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Das Rheinland erscheint in der Biographie des mit der Pariser, der Berliner und der Londoner Avantgarde vertrauten Kunsttheoretikers, Kunstkritikers und Autors Carl Einstein eher als Fußnote: Als er drei Jahre alt war, zog die Familie von Neuwied nach Karlsruhe, von wo er mit 19 Jahren nach Berlin ging und sich als Teil der künstlerischen und literarischen Bohème aus dem bürgerlichen Gesellschafts- und Wertesystem entfernte. In seinem Text „Kleine Autobiographie“ stellt Einstein jedoch den Rhein als den ersten Bezugspunkt seiner schriftstellerischen Biographie heraus. Landschaft und Region als konstruktive Elemente prägen sein Werk und zeichnen ihn als exilierten, aber nicht ortlosen Autor aus.
Am 26.4.1885 kam Carl Einstein als zweites Kind von Sophie, geborene Lichtenstein, und Daniel Einstein in Neuwied am Rhein zur Welt. Der Vater, Daniel Einstein, war Lehrer und aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde. 1888 ging die Familie nach Karlsruhe, wo Daniel Einstein ins israelitische Landesstift gewählt worden war. Wenngleich Carl Einstein hier räumlich zwei Männern nahe war, die wie er später zu wichtigen Impulsgebern der Moderne wurden, so war er dennoch in Karlsruhe weit entfernt von allem, was an neuer Literatur und Kunst zeitgleich entstand: Der 1870 in Karlsruhe geborene jüdische Anarchist und Gemeinschaftsdenker Gustav Landauer (1870-1919) und der Entdecker der Kubisten und wichtigste Galerist der modernen künstlerischen Bewegung in Paris, Daniel Henry Kahnweiler (1884-1979), hatten hier ebenfalls ihre Jugendjahre verbracht.
Schon 1899 starb der Vater, Notizen Einsteins legen nahe, dass es sich um Selbstmord handelte. Das Engagement für die jüdische Gemeinde, das in den Nachrufen auf den Vater hervorgehoben wird, spiegelt die feste Einbindung Einsteins in seine häusliche und geographische Umgebung.
Doch Carl Einstein eignete sich nicht zum artigen Sohn. Nach einem Ausflug in die halbseidene Unterwelt Straßburgs wurde er vom Abitur ausgeschlossen, ein weggeworfener Scheck führte zum Ende der Lehre im Karlsruher Bankhaus Veit L. Homburger. Kurzum, 1903 zog Carl Einstein nach Berlin, studierte einige Semester Philosophie, Kunstgeschichte, Geschichte und Altphilologie, hörte Vorlesungen von Georg Simmel (1858-1918) und Alois Riehl (1844-1924) und wurde mit der Bohème bekannt: „Damals schrieb ich Bebuquin: Blei druckte das in den Opalen und damit war man zwanzig und in der Literatur“, schließt Einstein seine „Kleine Autobiographie“.
Der Umzug nach Berlin wurde zum Auftakt für ein neues, anderes Leben. 1907 erschien in Franz Bleis Zeitschrift „Die Opale“ ein erster Auszug aus dem „Bebuquin“ und seit 1908 veröffentlichte Einstein regelmäßig im „Hyperion“, unter anderem „Verwandlungen, vier Legenden“ (1908) und „Der Snob“ (1909). Parallel hierzu reiste er nach Paris, schloss dort Bekanntschaft mit George Braque (1882-1963), Daniel Henry Kahnweiler, Pablo Picasso (1881-1973). In Berlin befreundete er sich mit Ludwig Rubiner (1881-1920) und Kurt Hiller (1885-1972), hier lernte er auch Carl Sternheim (1878-1942) kennen, den er während des Krieges in Brüssel wiedertraf. In Franz Pfemferts (1879-1954) Zeitschrift „Demokraten“ brachte Einstein 1910 erste kunstkritische Beiträge unter. 1913 heiratete Einstein Pfemferts Schwägerin Maria Ramm. 1915 wurde die gemeinsame Tochter geboren.
