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Christoph Schlingensief war ein vielseitig talentierter Künstler. Neben seiner Tätigkeit als Film-, Theater- und Opernregisseur war er auch Autor und Aktionskünstler. Er galt als Provokateur und hatte den Nimbus ein Enfant terrible zu sein.
Christoph Schlingensief kam am 24.10.1960 in Oberhausen als einziges Kind der Eheleute Hermann-Josef und Anna Maria Schlingensief zur Welt. Der Vater betrieb als Pharmazeut in Oberhausen eine Apotheke, die Mutter war gelernte Krankenschwester. Das Elternhaus von Christoph Schlingensief war katholisch geprägt: Nach seiner Erstkommunion wurde er Messdiener in der Oberhausener Herz-Jesu-Kirche und engagierte sich in der katholischen Jugendgruppe. Einen besonderen Bezug hatte er zur feierlichen katholischen Liturgie. Am Heinrich-Heine-Gymnasium in Oberhausen, das er von 1971 bis 1980 besuchte, absolvierte er einen Leistungskurs in katholischer Religion. Seine Sozialisation sah er stets positiv, wenngleich er das kleinbürgerliche Milieu ablehnte und sich später zwischenzeitlich von der katholischen Kirche absetzen sollte. Schlingensief sprach sich für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle durch Geistliche an Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche aus, warnte jedoch zugleich davor, dabei über das Ziel hinaus zu schießen. Sein Pfarrer hätte ihn einmal mit der Hand am Haarschopf gestreichelt. Dies habe er positiv empfunden und darin keine sexuelle Annäherung gesehen.
Bereits von seinem achten Lebensjahr an besuchte er regelmäßig die renommierten Oberhausener Kurzfilmtage. Bereits als Oberstufenschüler am Gymnasium fasste er den Entschluss, Filmregisseur zu werden. Zweimal hatte er sich für die Münchener Filmakademie beworben, wurde aber beide Male abgelehnt. Während er sich als Jungfilmer autodidaktisch weiterbildete, entschloss er sich 1981 zu einem Studium der Theaterwissenschaften, der Philosophie und der Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er brach jedoch das Studium nach kurzer Zeit ab, da ihn die Massenuniversität anwiderte. Manchmal habe er noch nicht einmal die richtigen Seminarräume gefunden. Entgegen seinen Erwartungen thematisierte der Studiengang Theaterwissenschaften so gut wie nie die Gattung Film.
Schließlich zog es ihn zurück in seine Heimatstadt Oberhausen. Zunächst fing Schlingensief mit harmlosen Humorfilmen an. Großen Unmut erregte sein Film von 1989 "100 Jahre Adolf Hitler - Die letzte Nacht im Führerbunker". Diese beklemmende Performance, die er als "Reality-Soup" ansah, drehte er in schwarz-weiß; die Beleuchtung kam von einem einzigen Handscheinwerfer. Er wurde daraufhin als kindlicher Nazi beschimpft. Dabei habe er nur aufzeigen wollen, "dass man Hitler nicht immer nur mit der Käseglocke servieren dürfe".[1] Als er Assistent des Experimentalfilmers Werner Nekes (geboren 1944) an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wurde, änderte sich dies grundlegend. Mit seinem Stück "100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen" gab er 1993 sein Debüt.
Seine Vorbilder als Filmregisseure waren Rainer Werner Faßbinder (1945-1982), Werner Herzog (geboren 1942) und Wim Wenders (geboren 1945), wobei er mit dem ersten den Hang zum Workaholic teilte. Zwischenzeitlich (1986-1987) verdiente er sein Geld als Aufnahmeleiter der WDR-Dauerserie "Lindenstraße".
Nekes war Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und besorgte Schlingensief dort einen Lehrauftrag. Durch Nekes lernte er auch den Schauspieler und Sänger Helge Schneider (geboren 1955) kennen, der zu diesem Zeitpunkt noch so gut wie unbekannt war. Er besuchte einige seiner Konzerte.
