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Barthold Georg Niebuhr war ein renommierter Altertumsforscher und gilt als Begründer der modernen Geschichtswissenschaft. Nachdem er sich als Finanzfachmann und im diplomatischen Dienst hohe Reputation erworben hatte, lehrte er seit 1825 an der Universität Bonn.
Barthold Georg Niebuhr wurde am 27.8.1776 in Kopenhagen geboren. Sein Vater Carsten Niebuhr (1733-1815), ein berühmter deutscher Mathematiker, Kartograph und Orientreisender im Dienst des dänischen Königs, zog bald darauf mit seiner Familie nach Meldorf, in die Hauptstadt von Süderdithmarschen (das damals staatsrechtlich zu Dänemark gehörte), wo er eine Versorgungsstelle als Beamter erhalten hatte. Die Begabung des Sohnes zeigte sich bald; schon als Kind und Jugendlicher lernte er - mit seinem Vater, bei Privatlehrern und autodidaktisch - zahlreiche alte und moderne Sprachen. 1794 begann er, in Kiel Jura, Naturwissenschaften, Philosophie und Geschichte zu studieren. Zwei Jahre später verließ er die Universität und wurde Privatsekretär des dänischen Finanzministers Ernst Heinrich Graf von Schimmelmann (1747-1831).
Nach verschiedenen Tätigkeiten in Kopenhagen und einer Studienreise nach Großbritannien trat er 1800 in den dänischen Staatsdienst ein und heiratete Amalie Behrens, die Tochter des Landvogts von Norderdithmarschen. Neben seiner Karriere in der dänischen Finanzverwaltung, bei der er sich den Ruf eines Wirtschaftsexperten erwarb, widmete er sich schon damals historischen Studien über die römischen Staatsländereien und Ackergesetze.
1806 gewann ihn der Freiherr vom Stein (1757-1831) für die Preußische Finanzverwaltung; er wurde Direktor der Preußischen Bank und Seehandlung. Die Berufung des Freiherrn Karl August von Hardenberg (1750-1822) zum preußischen Staatskanzler (1810) und zunehmende Schwierigkeiten bei der Durchsetzung seiner Vorstellungen veranlassten ihn jedoch, seinen Abschied zu nehmen.
Kurz zuvor war er in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden und hielt nun seit dem Wintersemester 1810/1811 an der gerade gegründeten Berliner Universität viel beachtete Vorlesungen über Römische Geschichte (tatsächlich behandelte er nur die Frühgeschichte), deren erste er sofort veröffentlichte; später erwuchs daraus sein althistorisches Hauptwerk, die ‚Römische Geschichte’. Die Befreiungskriege, in denen er publizistisch die Sache Preußens vertrat, beendeten dieses Engagement. 1816 heiratete er, mittlerweile verwitwet, Margarethe Lucie Hensler und trat als Preußischer Gesandter beim Vatikan in den diplomatischen Dienst ein. Bis 1823 arbeitete er, allseits geschätzt, als „Fürsprecher aller Deutschen und Protestanten in Rom" beim Heiligen Stuhl, wo ihm schließlich ein wichtiges (erst 1929 durch ein neues Konkordat ersetztes) Abkommen über die Reorganisation der katholischen Kirche in Preußen gelang.
Nach kurzem Aufenthalt in Bonn folgte er dann zunächst dem Drängen des Kronprinzen und späteren preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (Regierungszeit 1840-1857), nach Berlin zurückzukehren, wo er jetzt dem Staatsrat angehörte. Als er dort jedoch keine angemessene Tätigkeit für sich sah, erhielt er die ministerielle Zustimmung zu einer Wiederaufnahme seiner akademischen Tätigkeit an der 1818 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dort hielt er ab dem Sommersemester 1825 und bis zu seinem Tode, mittlerweile ein trotz kritischer Stimmen in der Fachwelt gefeierter Historiker und Altphilologe, Vorlesungen über die antike, vornehmlich römische Geschichte und überarbeitete seine „Römische Geschichte".
