt, 30 Kilometer von der Grenze zu Deutschland entfernt. Diesen Posten hatte er vom 12.10.1942 bis April 1945 inne. Seine Sekretärin Elisabeth Hassel, Ehefrau eines Gestapo-Kollegen und seine Geliebte, begleitete ihn dorthin. Sein Vorgesetzter Harster erwartete von dem Verwaltungsmann und „übereifrigen Perfektionisten“ (van Liempt) Albert Gemmeker, Ordnung in die bisher chaotischen Zustände in diesem Lager zu bringen und die Transporte ohne Aufsehen reibungslos ablaufen zu lassen. Gemmeker bezog mit Elisabeth Hassel eine Villa auf dem Lagergelände und erhielt die totale Macht über die Menschen in seiner Umgebung. Nach Darstellung seines niederländischen Mitarbeiters Hans Ottenstein (1902-1986) fühlte sich Gemmeker in Westerbork als „König eines kleinen Königreichs“ und ließ sich von den jüdischen Häftlingen bedienen. Die Lagerhäftlinge nannte ihn kurz „Ostu“ (Abkürzung von „Obersturmführer“).
In diesem Lager waren schon vor 1940 jüdische Flüchtlinge von der niederländischen Regierung interniert worden; die deutschen Behörden hatten das Lager übernommen, um von dort aus Menschen nach Osten zum „Arbeitseinsatz“ zu schicken, so die offizielle Sprachregelung. Um die Transporte möglichst unbemerkt von der niederländischen Bevölkerung durchzuführen, bauten die Nederlandse Spoorwegen ein Anschlussgleis von Westerbork an die Bahnstrecke Meppel-Groningen. Die Kosten dafür wurden aus beschlagnahmten jüdischen Vermögen bestritten. Ab dem 1.7.1942 bis zum 13.9.1944 fuhren von Westerbork aus insgesamt 93 Züge in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, zum Vernichtungslager Sobibor sowie zu den Konzentrationslagern Theresienstadt und Bergen-Belsen. Dabei wurden rund 80.000 jüdische Menschen und 245 Sinti und Roma in Vernichtungslager transportiert, um dort ermordet zu werden. Der letzte Zug fuhr am 13.9.1944 mit 279 Menschen nach Bergen-Belsen, darunter waren 77 Kinder sowie die Familie von Anne Frank (1929-1945). In keinem anderen Land in Europa lief die Deportation von Menschen so reibungslos ab wie in den Niederlanden, was nicht zuletzt das Verdienst von Kommandant Gemmeker war. 75 Prozent der in den Niederlanden lebenden Juden wurden im Holocaust ermordet. Kinder und alte Menschen wurden „praktisch ausgerottet“, wie das Rote Kreuz nach 1945 feststellte.
Die Sicherheitspolizei in Den Haag in Person von Judenreferent Wilhelm Zoepf (1908-1980), der seine Anweisungen direkt von Adolf Eichmann (1906-1962), dem Organisator des millionenfachen Mordes an jüdischen Menschen, aus Berlin erhielt, legte die genaue Anzahl der Deportationsopfer fest. Gemmeker und sein Mitarbeiterstab entschieden jedoch, wer deportiert wurde. Wöchentlich wurde die Zusammensetzung der Transporte besprochen, die in der Regel aus 1.000 Menschen bestanden, was die Lagerleitung zu Herren über Leben und Tod machte. Diesem Stab gehörten auch deutsche Funktionshäftlinge an, die zum Teil korrupt waren und für Geld oder sexuelle Gefälligkeiten die Aufstellung der Listen beeinflussten.
Gemmeker inszenierte das Durchgangslager Westerbork als eine Scheinwelt, mit ihm selbst in der Hauptrolle, mit Sportangeboten, einem Krankenhaus, einem Warenhaus, einem Postamt, einer Kantine, Kindergarten und Schule. Es gab Werkstätten und einen lagereigenen Bauernhof. Einmal wöchentlich wurden Theaterstücke und Konzerte aufgeführt. Der Häftling Philip Mechanicus (1889-1944) nannte dies in seinem Tagebuch: „Operettenmusik am offenen Grab“.
