Zu den Kapiteln
Andreas Gottschalk, eine der markantesten Persönlichkeiten Kölns im 19. Jahrhunderts, konvertierte vom Judentum zum Christentum, wobei für ihn die „Brüderlichkeit aller Menschen“ ein wichtiges Motiv war. Er erkannte Armut und Elend als Ursachen von Krankheiten, engagierte sich sozial und war als Gründer und Präsident des Kölner Arbeitervereins einer der Pioniere der Arbeiterbewegung. Während des demokratischen Aufbruchs von 1848 propagierte er mit sozialpolitischen „Forderungen des Volkes“ demokratische Grundwerte. Als Arzt der Armen starb er noch im selben Jahr an der in Köln grassierenden Cholera-Seuche.
Andreas Gottschalk, als fünftes Kind des Talmudgelehrten und Schächters Joseph Gottschalk und seiner Ehefrau Sibilla, geborene Levinboch, am 28.2.1815 in Düsseldorf geboren, kam nach dem Umzug der Familie nach Köln auf das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium. Dort legte er 1834 das Abitur ab und studierte anschließend in Bonn Medizin, daneben Altphilologie, Philosophie und englische Literatur. Nach dem Studium promovierte er über den Blutandrang zum Gehirn, verfasste medizinische Aufsätze und wurde Mitglied einer medizinischen Gesellschaft in Brüssel. 1842 eröffnete er in Köln eine Praxis, in der er arme Patienten meist kostenlos behandelte. Wenig später konvertiert er zum Protestantismus – aus ähnlichen Gründen wie Heinrich Heine. Dieser veröffentlichte 1840 seine zehn Jahre zuvor geschriebenen „Briefe aus Helgoland“. Darin heißt es auf Seite 221: „Jesus Christus berief alle Völker der Erde zur Teilnahme an dem Reiche Gottes, das früher nur einem einzigen auserlesenen Gottesvolke gehörte, er gab der ganzen Menschheit das jüdische Bürgerrecht.“ In ähnlicher Weise pries Gottschalk die „Lehre Jesu Christi“, weil sie „das Erstgeburtsrecht der Juden aufgehoben und die Brüderlichkeit aller Menschen verkündet“ habe.
Politisiert wurde Gottschalk, der zeitlebens unverheiratet blieb, vor allem durch den „Kommunistenrabbi“ Moses Hess . Er gehörte 1842 zu den Mitbegründern der Rheinischen Zeitung, deren Chefredakteur Karl Marx wurde. Auf einem Ärztekongress 1846 in Bonn forderte Gottschalk zusammen mit Kollegen die Abschaffung des Promotionszwangs und eine effektivere Unterstützung der Armen. 1847 schloss er sich mit Freunden in einem sozialistischen Zirkel zusammen.
1848 dankte in Paris König Louis Philippe (1773-1850) ab, und in Kölns Kaffeehäusern wurde die Marseillaise gespielt. In der Rheinprovinz forderte man eine freie Verfassung, Volkssouveränität und die Verwirklichung der ersehnten deutschen Einheit. Demokraten, überwiegend Handwerker, trafen sich in Köln auf Initiative von Gottschalk im Stall eines zum Versammlungslokal umgeräumten Gasthauses, um politische Aktionen vorzubereiten. Am 3. März diskutierte der Kölner Gemeinderat einen Petitionsentwurf: Der Vereinigte Landtag solle einberufen, die Zensur aufgehoben und dem Deutschen Bund eine Volksvertretung gegeben werden. Gewährung einer Verfassung mit umfangreichem Wahlrecht und Versammlungsfreiheit lehnten die Ratsherren noch ab. Etwa 5.000 vor dem Rathaus versammelte Menschen, überwiegend Handwerksgesellen in Sonntagskleidung – Gottschalk an ihrer Spitze – wollten den Rat dazu bringen, sechs „Forderungen des Volkes“ zu übernehmen. Dazu gehörten das allgemeine Wahlrecht, Presse- und Versammlungsfreiheit, „Schutz der Arbeit und Sicherstellung der menschlichen Lebensbedürfnisse für alle“ und die „vollständige Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten“. Auf einigen Blättern stand noch „Friede mit allen Völkern“.
