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Alfred Flechtheim dürfte neben Paul Cassirer (1871-1926) als der bedeutendste deutsche Kunsthändler des 20. Jahrhunderts gelten. Mit seinen Galerien in Düsseldorf und Berlin hat er Geschichte geschrieben; seine private Kunstsammlung wurde 1933 in alle Winde zerstreut. 1937 ist er in der Emigration in London gestorben.
Alfred Flechtheim wurde in Münster am 1.4.1878 als ältester Sohn des jüdischen Getreidehändlers Emil Flechtheim (1850-1933) und seiner aus Dortmund stammenden Ehefrau Emma geborene Heymann (1856-1935) geboren. Das Familienunternehmen, das seit 1845 als „M. Flechtheim" firmierte, war 1870 von Brakel (Kreis Höxter) nach Münster transloziert worden und wurde seit 1877 von Emil Flechtheim und seinem Bruder Alex Flechtheim (1846-1902), beide noch in Brakel geboren, gemeinschaftlich geführt. 1884 errichtete man eine Filiale in Duisburg, 1895 wechselte Emil Flechtheim zur Betreuung des immer größer werdenden Geschäftes an den Rheinhäfen via Rotterdam an den neuen Firmen- und Wohnsitz Düsseldorf.
Alfred Flechtheim war durch Geburt zum Getreidekaufmann bestimmt. Nach dem Besuch des traditionsreichen Gymnasium Paulinum in Münster, das er 1895 mit dem Einjährigen abschloss, folgte der Besuch eines elitären französischsprachigen Internats in Rolle bei Genf und eine Lehrzeit in befreundeten Häusern des In- und Auslandes sowie der Militärdienst bei den Ulanen in Düsseldorf. Längere Aufenthalte in Paris und befristete Aufgaben an Plätzen wie Odessa oder Liverpool weiteten den Blick des jungen Kaufmanns, der seit etwa 1902 in der Firma auch als Teilhaber zusätzliche Verantwortung übernahm.
Es war das Umfeld von Düsseldorf, mehr noch von Paris, das sein früh erwachtes Interesse an Literatur und Kunst förderte. Schon 1905 besaß er ein eigenes Exlibris, sammelte Bücher und Grafiken, machte in Paris die Bekanntschaft mit der deutschen Künstlerkolonie im Café du Dome und seit 1907 mit dem aus Mannheim stammenden Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler (1884-1979) sowie mit Pablo Picasso (1881-1973).
Die Begegnung mit den Kubisten, neben Picasso noch Georges Braque (1882-1963), Juan Gris (1887-1927) und Fernand Léger (1881-1955) muss ein „Erweckungserlebnis" für ihn gewesen sein. Auch eine schwere Krise der Firma, die 1913 fast zum Konkurs geführt hätte, vermochte ihn ebenso wenig weg von der Kunst hin zum Getreidehandel zu bekehren wie die von den Eltern gestiftete Ehe mit einer vermögenden Kaufmannstochter aus Dortmund, Betti Goldschmidt (1881-1941) mit Namen, die mit ihrem Kapital seine Sammelleidenschaft eher noch förderte.
So besaß er bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges nach einem überschaubaren finanziellen Einsatz eine erlesene Kunstsammlung, darunter drei Gemälde von Vincent van Gogh (1853-1890), zwei von Edvard Munch (1863-1944), drei von Henri Rousseau (1844-1910, zwei von Paul Gauguin (1848-1903), zwei von Henri Matisse (1869-1954), sechs von Georges Braque, drei von Juan Gris und über 30 Gemälde und Grafiken von Picasso. Nicht ohne Grund wird er in der Forschung als der maßgebliche Sammler von Picasso in Deutschland vor 1914 bezeichnet. An Weihnachten 1913 endlich, mit 35 Jahren, ließ ihn der Vater ziehen, und er konnte sich mit einer Bürgschaft des Berliner Galeristen Paul Cassirer (1871-1926) und mit Mitteln seiner Frau selbständig machen und eine Galerie in Düsseldorf in der Alleestraße unweit der Kunstakademie eröffnen. Flechtheim hatte Fortune, und da er durch seinen Einsatz bei den Ausstellungen des „Sonderbund" in Düsseldorf und Köln (1909-1912) schon eingeführt war, fand er auch als Händler die Aufmerksamkeit der rheinischen Kunstsammler. Die französische Moderne blieb sein Lebensthema, und das Attribut seiner Kunsthandlung als einer „Französischen Galerie" verstand er zeitlebens als Kompliment.