Ab 1912 veröffentlichte er regelmäßig in der Zeitschrift „Die Aktion“, im gleichen Jahr erschien auch „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“. Seit 1906 arbeitete Einstein an dem Text, der aufgrund seiner diskursiven Struktur sowie der Parallelisierung von Perspektiven gern als Versuch kubistischen Schreibens gelesen wird. Einsteins perspektivische Schreibweise, die auch seine Lyrik prägt, greift die Suche des modernen Menschen nach der Wirklichkeit auf: Das Wunder wäre die Rückführung des Subjekts in ein über die jeweilige Wahrnehmung hinausgehendes Gesamt, die Dilettanten als hoffnungsbegabte Sucher nehmen die Herausforderung auf, ohne ihr jemals gerecht werden zu können.
1914 änderte sich mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges alles, Carl Einstein meldete sich freiwillig, er verstand den Kriegsbeginn zunächst als Möglichkeit, Mitglied in einer neuen, von bestehenden Vorurteilen freien Gemeinschaft zu werden, wie sie auch Ernst Toller (1893-1939) wahrnahm (vgl. Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland, 1933). Parallel zu seinem Kriegsdienst schrieb und veröffentlichte Einstein weiter. So erschien 1915, während Einstein im Oberelsass stationiert war, seine kunsttheoretische Arbeit über die „Negerplastik“. Einsteins Ansatz, die Skulpturen und Werke afrikanischer Kunst, mit denen er unter anderem durch eine Ausstellung im British Museum in London vertraut war, unter ästhetischen Kriterien zu betrachten und nicht als ethnographische Dokumente, wurde begeistert aufgenommen. 1916 wurde Einstein an die Zivilverwaltung des Generalgouvernements nach Brüssel kommandiert. Auch hier suchte er den Kontakt zur Avantgarde, er ist Teil eines Kreises um Carl und Thea (1883-1971) Sternheim, Gottfried Benn (1886-1956) sowie den belgischen Dadaisten Clément Pensaers (1885-1922).
Der Krieg war 1916 längst zur intellektuellen und damit existentiellen Bedrohung geworden, aus der Einstein für sein Werk, aber auch für sein Engagement Konsequenzen zog. Im November 1918 wurde er Mitglied im Belgischen Soldatenrat, floh im Dezember nach Berlin und stand hier der KPD nahe. Seither wurde die Arbeit für eine herrschafts-, macht- und gewaltfreie Zukunft für Einstein zur realitätsbegleitenden Aufgabe, die sich auch in seinem kulturpolitischen und literarischen Werk niederschlug.
Gemeinsam mit Wieland Herzfelde (1896-1988) arbeitete Einstein in Berlin an der Zeitschrift „Pleite“, mit George Grosz (1893-1959) zusammen gab er die Nummern 3-6 von „Der blutige Ernst“ heraus. 1921 erschien „Die schlimme Botschaft“, eine Reflexion und ein Transfer der Passionsgeschichte in die Gegenwart. Die öffentliche Empörung über den Band führte zu einem Gotteslästerungsprozess, in dem Einstein trotz des Eintretens namhafter Künstler und Schriftsteller für eine Niederlegung der Anklage zu einer Geldstrafe von 10.000 Mark verurteilt wurde. Sein Verleger, Ernst Rowohlt (1887-1960), wurde zu 5.000 Mark Strafe verurteilt, die Auflage beschlagnahmt.
Carl Einstein war zu diesem Zeitpunkt international vernetzt, seine Werke „Bebuquin“ und „Die Negerplastik“ wurden neu aufgelegt und auch zum Rheinland pflegte er Kontakte: zum Beispiel zu dem Düsseldorfer Galeristen Alfred Flechtheim, an dessen Zeitschrift „Der Querschnitt“ Einstein seit 1922 mitarbeitete. Der 1925 gemeinsam mit Paul Westheim (1886-1963) herausgegebene „Europa-Almanach“ zeigt das Netzwerk moderner Künstler, Literaten, Musiker, usw., in dem Carl Einstein zu diesem Zeitpunkt agierte. Der Almanach ist aber auch Beleg einer kritischen Utopie, die Europa nicht als national geprägten und damit begrenzten Raum erfasst, sondern als intellektuelles Panoptikum aktueller Ansätze in den Künsten vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Raumerfahrung.
