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Der Kölner Historiker Andreas Hillgruber zählt zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Hauptforschungsgebiet war die Außenpolitik des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1945 mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. In methodischer Hinsicht war Hillgruber ein Vertreter der modernen Politikgeschichte, mit der er sich bewusst von einer sozialwissenschaftlich fundierten Gesellschaftsgeschichte einerseits und einer politischen Geschichte nationalliberaler Herkunft aus dem 19. Jahrhundert andererseits abgrenzte. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Hillgruber bekannt, weil er im ‚Historikerstreit‘ der 1980er Jahre zu den vier vom Philosophen Jürgen Habermas (geb. 1929) angegriffenen Historikern zählte.
Andreas Fritz Hillgruber wurde am 28.1.1925 im damals ostpreußischen Angerburg geboren. Sein Vater war der Gymnasiallehrer Andreas Hillgruber (1882-1946), seine Mutter Irmgard Hillgruber, geb. Schilling (1891-1943). Am 3.3.1943 legte Hillgruber das Abitur an der Königsberger Hufenschule ab und wurde dann zur Wehrmacht eingezogen. Als Unteroffizier geriet er im Ruhrgebiet am 16.4.1945 in amerikanische, dann französische Kriegsgefangenschaft. Zwischen 1948 und 1952 studierte er an der Georg-August-Universität in Göttingen Geschichte, Germanistik und Pädagogik. 1952 wurde er mit einer von Percy Ernst Schramm (1894-1970) betreuten Arbeit über die deutsch-rumänischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg in Göttingen promoviert. 1954 trat er in den hessischen Schuldienst ein, zunächst als Studienrat in Darmstadt, ab 1962 als Studiendirektor der Marburger Elisabeth-Schule.
Schon unmittelbar vor und während seiner Tätigkeit im Schuldienst forschte Hillgruber weiter in der Geschichtswissenschaft. So war er unter der Leitung von Werner Markert (1905-1965) in der Redaktion des Osteuropa-Handbuches tätig sowie am Mainzer Institut für Europäische Geschichte. Ab 1959 edierte er gemeinsam mit Percy Ernst Schramm das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht und lehrte an den Universitäten Heidelberg und Marburg. Zugleich arbeitete er an seiner Habilitationsschrift. Ein zunächst geplantes Projekt über „Das Problem der Koalitionskriegführung von 1790 bis 1918“ ließ er fallen und konzentrierte sich nun auf ein Werk, das unter dem Titel „Das entscheidende Jahr des zweiten Weltkrieges. Hitlers Politik und Kriegsführung von Juni 1940 bis Juni 1941 vor dem Hintergrund der weltpolitischen Konstellation dieser Zeit“ am 16.6.1965 als Habilitationsschrift an der Universität Marburg angenommen wurde. Zu den Gutachtern in diesem Verfahren zählten unter anderen auch Ernst Nolte (1923-2016) und Wolfgang Abendroth (1906-1985).
Nach zwei Jahren als Dozent in Marburg wurde Hillgruber im August 1968 auf einen neu eingerichteten Lehrstuhl an der Universität Freiburg im Breisgau berufen. Diese Stelle war verbunden mit der wissenschaftlichen Leitung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr (MGFA), das nach seiner Gründung zu Beginn der 1950er Jahre neu ausgerichtet werden sollte. Hauptziel war eine wissenschaftlich fundierte Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Hierbei handelte es sich nicht nur um ein wissenschaftliches Projekt, sondern auch um ein politisches Unternehmen. Bereits in der Mitte der 1960er Jahre hatten marxistisch-leninistisch orientierte Historiker in der DDR begonnen, ein mehrbändiges Werk über die Geschichte Deutschlands im Zweiten Weltkrieg vorzubereiten. Im Bundesverteidigungsministerium drängte man daher darauf, dem DDR-Werk eine große Darstellung aus westlicher Perspektive entgegenzusetzen. Hillgruber befürwortete ein westdeutsches Werk über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus wissenschaftlichen und politischen Motiven, musste aber schnell feststellen, dass die Strukturen des MGFA für ein solches Werk nicht geeignet waren. Da die politisch Verantwortlichen ihm die gewünschten Stellen und die Neustrukturierung des Instituts verweigerten, zog er sich im Juni 1969 vom Amt des leitenden Historikers auf seinen Lehrstuhl in Freiburg zurück. 1972 nahm Hillgruber einen Ruf an die Universität zu Köln an, wo er bis zu seinem Lebensende als Lehrstuhlinhaber lehrte. Er betreute in dieser Zeit 55 Doktoranden und vier Habilitanden. Er starb am 8.5.1989 nach langer schwerer Krankheit in Köln und wurde auf dem Friedhof Melaten beigesetzt.