Der Kommandant befahl dem jüdischen Fotografen Rudolf Breslauer (1903-1945), das tägliche Lagerleben zu filmen, der jüdische Journalist Heinz Todtmann (1908-nach 1975) schrieb das Drehbuch. Dabei entstanden 85 Minuten Filmmaterial, insbesondere über die Transporte nach Auschwitz. Das Krankenhaus im Lager unter dem jüdischen Chefarzt Fritz Spanier (1902-1967), ebenfalls ein Düsseldorfer, galt als eines der besten in den Niederlanden: „Man tat sein Äußerstes, die Patienten am Leben zu erhalten und zu heilen, um sie danach der Deportationsmaschine auszuliefern.“ Wie etwa im Fall Michieltje: Der kleine Junge wurde als Frühchen geboren. Gemmeker ließ einen Inkubator bringen, einen Professor ins Lager holen und besuchte das Baby regelmäßig. Als Michieltje sechs Pfund wog, wurde er deportiert und ermordet.
Hinter der Fassade dieser vermeintlichen „Dorfidylle“ im Lager war die Atmosphäre von dem ständigen Kampf und der Panik der Bewohner geprägt, auf die Transportlisten für die Züge gesetzt zu werden, die jede Woche dienstags Richtung Osten fuhren. Wenn bei Abfahrt des Zuges die Zahl der zu Deportierenden nicht erreicht war, ging Gemmeker in das Lagerbüro und zog auf gut Glück Personenkarten aus der Kartei, nach Beschreibung des Häftlings Siegfried van den Bergh „wie eine blonde germanische Gottheit […] achtlos, mit behandschuhten Händen, eine Zigarette im Mundwinkel, wie bei einer Lotterie auf der Kirmes“.
Gemmeker führte zahlreiche Regeln für das Lagerleben ein, selbst triviale Verstöße wurden mit „dem Zug“ bestraft. So überraschte er im Dezember 1943 nachts am Stacheldrahtzaun des Lagers ein Pärchen: Die österreichische Lagerinsassin Lotte Weisz (1925-1945) traf sich dort verbotenerweise mit dem niederländischen Wachsoldaten Johan Smallenbroek (gestorben 1981). Lotte Weisz wurde umgehend deportiert, sie starb am 31.3.1945 im KZ Bergen-Belsen. Ihre Eltern und einer ihrer Brüder wurden in Auschwitz ermordet. Smallenbroek wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt und überlebte das Kriegsende nach Aufenthalten in mehreren Lagern.
In einem anderen Fall wurden ein Häftling und seine Familie auf Veranlassung von Gemmeker deportiert, weil der Mann seine Mütze vor dem Lagerkommandanten nicht abgenommen hatte: Der Häftling hatte Gemmeker nicht erkannt und trug zudem auf seinen Armen schwere Holzscheite. Die spätere kanadische Eislauftrainerin Ellen Burka (1921-2016), die ebenfalls in Westerbork gefangen gehalten worden war und in der Villa des Kommandanten arbeitete, berichtete, dass sie auf Anweisung von Gemmeker einzig aus dem Grund deportiert worden war, weil sie sich gegen die Belästigungen eines deutschen Soldaten zur Wehr gesetzt hatte. Gemmekers Geliebte Elisabeth Hassel konnte allerdings durchsetzen, dass Burka nicht in ein Vernichtungslager kam, sondern in das Ghetto Theresienstadt, weshalb sie überlebte. Der niederländische Rundfunksprecher Han Hollander (1886-1943) und seine Frau mussten den Zug besteigen, weil sich die niederländische Ehefrau mit einer deutschen Jüdin gestritten und diese als „rotmoff“ („Scheißdeutsche“) beschimpft hatte.
Nach der gleichzeitigen Flucht von elf Lagerinsassen am 8.2.1943 erließ Kommandant Gemmeker den „Lagerbefehl Nr. 5“, der besagte, dass nach jeder geglückten Flucht die Insassen von deren Wohnbaracke in eine „Strafbaracke“ verlegt werden und mit dem nächsten Transport gen Osten geschickt werden sollten. Gemmeker war auch bei der Räumung des jüdischen psychiatrischen Krankenhauses „Het Apeldoornsche Bosch“ anwesend, von dem aus über 1.200 Menschen nach Auschwitz gebracht und nahezu alle ermordet wurden.
Albert Gemmeker gab sich kultiviert, freundlich, zuvorkommend und galt als nicht-korrupt – wie van Liempt schrieb: „ein Kommandant mit zwei Gesichtern“. Die jüdische Lehrerin Etty Hillesum (1914-1943), die in Auschwitz ermordet wurde, schrieb über ihn in ihrem Tagebuch, dieser besitze das „korrekte, sportliche doch nichtssagende Äußere eines englischen Whiskytrinkers“. Andere Insassen sagten über ihn: „Der vorige Kommandant trat die Leute mit dem Stiefel nach Polen, dieser lächelt sie nach Polen.“ Es ist nicht bekannt, dass er persönlich Häftlinge tötete – seine tödlichen Waffen waren die Transportlisten und die Deportationen, so dass er sich selbst nicht die Hände schmutzig machen musste. Nanda van der Zee verglich sein Vorgehen mit dem des „Schreibtischtäters“ Adolf Eichmann.