Der Ausbruch des Krieges mit Frankreich im August 1914 war für ihn folgerichtig eine persönliche und geschäftliche Katastrophe. Die Verbindungen zu seinen französischen Künstlern, Händlern und Freunden wurden unterbrochen, seine Galeriebestände mussten, da sie erhebliche finanzielle Mittel banden, 1917 versteigert werden. Flechtheim hatte sich freiwillig gemeldet, war als Offizier in Belgien in der Militärverwaltung eingesetzt und in Brüssel in einem Kreis deutscher Intellektueller, darunter Gottfried Benn (1886-1956), integriert. Schon zu Ostern 1919 eröffnete er seine Galerie an einem ambitionierten Standort neu, diesmal in der Königsallee in Düsseldorf. Seit 1921 folgten Zweigniederlassungen in Berlin, Frankfurt am Main, Köln und Wien. Die Verbindung zum Rheinland blieb bestehen, aber der Schwerpunkt seiner Tätigkeit verlagerte sich mit der wachsenden Bedeutung der Berliner Galerie in die Reichshauptstadt. Hier avancierte er binnen weniger Jahre zu einem Mann der öffentlichen Lebens, der in der Kunst- und Kulturszene, in der Gesellschaft und in der Förderung modischer Sportarten wie dem noch jungen Boxen eine gewichtige Rolle spielte.
Am Lützowufer 13, im Tiergartenviertel, wo sich die Galerien und das feine Publikum konzentrierten, organisierte Flechtheim eine atemlose Folge von Ausstellungen französischer wie deutscher Künstler, setzte er die Tradition seiner Düsseldorfer Kataloge fort und gewann zusätzliche Aufmerksamkeit als Herausgeber der Zeitschrift „Querschnitt", die er noch in Düsseldorf begründet hatte und die mit den Periodika der „Weltbühne" und der „Neuen Rundschau" den Geist und das Klima der Weimarer Jahre repräsentierte. 1925 wagte er sich auf das Feld der Fotografie mit der Berliner Modefotografin Frieda Riess (1890-1955), 1926 überraschte er das Publikum mit einer Ausstellung über „Stammeskunst", vornehmlich aus den ehemaligen deutschen Kolonien der Südsee, und verantwortete 1928 die für Frankreich wie Deutschland erste umfassende Retrospektive zu Léger.
Obwohl die finanziellen Sorgen seine ständigen Begleiter blieben, investierte er in die Erweiterung seiner Galerie, ließ er sich anlässlich seines 50. Geburtstages am 1.4.1928 im „Kaiserhof" in Berlin feiern. Befreundete Künstler und Sammler hatten mit Gedichten und Zeichnungen gratuliert und ihre Glückwünsche in einer Festgabe veröffentlicht. Berühmtheiten der Zeit wie Ernest Hemingway (1899-1961), Jean Cocteau (1889-1963) und André Gide (1869-1951), Picasso und Max Schmeling (1905-2005) waren vertreten. Im Frühsommer dieses Jahres erfolgte sein privater Umzug nach Berlin in eine großbürgerliche Wohnung unweit des Savignyplatzes. Das Ehepaar hatte über Jahre hinweg seinen ersten Wohnsitz in Düsseldorf noch beibehalten, doch war der am Rhein verbliebenen Betti Flechtheim diese Situation auf Dauer nicht mehr zuzumuten. Auch sollten die Bilder der privaten Sammlung, die bisher auf mehrere Standorte verteilt waren, darunter allein drei in Düsseldorf, endlich zusammengeführt werden. Bilder konnte man so diskret zu Verkaufsgesprächen von der Galerie in die privaten Räume verbringen, Geschäftsessen und die legendären Abendeinladungen zwanglos verbinden. Flechtheim blieb indes nur eine kurze Atempause zur Konsolidierung seines Kunsthandels, denn mit dem Ausbruch der so genannten Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 veränderte sich auch für ihn eine Welt. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in den Reichstagswahlen von 1930, mit der Bankenkrise vom Juni 1931 verschärfte sich die Situation weiter. Reihenweise gingen befreundete Galerien in Konkurs. Versuche, sich ein zweites Standbein zu schaffen, so durch eine neue und international ausgerichtete Zeitschrift „Omnibus" 1931 und durch den Einstieg in den Auktionshandel seit Herbst 1932, kamen zum falschen Zeitpunkt und blieben ohne Erfolg, und in den Augen seiner Kollegen war er um die Jahreswende 1932/1933 de facto pleite.
