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Bernhard Schweitzer gehörte zu den Gelehrten, die auf jedem Feld der Klassischen Archäologie vom 2. Jahrtausend v. Chr. bis zur Spätantike zu Hause waren. Er war ein herausragender Vertreter der Strukturforschung. In der Analyse der Strukturen suchte er objektive Kriterien für die Kunstwissenschaft, die nicht mehr von den Wahrnehmungskategorien der äußeren Erscheinung der Kunst abhingen. Leider setzte sich die Strukturforschung insgesamt nicht in einer allgemein anerkannten zusammenfassenden Kunstgeschichte durch. Die große Leistung seines Lebenswerkes war es, die Archäologie in ihrer Bedeutung für die Kunstgeschichte neu zu orientieren. Schweitzer stand immer auf festem Boden, gleich ob es sich um Architektur, die griechisch-römische Porträtforschung, Topographie, Malerei, Kleinkunst, Kunstgewerbe oder Kunstindustrie handelte. In allen diesen Bereichen trieb er die Forschung voran.
Aus einer evangelischen badischer Offiziersfamilie stammend, wurde Bernhard Schweitzer am 3.10.1892 als Sohn des Carl Georg Heinrich Schweitzer (gestorben 1918) und seiner Ehefrau Auguste Aneshänsel (gestorben 1894) in Wesel geboren. Der Vater war Hauptmann im Infanterieregiment „Vogel von Falckenstein“ (7. Westfälisches) Nr. 56. Von 1902 bis 1911 besuchte Schweitzer das humanistische Gymnasium in Karlsruhe. Nach dem Abitur 1911 studierte er bis 1914 in Heidelberg und Berlin Philosophie, Klassische Archäologie, Philologie, Geschichte und Kunstgeschichte. Das breit angelegte Studium war grundlegend für Schweitzers spätere weitgespannte Tätigkeit in verschiedenen Disziplinen sowie in der Altertumswissenschaft schlechthin. Früh entwickelte er eine Passion für die Fliegerei, die dazu führte, dass der Student bei Beginn des Ersten Weltkrieges nicht als Frontsoldat eingesetzt wurde, sondern als Fluglehrer und Testpilot. Daneben arbeitete er an seiner Dissertation.
Während des Studiums inspirierten Schweitzer unterschiedliche Gelehrte: In Berlin beieinflusste der Archäologe Georg Loeschke (1852-1915) seine Auffassungen über die Kunstgeschichte. Loeschke sah die Archäologie weniger als Kunstwissenschaft der Antike, sondern als Erforschung der gesamten materiellen Kultur des Altertums. In Heidelberg brachte der Philologe Hans Boll (1867-1924) Schweitzer das astronomische Weltbild der Griechen und Römer nahe. Ebenfalls in Heidelberg besuchte Schweitzer die Veranstaltungen über Keramik, Wandmalerei und Grabarchitektur von Rudolf Pagenstecher (1879-1921), der ihm ein väterlicher Freund und Berater wurde. 1917 promovierte Schweitzer in Heidelberg bei Friedrich von Duhn (1851-1930) mit einer Arbeit über die „Chronologie und Geschichte der geometrischen Stile Griechenlands“. Duhn war der erste deutsche Gelehrte, der Heinrich Schliemann (1822-1890) in Troia besucht und sich positiv über dessen Interpretation der Ausgrabung geäußert hatte.
Mit seiner Dissertation schuf Schweitzer ein weithin geschätztes Standardwerk. Er zog in wechselseitigen Bewertungen die Nachbardisziplinen heran, um zu wissenschaftlich gültigen Ergebnissen zu gelangen. Schon zu Beginn seiner Karriere zeichnete ihn der souveräne Umgang mit dem wissenschaftlichen Handwerkszeug aus. 1919 wurde Schweitzer Assistent am Archäologischen Institut in Heidelberg, 1921 erfolgte die Habilitation. Mit einem Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts ausgestattet, ging er 1921/1922 nach Griechenland. Dort wurde er von der sich in Deutschland ausbreitenden Inflation überrascht. Da nun sein Stipendium durch die Geldentwertung nicht mehr hinreichte, verdiente er sich zusätzliches Geld als Musiker und Sprachlehrer.
1925 folgte Schweitzer dem Ruf als Ordinarius für Klassische Archäologie als Nachfolger von Otto Rossbach (1858-1925) an die Universität Königsberg. Schweitzer widmete sich neben der Lehre erfolgreich dem Aufbau des Archäologischen Instituts und leistete in der Forschung weiterhin Bedeutendes. So griff er bereits 1922 mit seinem „Herakles“ grundsätzlich in eine zentrale Forschungsdiskussion zur Religionsgeschichte und Mythologie der Antike ein. Er befasste sich maßgeblich mit der Kunsthistoriographie und der Kunstkritik. Anhand der schriftlichen Überlieferung von Plinius d.Ä. (23/24-79 n. Chr.) versuchte Schweitzer, den nur bruchstückhaft nachgewiesenen Bildhauer Xenokrates aus Athen (3. Jhd. v. Chr.) fassbar zu machen. Und zwar ganz im Sinne des Plinius, der den Begriff „Altertum“ allein auf die Wirkungsqualitäten von Bildwerken bezog.