Diese Perspektive prägt auch die „Kleine Autobiographie“, die Einstein 1930 anlässlich einer Festschrift für Gustav Kiepenheuer (1880-1949) veröffentlichte und in der er seine schriftstellerische Initiation von seiner Kindheit am Rhein herleitet. Insofern ist der Text vielmehr eine literarische Reflektion seiner Ursprünge und in dieser Form ein literaturtheoretisches Dokument als eine historische Biographie. Entsprechend begann Einstein seinen biographischen Rückblick in Neuwied: „Diese Herrnhutische Stadt, worin ich geboren wurde, versandet noch heute den Rhein, reizlos und ärmlich.“ Der Ortswechsel nach Karlsruhe wird, in Anbetracht der fortdauernden Präsenz des Rheins weggelassen. Der kurze Text ist keine Abrechnung mit der heimatlichen Landschaft, wie es zunächst scheint – „Ich werde dieses ekelhafte Nest nie vergessen“ –, sondern als Genese einer literarischen Initiation am Rhein eine invertierte Liebeserklärung. So gestaltet Einstein die räumlichen Dimensionen seiner Kindheit klein und überschaubar: „Dort träumte man von Ausflügen nach Andernach und schaute nach dem Kirchturm von Leutesdorf.“ Andernach – Neuwied – Leutesdorf, der hier erträumte Radius an Welt umfasst kaum 15 Kilometer. Der erlesene Radius ist weitaus größer, er verbindet die französische und deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, mit Abenteuerromanen von Friedrich Gerstäcker (1816-1872) bis Karl May (1842-1912) wird die Dimension erweitert. Die Bewohner dieser Rheinlandschaft mit ihren absurden Marotten nehmen sich als vergebliche Sucher des Wunders aus: Vom „Physikprofessor, der aus Religiosität nicht an die Gravitation glaubte“, über den Griechischlehrer, „der im Dunst seiner bäuerlichen Pensionäre die Ursprachstämme suchte“, bis zum „Direktor im braunen Gehrock, der unter einem Riesenphoto Goethes unablässig Iphigenie neu dichtete“. Natürlich begegnet dem Schriftsteller in dieser absurden, dem Phantastischen nahen Kindheit „ein Messias“ und nachts trinkt er mit verstorbenen Verwandten. Schließlich ist es die Rheinlandschaft, der den Impuls zum literarischen Werk gibt: „Der Blick in die ermüdende Rheinebene war dermaßen verzweifelt, daß ich in diesem Faß zu schreiben begann.“
Die Auseinandersetzung mit Landschaft, Moderne und Poetik greift Einstein auch an anderer Stelle auf, so zum Beispiel im Gedicht „Entwurf einer Landschaft“ (1930). Am Ende steht der unwiederbringliche Verlust von Raum und Geschichte, oder, anders gesagt, von Heimat: „Vernebelst / Vergessen / Schicksalslos“. Die „Kleine Autobiographie“ Einsteins endet mit seiner Ankunft in Berlin. Doch zum Zeitpunkt ihrer Entstehung lebte er bereits in Paris. 1929 gründete er gemeinsam mit Georges Bataille (1897-1962) die „Documents – Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie“, 1931 erschien die dritte Auflage seiner „Kunst des XX. Jahrhunderts“.
Als 1936 in Spanien der Bürgerkrieg begann, zog er mit anderen französischen antifaschistischen Intellektuellen nach Barcelona und schloss sich der „Confederación National del Trabajo; Federación Anarquista Ibérica“ (CNT-FAI) an. Im Deutschen Informationsdienst des CNT erschien 1936 seine letzte größere Publikation, in der er die Ereignisse in Spanien reflektierte: „Die Kolonne Durruti“. Desillusioniert kehrte Einstein am Ende des Krieges 1939 nach Paris zurück. 1940 wurde er als deutscher Staatsangehöriger in Bordeau interniert, wenig später jedoch wieder frei gelassen. Am 7.7.1940 wurde sein Körper bei Boeil-Bézing aus der Gave de Pau gezogen.