Die „Machtergreifung" vom 30.1.1933 scheint ihn unvorbereitet getroffen zu haben, obwohl er durch antisemitische Attacken auf seine Person in der NS-Presse gewarnt sein musste. Die Sprengung einer Auktion in Düsseldorf am 11. März durch einen SA-Trupp löste bei Flechtheim einen physischen Zusammenbruch aus. Zwar konnte seine wertvolle Sammlung der Kubisten zwischen dem 17. und 21.3.1933 größtenteils in die Schweiz in Sicherheit gebracht werden, doch war Düsseldorf verloren und wurde von dem dortigen Geschäftsführer Alex Vömel (1897-1985) unter Umständen, die ihn dem Verdacht der „Arisierung" aussetzten, übernommen. Auch in Berlin kam die Kunsthandlung zum Erliegen, die Bilder in der Galerie wurden abgehängt, und nur ausgewählte Besucher erhielten noch Zutritt. Flechtheim sondierte nach einer überstürzten, aber noch vorübergehenden Flucht in die Schweiz seine Chancen, sich als Kunsthändler im Ausland niederzulassen. Die Perspektiven waren wenig ermutigend. Viel zu spät, erst im September 1933, verließ er Deutschland. Im Dezember 1933 dann entschied er sich durch die Vermittlung seines Pariser Freundes und Partners Daniel-Henry Kahnweiler für eine Tätigkeit in der Londoner Galerie von Fred Hoyland Mayor (1903-1973), um den englischen Markt für die französischen Kubisten zu erschließen. Inzwischen lief ein Liquidationsverfahren in Berlin gegen Flechtheim und seine Galerie. Um einen Konkurs zu vermeiden, sah sich Flechtheim gezwungen, gerettete Bilder zum Verkauf zu stellen und den Erlös als Devisen nach Berlin zu transferieren.
Während Betti Flechtheim in eine Wohnung unweit des Kurfürstendamms umzog, konnte Flechtheim, in der NS-Propaganda als Zerrbild eines Kunsthändlers denunziert, bis 1936 mehrfach nach Deutschland einreisen. Er wurde nicht ausgebürgert, weil er dem Reich noch als nützlicher Devisenbringer galt. Betti Flechtheim, die mit ihren beiden Schwestern in einer Erbengemeinschaft lebte, konnte ihr Kapital- und Immobilienvermögen nicht kurzfristig liquide machen. Ihr drohte eine Existenz als Geisel des Systems. Unter diesen Umständen ließ sich das Ehepaar im Februar 1936 in Berlin scheiden. Es war nach ihrem Verständnis eine Scheidung auf Zeit.
Flechtheim pendelte zwischen London und Paris, erzielte nach schwierigen Anfängen durchaus Erfolge bei Mayor und in anderen Galerien, führte aber eine unsichere Existenz und verlor Schritt für Schritt fast alle der ihm noch verbliebenen Bilder. Ein Gemälde, „La Noce" von Léger, schenkte er dem französischen Staat, um sein Einbürgerungsgesuch zu beschleunigen. Es hängt heute im „Centre Pompidou".
Alfred Flechtheim verstarb nach einer Operation am 9.3.1937 in London. Seine Urne wurde zwei Tage später im Columbarium von „Golders Green" beigesetzt, heute unweit der Stelen für Sigmund Freud (1856-1939) und die russische Balletttänzerin Anna Pavlova (1881-1931). Betti Flechtheim ist die Emigration nicht mehr geglückt. Als ihr die Ankündigung zur Deportation überbracht wurde, nahm sie am Abend des 13.11.1941 Veronal und verstarb zwei Tage später im Jüdischen Krankenhaus. Ihre Bilder sind verschollen, ihr bescheidener Grabstein findet sich auf Feld B Abteilung IV Reihe 7 des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee.
In seiner Heimatstadt Münster erinnert der Alfred-Flechtheim-Platz an den Kunstsammler und Mäzen, in Berlin am Haus Bleibtreustraße 15, wo er von 1928 bis 1933 lebte, eine Gedenktafel.
Werke
Alfred Flechtheim „Nun mal Schluß mit den blauen Picassos!" Gesammelte Schriften, hg. von Rudolf Schmitt-Föller, Bonn 2010.
Literatur
Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler Verleger. Ausstellung und Katalog Hans Albert Peters und Stephan von Wiese mit Monika Flacke-Knoch und Gerhard Leistner, Kunstmuseum Düsseldorf 1987.
Dascher, Ottfried, „Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst" Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler, Verleger, Wädenswil 2011.
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Dascher, Ottfried, Alfred Flechtheim, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/alfred-flechtheim-/DE-2086/lido/57c6adbdbc2a32.13192211 (abgerufen am 12.11.2024)