Als sich 1945 die kanadischen Truppen näherten, übertrug Gemmeker am 11. April die Lagerleitung dem jüdischen Funktionshäftling Kurt Schlesinger (1902-1963) und verließ Westerbork gemeinsam mit Elisabeth Hassel in seinem Mercedes. Kurzzeitig war er im noch nicht befreiten Amsterdam als Verwaltungsoffizier tätig. Nach der Befreiung der Niederlande wurde er dort am 7. Mai verhaftet.
Am 20.1.1949 wurde Albert Gemmeker in einem Prozess vor einem Sondergericht in Assen zu zehn Jahren Haft verurteilt. Der Staatsanwalt hatte die relativ milde Strafe von zwölf Jahren beantragt. Die vermeintlich korrekte Behandlung der Häftlinge wurde ihm strafmildernd angerechnet. Der Angeklagte berief sich in mehreren Verhören – auch in späteren Jahren – sowie im Prozess darauf, nicht gewusst zu haben, dass die Menschen in den Vernichtungslagern der Tod erwartet habe. Es sei aber „allgemein bekannt“ gewesen sei, dass Juden „Parasiten“ seien, die sich auf Kosten der restlichen Bevölkerung bereicherten. Deutschland habe in Kriegszeiten das Recht gehabt, „Maßnahmen zu ergreifen, um nicht durch eine große Gruppe von Menschen, die Juden, die Deutschland feindlich gesinnt waren, in seinen Kriegsanstrengungen behindert und benachteiligt zu werden“. Zu diesem Zweck seien Internierung und Deportation notwendig gewesen. Kinder und alte Menschen seien deportiert worden, um die „Familienbande“ nicht zu zerreißen. Als er mit der Wahrheit über Auschwitz konfrontiert wurde, zeigte er sich überzeugt davon, dass dies Lügen oder Übertreibungen seien.
Nach seiner Freilassung aus der Haft in den Niederlanden, wo er in den letzten beiden Jahren in dem Kohlebergwerk Oranje Nassau in Eygelshoven arbeiten musste, kehrte Gemmeker 1951 nach Düsseldorf zurück, wo er anschließend am Carlsplatz in einem Tabakwarenladen als Verkäufer tätig war. Es soll jüdischen Holocaust-Überlebenden große Genugtuung bereitet haben, bei ihm einzukaufen und sich von dem früheren Lagerleiter bedienen zu lassen. Sein Antrag auf Entschädigung für die Haftzeit – seine Hand sei durch die Arbeit in den Kohleminen beschädigt – blieb erfolglos, bei seinem Entnazifizierungsverfahren verschwieg er seine Zeit als Kommandant in Westerbork. Er hatte weiterhin Kontakt zu einigen „Kollegen“, aber auch zu ehemaligen Insassen von Westerbork. So war er nach seiner Haftentlassung Patient des Lagerarztes Dr. Spanier, der in Düsseldorf eine Hausarztpraxis eröffnet hatte. Später wechselte er den Arzt, nach eigener Aussage, um die jüdischen Patienten des Arztes nicht vor den Kopf zu stoßen.
Gemmekers zweite Frau, die Mutter seiner drei Töchter, musste schon seit den 1940er Jahren allein zurechtkommen. Inzwischen von Elisabeth Hassel, die drei Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatte, getrennt und erneut verheiratet, wohnte Gemmeker mit seiner dritten, 21 Jahre jüngeren Frau in einer kleinen Wohnung und bescheidenen Verhältnissen in der Parkstraße. In späteren Jahren brach der Kontakt zu seinen Töchtern ab. Die älteste war mit einem Spanier liiert, was Gemmeker nicht akzeptierte. Die zweiälteste heiratete einen Griechen, die Kinder des Paares nannte Gemmeker „Bastarde“. Der jüngsten Tochter verübelte er, dass sie ihrem Kind den jüdischen Namen „Ruth“ gegeben hatte. Eine seiner Enkeltöchter beschrieb ihn als „kühlen, distanzierten Mann“.