1969 rief Sibylle Penkert mit ihrer Dissertation zu „Carl Einstein. Beiträge zu einer Monographie“ sowie weiteren Veröffentlichungen, unter anderem aus dem Nachlass Carl Einsteins im Archiv der Akademie der Wissenschaften in Berlin, den Schriftsteller und Kunstkritiker in Erinnerung. 1984 gründeten unter anderem Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre die Carl-Einstein-Gesellschaft/Société-Carl-Einstein, die seither regelmäßig internationale Tagungen zum Thema durchführt.
Im Zuge des spatial turns hat die Literaturwissenschaft den Raum literarischer Konzepte in den Blick genommen. Seit 13 Jahren erforscht das Institut „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität den Ertrag eines „Hin- und Herblicks“ (Gertrude Cepl-Kaufmann) zwischen Region und Landschaft, Großstadt und ,Provinz‘, Literatur und Kunst. Auch Carl Einsteins Werk wurde und wird in diesem Zusammenhang reflektiert. Die Anthologien der Reihe „Literatur in den Rheinlanden und in Westfalen – Literatur in Nordrhein-Westfalen. Texte aus hundert Jahren in vier Bänden“ greift ihn als Autor auf. Gertrude Cepl-Kaufmann und Andreas Kramer haben darüber hinaus seine literarischen und poetologischen Geographien untersucht, die sich ausgehend vom Rhein in einer geistig-poetischen Geographie verorten lassen. Einen Beleg für Einsteins kunst- und literaturgeographische Herangehensweise bieten die Gliederungsnotizen zu dem 1926 erstmals erschienen Band „Die Kunst des XX. Jahrhunderts“.
Werke
Die jüngste und umfassendste Werkausgabe ist die fünfbändige „Berliner Ausgabe“, hg. v. Hermann Haarmann u. Klaus Siebenhaar, Berlin 1992-1996.
Literatur
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.), Carl Einstein. Text + Kritik 95, München 1987.
Cepl-Kaufmann, Gertrude, Die Erfindung einer kulturellen Landschaft: Das Rheinland in Europa, in: Rheinisch! Europäisch! Modern! Netzwerke und Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg, Essen 2013, S. 23-43.
Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin, Rheinland - Berlin - Paris. Carl Einsteins messianische und spirituelle Identitätssuche im Kontext seiner biographischen Topographie, in: Creighton, Nicola/Kramer, Andreas (Hg.), Carl Einstein und die europäische Avantgarde/Carl Einstein and the European Avant-Garde, Berlin/Boston 2012, S. 13-30.
Dethlefs, Hans Joachim, Carl Einstein. Konstruktion und Zerschlagung einer ästhetischen Theorie. Frankfurt a.M. [u. a.] 1985.
Kramer, Andreas, ,Die Erdteile in Bewegung‘. Geographische Diskurse bei Carl Einstein und in der Avantgarde, in: Creighton, Nicola/Kramer, Andreas (Hg.), Carl Einstein und die europäische Avantgarde/Carl Einstein and the European Avant-Garde, Berlin/Boston 2012, S. 223-241.
Kruse, Joseph A./Oellers, Norbert/Steinecke, Hartmut (Hg.), Literatur in den Rheinlanden und in Westfalen – Literatur in Nordrhein-Westfalen. Texte aus hundert Jahren in vier Bänden, Frankfurt a.M. 1996-1998.
Schmidt-Bergmann, Hansgeorg, „Die Stadt der Langeweile“. Carl Einstein und Karlsruhe. Ostfildern bei Stuttgart 1992.
Siebenhaar, Klaus, Carl Einstein. Prophet der Avantgarde. Berlin 1991.
Online
Homepage der Carl-Einstein-Gesellschaft/Société-Carl-Einstein e.V. [31.1.2014].
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Grande, Jasmin, Carl Einstein, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/carl-einstein/DE-2086/lido/57c6a294205994.38066637 (abgerufen am 09.12.2024)