Hier trat Schweitzers Ansatz der Strukturanalyse deutlich hervor, indem er die Kunst in ein allgemeines Entwicklungsbild menschlicher Kultur hineinstellte. Damit hatte Schweitzer mit der Unterscheidung von Gestaltungs- und Wirkungsbegriffen rund 40 Jahre, bevor in den Literaturwissenschaften die „Rezeptionsästhetik“ aufkam, eine wichtige methodologische Anregung gegeben.
Schweitzer arbeitete in Königsberg erfolgreich mit einem aufgeschlossenen und profilierten Kollegium zusammen. Der Rheinländer entwickelte sich in Ostpreußen zu einem der anerkanntesten Vertreter seines Faches. So war es keine Sensation, dass er 1932 auf die Nachfolge von Franz Studniczka (1860-1929), einem Kenner der griechischen und römischen Kunst allerersten Ranges, nach Leipzig berufen wurde. Die ehrenvolle Berufung rechtfertigte Schweitzer in vielfacher Weise. Die Gipsabgusssammlung des Antikenmuseums der Universität Leipzig - eine der vollständigsten und bedeutendsten Sammlungen ihrer Art in Deutschland - führte er in der Tradition seines Vorgängers weiter. Er nutzte die von Studniczka eingerichtete Werkstatt zur Rekonstruktion der berühmten „Pasquino-Gruppe“, deren Original in Rom nahe der Piazza Navona die berühmteste der „Sprechenden Statuen“ Roms ist. Anhand eines Vergleichs mit der Figurengruppe in der Loggia dei Lanzi in Florenz konnten die Figuren als Menelaos und Patroklos bestimmt werden. Die bedeutende rundplastische Gruppe erhielt durch die Rekonstruktion Schweitzers ihr originales Aussehen weitgehend wieder. In Leipzig entfaltete Schweitzer alle seine Kräfte: als glänzender akademischer Lehrer wie als wissenschaftlicher Organisator.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 gingen die Zuwendungen in Form von Spenden und Stiftungen an die Universität spürbar zurück, was sich unmittelbar auf die Sammlung der Universität auswirkte. Schweitzer selbst hat sich jedoch weder öffentlich kritisch über den Nationalsozialismus geäußert, noch geriet er in einen ernsten Konflikt mit den neuen Machthabern. Vielmehr gehörte er zu den Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ vom November 1933. Wie viele seiner Kollegen demonstrierte er seine Haltung dem Regime gegenüber mit politischer Abstinenz. Er trat 1937 lediglich in die NS-Volkswohlfahrt ein, wurde aber nicht Mitglied der NSDAP, was ihn 1938 eine Berufung nach Heidelberg kostete. 1937-1945 fungierte Schweitzer als Herausgeber der Zeitschrift „Die Antike“. Durch den schweren britischen Bombenangriff vom 4.12.1943 wurde ein großer Teil der Universität Leipzig völlig zerstört. Zahlreiche Originale und Abgüsse der archäologischen Sammlung waren nicht rechtzeitig ausgelagert worden und wurden mit einem Teil der Bestandsdokumentation vernichtet. Auch Schweitzers wissenschaftlicher Apparat, sein Zettelkasten, verbrannte. Dies traf ihn überaus hart. Ein Freund berichtete ihm bei einem Wiedersehen nach dem Krieg vom Tod seiner Frau und seines Kindes sowie der Zerstörung seines Hauses. Schweitzer schüttelte ihm die Hand und entgegnete: „Ein jeder hat sein Kreuz zu tragen. Denken Sie nur, mir ist meine Kartei verbrannt“.[1]
Vier Wochen nach der Befreiung der Stadt durch amerikanische Truppen wurde Bernhard Schweitzer am 16.5.1945 zum ersten Nachkriegsrektor der Universität Leipzig gewählt. Die Genehmigung zur Rektorwahl hatte die amerikanische Besatzungsmacht am 1. Mai erteilt. Auf Vorschlag des Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900-2002) waren neben Schweitzer als Kandidaten noch der Düsseldorfer Philosoph Theodor Litt (1880-1962) und der Theologe Albrecht Alt (1883-1956) im Rennen gewesen. Letztere waren allerdings an der Übernahme des Amtes nicht interessiert. Die Überprüfung von Schweitzers politischer Vergangenheit fiel für die amerikanische und nach dem Wechsel am 1.7.1945 auch für die sowjetische Besatzungsmacht zufriedenstellend aus. Seine Amtszeit war kurz. Er erkannte die Aussichtslosigkeit, unter diesen besonderen Umständen wieder einen Lehrbetreib in Gang zu setzen. Intrigen und Behinderungen von allen Seiten taten ihre Wirkung, so dass Schweitzer sein Amt im Januar 1946 zur Verfügung stellte. Der große Zusammenhang von Wiederaufbau und politischer Säuberung war nicht Schweitzers Sache. Stattdessen wirkte er erfolgreich bei der Wiedereinrichtung des Archäologischen Seminars.