Wartende Menschen drängten ins Rathaus, Infanterie zog kurzzeitig auf den Platz. Die Menschen stürzten nach den Ausgängen, einige wurden niedergetreten. Der Gemeinderat war nicht mehr beschlussfähig. Einer der Ratsherren hatte sich im oberen Stockwerk versteckt, ein anderer im Turm, zwei weitere waren aus dem Fenster des Ratssaales gesprungen, wobei sich einer von ihnen beide Beine brach. Am nächsten Tag wurde Gottschalk „wegen Aufreizung zum Aufruhr“ und „Stiftung einer verbotenen Verbindung“ verhaftet.
Die revolutionäre Bewegung hatte inzwischen ganz Deutschland erfasst. In Wien wurde Fürst Metternich gestürzt, in Berlin zwangen Barrikadenkämpfer das Militär in die Defensive; Friedrich Wilhelm IV. (Regentschaft 1840-1858) gab zum Schein nach und versprach Reformen. In Solingen und Elberfeld (heute Stadt Wuppertal) wurden Fabriken angegriffen, in Köln demonstrierten am 20. März mehr als 10.000 Menschen für Freiheit und Bürgerrechte.
Bald darauf war Gottschalk, inzwischen wieder auf freiem Fuß, maßgeblich an der Gründung des Kölner Arbeitervereins beteiligt und wurde ihr Präsident. Der Verein war nach wenigen Wochen mit über 8.000 Mitgliedern einer der größten seiner Art in Deutschland. Er verfasste konkrete Gesuche: Die Minister des Inneren und der Justiz sollten die Arbeit der Vergolder, Sattler, Schuhmacher, Nagelschmiede und Weber vor der Konkurrenz billiger Häftlingsarbeit schützen. Außerdem sollten Gewerbe- und Schiedsgerichte eingesetzt werden, mit Meistern und Arbeitgebern auf der einen und Gesellen und Arbeitern auf der Gegenseite.
Protestantische Fabrikherren gerieten schnell in Konflikt mit Gottschalk, der das preußische Gottesgnadentum ablehnte und die Republik forderte. Presbyter – meist Kaufleute, Beamte, Juristen, Ärzte – polemisierten heftig gegen den Mitchristen. Auf den Vorwurf, er sei Materialist und nehme den Armen „den Trost der Hoffnung auf ein besseres Leben“ im Himmel, erwiderte, er sei stets bereit gewesen, „jedem den Trost der Religion zu bieten, dem meine Kunst keine zu bieten hatte“. Aber Jesus sei der Heiland der Arbeiter, „weil er nicht für die Reichen, sondern für das arme Volk stand, lebte und litt; weil er die Geldwechsler aus dem Tempel peitschte, weil er den Schriftgelehrten, Pharisäern und stolzen Priestern entgegentrat, die die Lasten des armen Volkes nur vermehren helfen, die sie selbst nicht einmal mit dem Finger anrühren – weil er endlich den Armen, den Zöllnern und Sündern, den Fischern und Knechten, nicht aber den Reichen, den Müßiggängern und Schwelgern die Gnade und Erlösung bringen wollte“.
Arbeiter äußerten sich ähnlich wie Gottschalk. Ein Fassbinder rief in der Generalversammlung des Arbeitervereins unter Beifall, eine zukünftige demokratische Regierung solle „auf den Grundsätzen der Achtung des Nebenmenschen, der Liebe und der Religion“ basieren. Im Juni 1848 gehörte Gottschalk zu den Mitbegründern des „Centralmärzvereins“, der demokratische Vereine auf nationaler Ebene zusammenschloss.
Im Juli wurde er verhaftet, Ende Oktober begann der Prozess. Er und zwei Mitangeklagte wurden beschuldigt, „durch Reden in öffentlichen Versammlungen so wie durch Druckschriften ihre Mitbürger zur gewaltsamen Änderung der Staatsverfassung, zur bewaffneten Auflehnung gegen die Königl. Macht und zur Bewaffnung eines Theiles der Bürger gegen den Andern geradezu angereizt zu haben, ohne daß jedoch diese Anreizungen einen Erfolg gehabt haben“. Die Todesstrafe drohte jetzt nicht mehr – „nur“ Verbannung. Nun mussten die Geschworenen entscheiden. Am 21. Dezember strömten die Zuhörer herbei. Gottschalk griff den Ankläger frontal an: „Der Staatsanwaltschaft ist ,Republik’ und ,gewaltsamer Umsturz der Verfassung’ ein und dasselbe. So etwas verzeiht man wohl einem Schulknaben oder einem Leitartikel der Kölnischen Zeitung - aber einem Staatsanwalt?“ Die darauf folgende Rüge des Gerichtspräsidenten wies er zurück: „Sie haben keinerlei Zensur gegen den zu üben, welcher die eigene Freiheit und Ehre verteidigt [...] Ich hätte noch vieles zu meiner Ehrenrettung, zu meiner Verteidigung zu sagen. Es lohnt nicht, ein weiteres Wort zu verlieren.“ Am 23.12.1848 lautete das überraschende Urteil der Geschworenen „Nicht schuldig“!