In politischer Hinsicht stand Niebuhr einerseits als Anhänger der so genannten Bauernbefreiung für soziale Reformen, blieb aber andererseits dem Leitbild einer aufgeklärten Monarchie verhaftet und dem Liberalismus des Vormärz gegenüber skeptisch. Deshalb wird diese Seite seines Wirkens heute oft gegenüber seiner wissenschaftlichen Leistung abgewertet. Hier gilt er als Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, besonders der historisch-philologischen Methode, und seine ‚Römische Geschichte’ war lange Zeit ein Klassiker. Diese Trennung zwischen dem Politiker und dem Historiker ist jedoch nicht unproblematisch. Die Zeitgenossen bewunderten vor allem den Finanzexperten, Diplomaten und Staatsmann, dessen Erfahrungen seine Forschung mitbestimmten. Der Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt (1767-1835) urteilte: „Niebuhr spielt unter den Gelehrten den Staatsmann, und unter den Staatsmännern den Gelehrten". Tatsächlich ist der beste Teil seiner ‚Römischen Geschichte’, die Behandlung der Agrargeschichte des frühen Roms, nicht von seinen praktischen Erfahrungen mit Bauernstand und Bauernrechten in Diethmarschen, von seinen Eindrücken aus England, von bedrohlichen Berichten über die Französische Revolution und von seiner Sicht der Preußischen Reformen zu trennen. Es ist diese seltene Verbindung, die das Eigentümliche der Leistung Niebuhrs und seiner Wirkung ausmacht.
Niebuhrs wissenschaftliches Verdienst bestand generell darin, dass er die Phase der Rezeption der Antike, in der diese in Europa noch - weitgehend distanzlos - als Teil des eigenen Lebenszusammenhangs gesehen wurde, beendete und sie in regelrechte historische Forschung überführte. Bezeichnenderweise ging der entscheidende Impuls jedoch gerade von einer historischen Aktualisierung der römischen Geschichte aus. Schon in seinen privaten Aufzeichnungen ‚Über die römischen Staatsländereien’ (1803-1806) führte er den Nachweis, dass es ein römisches Ackergesetz (lex agraria), mit einer Neuordnung des Grundeigentums, wie es den französischen Vorkämpfern einer entsprechenden loi agraire als vermeintlich historisches Vorbild diente, niemals gegeben hat. In den Ackergesetzen der römischen Republik ging es nicht um Eigentumsfragen, sondern um Besitzrechte am Staatsland. Endgültig befestigen konnte Niebuhr dies erst in Berlin mit Hilfe des berühmten Berliner Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny (1779-1861), der Hörer seiner ersten Vorlesung war.
Als bahnbrechend erwies sich seine systematische Anwendung einer philologisch-historischen Quellenkritik (auch wenn die Ergebnisse heute meist überholt sind) und sein Bemühen, geschichtliche Entwicklung im Zusammenhang zu erfassen. Hierzu gehörte die Rekonstruktion des Vergangenen mit Hilfe von Analogien und Vergegenwärtigungen, die Prüfung der Geschichtswissenschaft „an der Logik der Tatsachen". Dieses „aprioristische Moment, dies Erkennen des Gewesenen aus dem Gewordenen" beeinflusste auch Theodor Mommsen (1817-1903) nachhaltig, der Niebuhrs Resultate teils weiterentwickelte, teils revidierte und sein Werk in den Hintergrund treten ließ. Erwähnenswert ist auch Niebuhrs Einsatz für neue Zeitschriften (‚Rheinisches Museum’) und ehrgeizige Editionsprojekte, so das Corpus der griechischen Inschriften (CIG) und besonders das so genannte Bonner Corpus der Byzantinischen Historiker.
An der Bonner Universität war Niebuhr wie zuvor in Berlin weder Professor noch Mitglied einer Fakultät und deshalb auch ohne Rechte und Pflichten. Der berühmte Außenseiter hatte aber wichtige Verbindungen, bei deren Einsatz er jedoch nicht immer glücklich agierte, zumal er sich auch als Vertreter der preußischen Kulturpolitik im Rheinland sah. Vorlesungen in Alter Geschichte waren in Bonn bislang von dem Pädagogen Karl Dietrich Hüllmann und von dem berühmten Literaten und Philologen August Wilhelm von Schlegel gehalten worden, nun kam mit Niebuhr erstmals ein ‚echter’ Historiker dazu und hatte großen Erfolg.
Niebuhr setzte sich häufig für begabte Studenten und junge Wissenschaftler ein, hielt aber zu den meisten Professoren Distanz. Mit Schlegel vertrug er sich überhaupt nicht. Insgesamt fühlte er sich in Bonn aber wohl. Zunächst wohnte er in der Bonngasse, ab Mai 1829 dann in einem eigenen Haus („Am Kölntor 4" an der heutigen Kölnstraße), das im Februar 1830 niederbrannte; der Großteil seiner Manuskripte konnte jedoch gerettet werden.