1959 wurden in der DDR-Zeitschrift „Die Weltbühne“ Albert Gemmeker und sein Verbleib erwähnt. Die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf stufte diese Angaben als „kommunistische Propaganda“ ein. Einige Woche später erschien in der Kirchenzeitung „Die Stimme der Gemeinde“ ein ähnlicher Artikel, der die Staatsanwaltschaft nun doch zu einem Ermittlungsverfahren veranlasste und den Filmer Peter Schier-Gribowsky zu einem Fernsehinterview mit Gemmeker. In diesem Interview beteuerte Gemmeker erneut, nichts über das Schicksal der jüdischen Menschen gewusst zu haben, er habe lediglich „Gerüchte“ gehört, die er für Propaganda gehalten habe. Gemmeker habe dabei seine Überzeugung, wie van Liempt schreibt, in „salbungsvollem Ton“ dargelegt. Er habe die Lagerinsassen „korrekt und menschlich“ behandelt und ihnen ihre Lage erleichtert, soweit es ihm möglich gewesen sei.
Das Ermittlungsverfahren wurde 1961 eingestellt, da laut Staatsanwaltschaft nicht bewiesen werden könne, dass Gemmeker von der Ermordung der jüdischen Menschen gewusst habe. Im Jahr 1967 wurden in Deutschland neue Ermittlungen eingeleitet, da Gemmekers ehemalige SS-Kollegen Wilhelm Harster und Wilhelm Zoepf inzwischen eingeräumt hatten, seit 1942 oder 1943 von der Ermordung der Juden gewusst zu haben. Bis 1976 wurden rund 130 Zeuginnen und Zeugen in mehreren Ländern befragt. Erneut hielt die Staatsanwaltschaft die Beweise nicht für ausreichend, um den ehemaligen Lagerkommandanten wegen seines Mitwirkens am Holocaust anzuklagen, obwohl der Untersuchungsrichter, der ihn zwölf Mal verhörte, eine Anklage befürwortet hatte. Bis zuletzt hielt Gemmeker an seiner Version des Nichtwissens fest. Ad van Liempt sieht es als „unwahrscheinlich“ an, dass Gemmeker nicht gewusst habe, dass die deportierten Menschen ermordet wurden, da er etwa Kontakt mit den Begleitmannschaften der Transporte pflegte. Auch soll er im November 1943 bei einem Gespräch mit Eichmann anwesend gewesen ein; Gemmeker hingegen bestritt später, Eichmann jemals getroffen zu haben. Schriftliche Belege dafür, dass Gemmeker im Bilde war, wurden nicht gefunden, zumal er September 1944 und im April 1945 Akten hatte vernichten lassen.
Albert Gemmeker starb am 30.8.1982 im Alter von 74 Jahren in Düsseldorf, nachdem er jahrzehntelang in Furcht vor einem neuen Prozess gelebt hatte. Eine seiner Töchter dazu: „Seine Angst war unser Trost.“ Er wurde auf dem Nordfriedhof im Familiengrab seiner Schwiegereltern beerdigt. 2006 wurde das Grab abgeräumt. Seine Töchter erfuhren erst einige Jahre später, dass der Vater verstorben war. Bis heute setzten sich Mitglieder von Gemmekers Familie mit seinen Taten kritisch auseinander. Eine seiner Enkelinnen sagte 2019 in einer Dokumentation des niederländischen Senders NOS: „Er wusste genau, was er antworten musste. Er wusste, dass es keine Beweise gab. Er hat eiskalt gelogen, und ich denke, ohne Schuldgefühle."
Literatur
Bergen, Lotte, Albert Konrad Gemmeker. Commandant van Westerbork, Soesterberg 2013.
Boterman, Frits, Duitse daders. De jodenvervolging en de nazificatie van Nederland (1940–1945), Amsterdam 2015.
Hájková, Anna, Das Polizeiliche Durchgangslager Westerbork, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hg.), Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg 1940–1945, Berlin 2004, S. 217-248.
Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 178.
van Liempt, Ad, Gemmeker. Commandant van Kamp Westerbork, Amsterdam 2019.
van Liempt, Ad, Der Kommandant mit den zwei Gesichtern. Albert Gemmeker im Lager Westerbork, in: informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933–1945 91 (2020), S. 22–26.
van der Zee, Nanda, Westerbork. Het doorgangskamp en zijn commandant, Soesterberg 2006, Nachdruck 2013.
Online
Erinnerungszentrum Lager Westerbork, abgerufen am 13.4.2021. [Online]
RTV Drenthe, abgerufen am 15.4.2021. [Online]
Westerbork (Film), von Rudolf Breslauer (1944). [Online]
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Franz, Renate, Albert Konrad Gemmeker, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/albert-konrad-gemmeker-/DE-2086/lido/616fce34b5e425.53523457 (abgerufen am 05.12.2024)