Mit seiner Habilitationsschrift, die unter dem Titel „Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940-1941“ bereits 1965 publiziert worden war, hatte sich Hillgruber als einer der führenden Experten für die politische Geschichte des Zweiten Weltkrieges etabliert. Er analysierte die Politik und Kriegführung Adolf Hitlers (1889-1945) vor dem Hintergrund der weltweiten Mächtebeziehungen im Zweiten Weltkrieg. Zwei Kernargumente arbeitete Hillgruber in den folgenden Jahren heraus, die bis heute den Forschungsstand prägen: Zum einen konnte er zeigen, dass Hitler kein prinzipienloser Opportunist war, der jede Möglichkeit zur Machterweiterung skrupellos nutzte, wie die ältere Forschung behauptet hatte. Aufbauend auf seiner Habilitationsschrift argumentierte er, dass Hitler einem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entwickelten außenpolitischen Programm folge. Später entwickelte er hieraus gemeinsam mit seinen Schülern den Begriff des Stufenplanes. Die Expansion des Deutschen Reiches folgte demnach einer von Hitler entworfenen Weltkriegsstrategie und sollte nicht mit der Eroberung des europäischen Teils der Sowjetunion enden (erste Stufe). Eine zweite Stufe sah den Erwerb eines kolonialen Ergänzungsraumes in Afrika vor, der einerseits die wirtschaftliche Grundlage, andererseits mit Flotten- und Luftwaffenstützpunkten an den Küsten Afrikas die strategische Basis für die dritte Stufe bilden sollte: Einen Krieg gegen die USA, den Hitler allerdings erst für die Zeit nach seinem Tod erwartete. Zum anderen wies Hillgruber erstmals auf den engen Zusammenhang zwischen der deutschen Kriegführung in Osteuropa und dem Völkermord an den europäischen Juden hin. Der Völkermord war aus seiner Perspektive integraler Bestandteil der deutschen Kriegführung im Zweiten Weltkrieg. Der Feldzug gegen die Sowjetunion sei von Beginn an als rassenideologischer Vernichtungskrieg geplant und durchgeführt worden. Hillgruber prägte mit diesem Begriff den bis heute gültigen Forschungsstand. Das implizierte die Verstrickung der Wehrmacht in den Völkermord. Diese Position war in den 1960er und 1970er Jahren insofern ungewöhnlich, als bis in die 1990er Jahre in der deutschen Öffentlichkeit das Bild von der ‚sauberen Wehrmacht‘ dominierte. Diese, so der Mythos, habe mit dem nationalsozialistischen Völkermord nichts zu tun gehabt. Hillgruber wies als einer der ersten Historiker bereits in den 1960er Jahren darauf hin, dass der Völkermord an den europäischen Juden und die Kriegführung der Wehrmacht in der Sowjetunion untrennbar miteinander verflochten waren.
Für Hillgruber stand fest, dass Adolf Hitler die für die Außen- und Kriegspolitik des Deutschen Reiches zwischen 1933 und 1945 entscheidende Persönlichkeit war. Dies stand zeitgenössisch im Gegensatz zu Ansätzen, welche die Politik des Nationalsozialismus aus überpersonalen Strukturen heraus erklären wollten. Als Politische Geschichte in moderner Sicht bezeichnete Hillgruber seinen Ansatz, den er dem von Hans-Ulrich Wehler (1931-2014) und anderen propagierten Ansatz der ‚Gesellschaftsgeschichte‘ entgegenstellte. Politische Geschichte, so Hillgruber, rücke den Moment der Entscheidung von Individuen in den Mittelpunkt der Analyse. Das bedeute nicht, dass gesellschaftliche, ökonomische oder geistige Strukturen und Prozesse keine Rolle spielten. Gleichwohl bewertete er die zeitgenössisch intensiv diskutierte und dominierende ‚Historische Sozialwissenschaft‘ kritisch als Indienstnahme der Geschichte durch sozialutopische Ideologien. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr Hillgruber seine Arbeit als Historiker in Konkurrenz zur marxistischen Geschichtsschreibung – sei es der marxistisch-leninistischen Variante der DDR oder der neo-marxistischen der Frankfurter Schule – sah. Damit wurde Hillgruber zum Exponenten einer zeitgenössisch als liberal-konservativ wahrgenommenen Geschichtswissenschaft.