Gottschalk reiste nach Brüssel und Paris und kehrte mit neuer Hoffnung zurück. Er polemisierte gegen Kölns Oberbürgermeister Johann Adolph Joseph Steinberger (1777-1866, Oberbürgermeister 1823-1848), der sich gerade selbst mit einer exorbitanten Pension versorgt hatte: „Haben Sie denn auch bedacht, daß jeder Pfennig, den Sie einstecken, von des Volkes Schweiß herrührt, von seinem Blute erhoben, mit seiner Gesundheit, seinem Leben bezahlt wird?“ Er wandte sich zugleich gegen Marx, der, aus dem Exil zurückgekehrt, vorübergehend dem Arbeiterverein präsidierte. Einen „gelehrten Sonnengott“ nannte Gottschalk ihn und schimpfte: „Das Elend des Arbeiters, der Hunger des Armen hat für Sie nur wissenschaftliches, doktrinäres Interesse.“
Er erwog zu habilitieren, praktizierte dann aber doch weiter in Köln. Während einer Cholera-Epidemie im Sommer 1849 half er unermüdlich den besonders getroffenen Armen und fiel am 8. September selbst der Seuche zum Opfer. Aus der Sicht der Zeitung des Arbeitervereins war hier ein Mann gestorben, „der beim schlichten Proletarier den Namen Freund erworben, / Der den armen Kranken heilte durch sein tief ergründet Wissen, / Der die Medizin ihm zahlte, der sich selbst den Schlaf entrissen, / Der der Freiheit leuchtend Banner muthig uns voran getragen, / Den zum Lohne man in Kerker und in Banden hat geschlagen, / Der trotz Unbill und trotz Undank nimmermehr vom Recht gewichen.“ Als der Pfarrer sich verweigerte, sprach sein Freund Heinrich Hölscher am Grab vor mehreren tausend Menschen.
Erst lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Gottschalk gewürdigt, eine Kölner Straße nach ihm benannt, sein Grabstein auf dem Friedhof Melaten wieder entdeckt und restauriert. Im Kölner Stadtmuseum hängt ein beeindruckendes Ölbild, das Wilhelm Kleinenbroich posthum 1849 auf Veranlassung seines Freundes Heinrich Hölscher von Gottschalk schuf, doch er hätte gewiss ein Denkmal verdient, vor allem: größere Aufmerksamkeit.
Schriften
Meine Rede vor dem Geschworenengericht zu Köln am 23. Dezember 1848. Bonn 1849.
Zahlreiche Beiträge von Andreas Gottschalk sind veröffentlicht in: Freiheit, Brüderlichkeit, Arbeit. Organ des Arbeitervereins zu Köln, 1848. Nachdruck hg. von Dieter Dowe, Berlin/Bonn 1980.
Literatur
Dressler, Helmut, Ärzte um Karl Marx. Volk und Gesundheit, Berlin 1970, S. 73-84.
Heitmann, Alexis, Arbeiter an Rhein und Elbe. Vergleich zweier Zentren der frühen deutschen Arbeiterbewegung, Hamburg und Köln 1845-50, München 2009.
Herzig, Arno. Andreas Gottschalk und der Kölner Arbeiterverein, in: Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959-1984, Köln 1984, S. 177-182.
Schmidt, Klaus, Andreas Gottschalk. Armenarzt und Pionier der Arbeiterbewegung. Jude und Protestant, Köln 2002.
Schmidt, Klaus, Glaube, Macht und Freiheitskämpfe. 500 Jahre Protestanten im Rheinland, Köln 2007, S. 100-105.
Stier, Hans, Der Kölner Arbeiterverein (1848-1849). Ein Beitrag zur Frühgeschichte des rheinischen Sozialismus, Köln 1921.
Stommel, Karl, Der Armenarzt Dr. Andreas Gottschalk, der erste Kölner Arbeiterführer 1848, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 166 (1964), S. 55-105.
Online
Museenköln, Bild der Woche: Andreas Gottschalk. [Online]
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Schmidt, Klaus, Andreas Gottschalk, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/andreas-gottschalk/DE-2086/lido/57c6d53053c6a5.21468786 (abgerufen am 06.11.2024)