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Christina von Stommeln war eine Begine, der mystische Erlebnisse zugeschrieben wurden, so dass sie in den Ruf der Heiligkeit gelangte und im Gebiet des Herzogtums Jülich sowie im Erzbistum Köln kultisch verehrt wurde.
Über die Lebensgeschichte der Begine Christina, die nach ihrem Geburtsort Stommeln, heute ein Ortsteil von Pulheim, benannt wird, ist für eine Frau bäuerlicher Herkunft und damalige Verhältnisse außergewöhnlich viel überliefert. Der sogenannte Codex Iuliacensis, eine spätmittelalterliche Handschrift, die heute im Aachener Diözesanarchiv liegt, enthält literarische Darstellungen ihres Lebens und eine Sammlung von Briefen. Diese lateinischen Texte gehen hauptsächlich auf den gelehrten Dominikaner Petrus von Dacien (um 1235-1289) zurück, der aus Gotland stammte und als erster literarischer Autor Schwedens gilt. Während seines Aufenthalts am Studium Generale des Ordens in Köln hatte er Christina kennengelernt. Petrus erkannte in der frommen Frau eine Mystikerin und deswegen verehrungswürdige Heilige. Von diesem Standpunkt aus gestaltete er das Bild ihrer Persönlichkeit in seinen Schriften. Dort ist zu lesen, dass Christina religiöse Entrückungszustände erlebt, Christusvisionen erfahren und am Körper die Wundmale Christi getragen habe. Vor allem aber berichten die im Codex Iuliacensis überlieferten Texte breit und in vielen abstoßenden Einzelheiten von abertausenden Teufeln und Dämonen, die Christina beständig gequält hätten. Die Historiographie steht unter anderem vor der Schwierigkeit, dass von Christina keinerlei Selbstzeugnis erhalten ist. Es ist daher fast unmöglich, die historische Person Christina und deren religiöses Erleben überhaupt von der durch die hagiographischen Schriften des Petrus und anderer Verfasser geformten literarischen Gestalt zu unterscheiden und zu beurteilen.
Christinas Geburtsjahr errechnet sich aus der Angabe der Vita, dass sie 1312 im Alter von 70 Jahren gestorben sei. Mithin ist sie 1242 als Tochter des wohlhabenden Bauern Heinrich Bruso (gestorben 1278) und seiner Frau Hilla (gestorben zwischen 1278 und 1282) geboren. Sie wuchs mit zwei Brüdern und zwei Schwestern in Stommeln auf. Christina konnte lesen. Wo sie diese Fähigkeit erworben hat, ist nicht bekannt. Indes mussten ihr lateinischsprachige Briefe vorgelesen und übersetzt werden. Eigene Briefe schrieb sie nicht selbst nieder, sondern Kleriker aus ihrem Bekanntenkreis übertrugen ins Lateinische, was Christina volkssprachlich diktierte. Dabei bearbeiteten diese die Texte wohl auch stilistisch.
Als 13-Jährige verließ Christina ihr Elternhaus und bemühte sich in Köln um die Aufnahme in eine Beginengemeinschaft. Ihre exzentrische Frömmigkeit dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass die Kölner Beginen sie schon bald wieder ausschlossen. So wird berichtet, dass sie in der Dominikanerkirche bei der Betrachtung eines Christusbildes in einen anhaltenden Zustand völliger Leibesstarre gefallen sei. Die Beginen, so heißt es weiter, hätten dies auf Epilepsie oder Wahnsinn zurückgeführt und Christinas mystische Erlebnisse nicht für echt gehalten. Von den Beginen zurückgewiesen, lebte die junge Frau einige Zeit ohne feste Unterkunft von Almosen in der Stadt. 1259 musste sie schließlich in ihr Heimatdorf und in den elterlichen Haushalt zurückkehren, denn auch die Stommelner Beginen lehnten ihre übermäßige Askese zunächst ab. Erst 1262 zog Christina für drei Jahre in das Beginenhaus am Ort. Später wohnte sie wieder auf dem elterlichen Hof, zeitweise auch im Haushalt des Stommelner Pfarrers Johannes. Ob sie es nirgends lange aushielt oder nicht länger geduldet wurde, steht dahin. Im Pfarrhaus begegnete sie 1267 Petrus von Dacien. Zwischen dem weltläufigen Ordensmann und der frommen Frau entstand eine intensive Bindung. Für die folgenden drei Jahre bis zu Petrus endgültiger Rückkehr nach Schweden sind zwölf weitere Besuche bezeugt. Danach korrespondierten die beiden bis zu seinem Tod 1289.