Andreas Hillgruber in späteren Jahren, Porträtfoto, undatiert. (www.grevenarchivdigital.de | Kölnische Rundschau)
Im ‚Historikerstreit' in der Mitte der 1980er Jahre wurde Hillgruber – neben anderen Historikern – von Jürgen Habermas die Rechtfertigung des Nationalsozialismus vorgeworfen. Anlass war ein Buch mit dem Titel „Zweierlei Untergang: Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums“, in dem zwei Aufsätze Hillgrubers publiziert wurden. Einer davon griff seine These auf, dass es einen engen Zusammenhang zwischen nationalsozialistischem Völkermord und dem Krieg gegen die Sowjetunion gegeben hatte. Der andere Aufsatz behandelte ein für Hillgruber neues Thema: die Situation Ostpreußens im Winter 1944/45 und die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus diesem Gebiet. In diesem Aufsatz ging Hillgruber, der bis dahin Wert auf analytische Klarheit gelegt hatte, auch methodisch neue Wege. Er meinte, dass er sich als Historiker mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten und mit den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich identifizieren müsse. Damit flossen methodisch problematische, wenngleich aus seiner Biographie heraus verständliche moralische Kategorien in die Analyse historischer Vorgänge ein, die Hillgruber bis zu diesem Zeitpunkt nicht herangezogen hatte. Er verteidigte sich, indem er Jürgen Habermas eine bewusst verzerrende Zitierweise und damit einen massiven Verstoß gegen die Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit nachwies. Sein Beitrag erschien allerdings in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift und wurde daher in der breiten Öffentlichkeit kaum rezipiert. Ein Tiefpunkt der durchaus polemischen Debatte war erreicht, als der Herausgeber der Wochenzeitschrift „Der Spiegel“, Rudolf Augstein (1923-2002), Hillgruber als konstitutionellen Nazi beschimpfte. Augstein verließ damit einerseits die Ebene der Sachlichkeit und offenbarte andererseits, sich, wie viele der Kritiker Hillgrubers in dieser Zeit, offenbar nicht mit dem Lebenswerk des Kölner Historikers auseinandergesetzt zu haben. Hillgruber hatte entgegen der Verleumdungen den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus immer in besonderer Weise betont.
Das Bild Hillgrubers wird bis heute stark von diesen Angriffen im Historikerstreit der 1980er Jahre geprägt. Das führt dazu, dass die bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen des Kölner Historikers für die Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges nicht angemessen wahrgenommen werden. Es ist daher Zeit für eine Historisierung des Lebens und Werkes von Andreas Hillgruber, die seine Arbeiten in die geistigen und politischen Strukturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einbettet.
Schriften (Auswahl)
Hitler, König Carol und Marschall Antonescu. Die deutsch-rumänischen Beziehungen, 1938–1944, Wiesbaden 1954.
Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung, 1940–1941, München 1965.
Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen 1967.
Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Düsseldorf 1969.
Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972. „Die Endlösung“ und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 133–153.
Politische Geschichte in moderner Sicht, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), S. 529−552.
Deutsche Geschichte, 1945–1972. Die „Deutsche Frage“ in der Weltpolitik, Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1974.
Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1977.
Otto von Bismarck. Gründer der europäischen Großmacht Deutsches Reich, Zürich/Frankfurt am Main 1978.
Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit, München 1979.
Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches, 1871–1945, Düsseldorf 1980.
Der Zweite Weltkrieg, 1939–1945. Kriegsziele und Strategie der großen Mächte, Stuttgart 1982.
Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986.
Jürgen Habermas, Karl-Heinz Janßen und die Aufklärung Anno 1986, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37 (1986), S. 725−738.
Die Zerstörung Europas. Beiträge zur Weltkriegsepoche 1914 bis 1945, Frankfurt am Main/Berlin 1989.
Literatur
Dülffer, Jost, Andreas Hillgruber – Politische Geschichte, deutsche Frage und NS-Verbrechen, in: Derix, Simone/Soénius, Ulrich S./Thiemeyer, Guido (Hg.), Frieden und Menschenrechte. Studien zur Internationalen Geschichte, Wien/Köln 2023, S. 287−306.
Friedrich, Klaus-Peter, Der junge Andreas Hillgruber und die Last der (aller)jüngsten deutschen Vergangenheit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 67 (2019), S. 697−719.
Jäckel, Eberhard, Vom Kampf des Urteils gegen das Vorurteil. Andreas Hillgruber zu Ehren, in: Dülffer, Jost/Martin, Bernd/Wollstein, Günter (Hg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Frankfurt am Main/Berlin 1990, S. 11−17.
Pommerin, Reiner, Der erste Leitende Historiker des MGFA. Zur Erinnerung an Andreas Hillgruber. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 64,1 (2005), S. 210–216.
Wollstein, Günter, Andreas Hillgruber. Historiker der Großmacht Deutsches Reich, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 49 (1989), S. 9−19.

Buchcover: Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, 1986 Berlin. (Siedler-Verlag)
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Thiemeyer, Guido, Andreas Hillgruber, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/andreas-hillgruber-/DE-2086/lido/67fe13ee12c900.15538838 (abgerufen am 14.05.2025)
Veröffentlicht am 17.04.2024, zuletzt geändert am 17.04.2025