Aber das, was Schweitzer in seiner kurzen Zeit als Rektor hatte vermeiden wollen, nämlich den Einbruch in die Selbstverwaltung der Universität durch die politischen Machthaber, trat allmählich ein. Dies war unvereinbar mit Schweitzers wissenschaftlicher Integrität. Bester Beleg dafür war seine enge Freundschaft zu Sir John Beazley (1885-1970), dem bedeutendsten Gelehrten auf dem Gebiet der attischen Vasenmalerei. Beazley war seinerzeit bei der Erstellung seines Buches „Attische Vasenmaler des rotfigurigen Stils“, 1925 in Tübingen erschienen, von Schweitzer inspiriert worden. Das hatte Beazley in seinem Vorwort kundgetan. Die Gruppierung der Vasen nach Meistern in der knappen Form von Listen orientierte sich an Schweitzers strenger Methodik. Die erste Auflage des Buches in englischer Sprache erschien während des Krieges. Beazley hob ein Exemplar für seinen Freund auf und übergab es ihm nach dem Krieg. Schweitzers Exemplar wurde zur „Mutter aller Photokopien“, denn durch die Vervielfältigung dieses Standardwerkes konnte eine ganze Generation von deutschen Gelehrten nach dem Krieg wieder Anschluss an den internationalen Forschungsstand finden.
Als die Verhältnisse in Leipzig untragbar wurden, nahm Schweitzer 1948 schweren Herzens den Ruf der Universität Tübingen an und folgte Carl Watzinger (1877-1948) auf dessen archäologischen Lehrstuhl. In Tübingen griff Schweitzer das Thema seiner Dissertation noch einmal auf und arbeitete an einer zusammenfassenden Darstellung der geometrischen Kunst. Die Drucklegung dieses Werkes erlebte er nicht mehr. Bernhard Schweitzer starb am 16.7.1966, sechs Jahre nach seiner Emeritierung, in Tübingen. Die 1931 in Dresden mit Elisabeth Rudolph (1907-1991) geschlossene Ehe war kinderlos geblieben.
Schweitzer war Mitglied wissenschaftlicher Gesellschaften und Akademien: 1932-1945 der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, seit 1932 der Zentraldirektion des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig (ordentliches Mitglied 1934, seit 1948 korrespondierendes), der Deutschen Akdademie der Wissenschaften in Berlin (korrespondierendes Mitglied 1944), der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1960), der Akademie der Wissenschaften in Athen und Ehrenmitglied des Archaeolog. Institute of America (1961).
Werke
Das von Ulrich Hausmann und Hans Volkmar Hermann zusammengestellte Schriftenverzeichnis Schweitzers in: Hausmann, Ulrich (Hg,), Bernhard Schweitzer, Zur Kunst der Antike, Ausgewählte Schriften, 2 Bde. Tübingen 1963, S. 504-512, verzeichnet 158 Arbeiten (Monographien, Aufsätze, Rezensionen).
Herausgeberschaft
Die Antike, 1937-1945.
Festschrift
Lullies, Reinhard (Hg.), Neue Beiträge zur klassischen Altertumswissenschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard Schweitzer, Stuttgart 1954 [mit Schriftenverzeichnis].
Literatur
Ficker, Friedbert, Erinnerungen an Bernhard Schweitzer, in: Antike Welt 34 (2003), S. 100-101.
Fuchs, Werner, Bernhard Schweitzer, in: Lullies, Reinhard/Schiering, Wolfgang (Hg.), Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von Klassischen Archäologen deutscher Sprache, Mainz 1988, S. 258-259. Grimm, Günter, Rezeptionsgeschichte, Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie, München 1977.
Hausmann, Ulrich, Bernhard Schweitzer †, in: Gnomon 38 (1966), S. 844-847.
Lullies, Reinhard (Hg.), Neue Beiträge zur klassischen Altertumswissenschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard Schweitzer, Stuttgart 1954.
Welsh, Helga A., Entnazifizierung und Wiedereröffnung der Universität Leipzig 1945-1946. Ein Bericht des damaligen Rektors Professor Bernhard Schweitzer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 33(1985), S. 339-372.
Online
Philipp, Hanna; Scheibler, Ingeborg, „Schweitzer, Heinrich Eduard Stephan Bernhard Robert“, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 58-59
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Kirschbaum, Markus, Bernhard Schweitzer, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/bernhard-schweitzer/DE-2086/lido/637b7fe18efe25.65522712 (abgerufen am 14.11.2024)