1278 brannte das Wohnhaus der Familie Bruso nieder. Im gleichen Jahr starb nach der Mutter auch der Vater. Es gelang den Geschwistern Christina und Sigwin nicht, die elterliche Landwirtschaft zu erhalten, 1281 mussten sie den Bauernhof aufgeben. Da Petrus von Dacien seine Freundin bekannt gemacht hatte, erhielt sie mehrere Einladungen, nach Schweden zu ziehen, um dort als Begine oder Dominikanerin zu leben. Sie lehnte ab, während ihr Bruder Sigwin in Schweden als Konverse in den Dominikanerorden eintrat. Vermutlich sorgten Wohltäter damals für Christinas Lebensunterhalt. Mit Petrus Tod brechen die schriftlichen Quellen über Christinas Lebensweg ab. Jüngst sind ihre Gebeine mit modernen medizinischen Methoden untersucht worden. Der Befund ergab, dass sie im Alter von einer degenerativen Erkrankung der Wirbelsäule betroffen war. Sie muss unter starken Schmerzen und Bewegungseinschränkungen gelitten haben. Im Alltag dürfte sie deswegen auf fremde Hilfe angewiesen gewesen sein. Schriftlich bezeugt ist ihr Todestag, der 6.11.1312.
Christina wurde an der Kirchenmauer, also an privilegierter Stelle bestattet. In den Augen der Zeitgenossen muss sie demnach hohes Ansehen genossen haben. Heute erinnert ein neugotisches Denkmal an der Nordseite des Turms der alten Stommelner Pfarrkirche St. Martin an diese Grabstelle. Ein erstes Wunder am Grab soll sich 1338 ereignet haben: Graf Dietrich VII./IX. von Kleve, der infolge eines Gichtleidens nahezu bewegungsunfähig war, sei nach der Berührung ihres Gebeins geheilt davongeritten. 1342 wurden die Reliquien in die Stiftskirche der jülichschen Residenzburg Nideggen umgebettet. Die Kanoniker hatten die Aufgabe, für die Memoria des Jülicher Grafen und Herzogsgeschlechts zu sorgen. Es entwickelte sich ein regional beschränkter, volkstümlicher Heiligenkult um Christina, die besonders gegen Kopfschmerzen und Lähmungen angerufen wurde. Bemühungen um eine Kanonisation blieben erfolglos. Nachdem das Kollegiatstift 1569 in die neue Residenzstadt Jülich verlegt worden war, folgten die Reliquien und wurden wohl 1592 in die dortige Propsteikirche Maria Himmelfahrt übertragen. Beide Umbettungen sind darauf zurückzuführen, dass Christina zur Patronin des Herzogtums Jülich aufgerückt und ihr Kult eng mit der politischen Entwicklung des Territoriums verknüpft war. Im 19. Jahrhundert, nach dem Kulturkampf, betrieb der Jülicher Pfarrer und spätere Dechant Andreas Esser (1838-1910) die Pflege des Kultes und die Seligsprechung. Ergebnis dieser Bemühungen war die kirchenrechtliche Anerkennung der Verehrung im Erzbistum Köln durch die Seligsprechung, die Papst Pius X. (Pontifikat 1903-1914) 1908 vornahm. In der Christina-Kirmes, einem mehrtägigen Jahrmarkt im November, lebt die Erinnerung an die Selige fort, deren Kult heute in Vergessenheit geraten ist.
Literatur
Bers, Günter, Die Verehrung der seligen Christina von Stommeln in Jülich vom 16. zum 20. Jahrhundert. Zur Kultgeschichte einer Volksheiligen, Jülich 1986.
Gottesschau & Gottesliebe. Die Mystikerin Christina von Stommeln 1242-1312, hg. v. Guido von Büren, Susanne Richter und Marcell Perse, Regensburg 2012.
Ruhrberg, Christine, Der literarische Körper der Heiligen. Leben und Viten der Christina von Stommeln (1242-1312) Tübingen/Basel 1995.
Quellen
Aachen, Diözesanarchiv, Hs. 599: Codex Iuliacensis. [Online]
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Ostrowitzki, Anja, Christina von Stommeln, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/christina-von-stommeln-/DE-2086/lido/57c68bded2a1e3.50488730 (abgerufen am 07.09.2024)