Wenige Monate später versetzte ihn die Pariser Juli-Revolution in tiefe Unruhe: er sah den Untergang der gesellschaftlichen Ordnung kommen. Generell von erregbarem Temperament - schon früher hatte man von der „Irascibilität eines Bücherwurms" gesprochen - und von prekärer Gesundheit, zog er sich im Dezember 1830 bei seinem täglichen Gang zur Bonner Lesegesellschaft eine Lungenentzündung zu, die am 2.1.1831 zu seinem Tod führte. Neun Tage nach ihm starb auch seine Frau, mit der er vier Kinder gehabt hatte. Beider Grabmal steht auf dem Alten Friedhof in Bonn. Es wurde vom preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dessen Lehrer Niebuhr zeitweilig gewesen war, gestiftet und von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) konzipiert. Die Marmorreliefs von Christian Daniel Rauch (1777-1857) zeigen einen Christuskopf und das antikisierende Brustbild des Ehepaares in römischem Gewand.
Werke (Auswahl)
Römische Geschichte, 3 Bände, Bonn 1811-1832.
Kleine historische und philologische Schriften, 2 Bände, Bonn 1828, 1843.
Geschichte des Zeitalters der Revolution, hg. Marcus von Niebuhr, 2 Bände, Hamburg 1845.
Historische und philologische Vorträge an der Universität zu Bonn, hg. Marcus von Niebuhr, 3 Bände, Berlin 1846-1848.
Vorträge über alte Geschichte, an der Universität zu Bonn gehalten, hg. Marcus von Niebuhr, 3 Bände, Berlin 1847-1851.
Vorträge über alte Länder- und Völkerkunde, an der Universität zu Bonn gehalten, hg. Meyer Isler, Berlin 1851.
Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs [bis 1816], hg. Dietrich Gerhard, William Norvin, 2 Bände, Berlin 1926-1929.
Briefe, Neue Folge. 1816–1830, hg. Eduard Vischer, 4 Bände, Bern, München 1981-1984.
Quellen
Hensler, Dora (Hg.), Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr, 3 Bände, Hamburg 1838-1839.
Literatur
Christ, Karl, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982, S. 35-43.
Hansen, Reimer, Die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung und der Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft; in: Hansen, Reimer/Ribbe, Wolfgang/Adams, Willi Paul (Hg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert: Persönlichkeiten und Institutionen, Berlin, New York 1992, S. 3-44.
Heuss, Alfred, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge, Göttingen 1981.
Reill, Peter Hans, Barthold Georg Niebuhr and the Enlightenment Tradition; in: German Studies Review 3 (1980), S. 9-26.
Rytkönen, Seppo, Barthold Georg Niebuhr als Politiker und Historiker, Helsinki 1968.
Straub, Johannes, Barthold Georg Niebuhr 1776-1831, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 49-78.
Vössing, Karl, Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) – Begründer der modernen Althistorie? in: Institut für Geschichtswissenschaft (Hg.), 150 Jahre Historisches Seminar. Profile der Bonner Geschichtswissenschaft. Erträge einer Ringvorlesung, Siegburg 2013, S. 51-66.
Walther, Gerrit, Niebuhrs Forschung, Stuttgart 1993.
Wirth, Gerhard (Hg.), Barthold Georg Niebuhr, Historiker und Staatsmann. Vorträge bei dem anläßlich seines 150. Todestages in Bonn veranstalteten Kolloquium (1981), Bonn 1984.
Witte, Barthold C., Der preußische Tacitus. Aufstieg, Ruhm und Ende des Historikers Barthold Georg Niebuhr, Düsseldorf 1979.
Online
Barthold Georg Niebuhr, Historiker/Altertumswissenschaftler. Ausgewählte Literaturnachweise aus dem Bestand der Bibliothek der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2002 (PDF-Dokument auf der Website der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften). [Online]
Kiuntke, Florian/Irsfeld, Christian, Barthold Georg Niebuhr, In: Klassiker der Geschichtswissenschaft, in: historicum.net. [Online]
Niebuhr, Barthold Georg, Kurzbeschreibung der Bestände der Nachlaßabteilung (Information des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften). [Online]
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Vössing, Konrad, Barthold Niebuhr, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/barthold-niebuhr/DE-2086/lido/57c954449fc979.65312680 (abgerufen am 06.12.2024)