Als Performance Künstler war ihm Joseph Beuys ein Vorbild. Er übernahm von Beuys die "soziale Plastik" als idealtypische Gesellschaftsform. Beide setzten sich für eine stärkere Partizipation der BügerInnen an den politischen Entscheidungsprozessen ein. Beuys Vorstellung, dass jeder Mensch ein Künstler sei, dürfe nicht so verstanden werden, jeder könne malen, schreiben oder singen. Jede Arbeit habe prinzipiell die Voraussetzung, kreativ zu sein und etwas Großartiges müsse dann daraus entstehen. Schlingensief schätzte wie Beuys die anthroposophische Medizin, lehnte jedoch den "Steiner-Kram" ab; überhaupt war ihm jede Form der Esoterik suspekt.
Immer wieder wurde Schlingensief für seine Aufführungen stark angegriffen. Vollkommene Ablehnung erfuhr sein zweites Theaterprojekt von 1994 "Kühnen 94 - Bring mir den Kopf von Adolf Hitler." Schlingensief spielt in dieser Produktion persönlich den Neonazi Michael Kühnen, der 1991 im Alter von 34 Jahren an Aids verstorben war. Kühnen wird hier als von seinen Eltern ungeliebter Sohn dargestellt, der in einem von Schlingensief gehassten Kleinbürgermilieu aufwächst. Schlingensief avanciert hier zum Bürgerschreck, denn das ganze Stück ist eine Mixtur aus Musik, Blut und Sex. Völlig wahllos treten unter anderem König Ludwig II. von Bayern, die Geschwister Scholl, Petra Kelly, Mutter Theresa und Beate Uhse auf. In den Fachzeitschriften wurde die Produktion verrissen. Nun war er neben Claus Peymann (geboren 1937) der einzige deutsche Theatermacher, über den die Yellow Press berichtete.
Immer wieder engagierte Schingensief Laiendarsteller in seinen Stücken. In seinem Theaterstück "Rocky Dutschke ´68" aus dem Jahre 1996 verpflichtete er erstmals auch einen behinderten Protagonisten. Im Mittelpunkt der Handlung steht der politische Protest des Studentenführers Rudi Dutschke (1940-1979).
Christoph Schlingensief wurde aufgrund seiner Provokationen verschiedentlich verhaftet, ohne dass es zu Prozessen kam. Während die Staatsanwaltschaft den Hitlergruß in seinem Film "100 Jahre Adolf Hitler" als Freiheit der Kunst akzeptierte, wurde er auf der Kasseler Documenta 1997 nach seinem Aufruf "Tötet Helmut Kohl" verhaftet. Hier wollte er sich bewusst an die Grenze der Kunstfreiheit begeben. Bundespräsident Roman Herzog (Amtszeit 1994-1999), der ihm später das Bundesverdienstkreuz am Bande verleihen sollte, habe ihm nach eigenem Bekunden gesagt. "Ich weiß, daß es viele ablehnen, daß Sie dies sagen, aber ich weiß, was Sie damit meinen. Sie meinen damit die Befreiung des Ausdrucks vom Zwang des Sinns."[2] Herzog war deutlich geworden, dass Schlingensief hier die Grenze zum Paradoxen überschritten hatte.
Mit seiner Aktion "Passion Impossible. 7 Tage Notruf für Deutschland" (1997) wollte er auf die Probleme Obdachloser und Drogensüchtiger aufmerksam machen. Am Ende der Aufführung versuchte Schlingensief durch einen Protestzug die sozialen Randgruppen dazu zu bewegen, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Mit "Chance 2000" gründete Schlingensief 1998 eine Partei der Nichtwähler. Die "Parteigründung" erfolgte in einem Berliner Zirkuszelt. Er bildete hierbei ein Forum für Arbeitslose, Behinderte und "Unsichtbare". Jeder sollte sich selbst wählen anstatt eine der etablierten Parteien. Höhepunkt der Aktion war ein Treffen hunderter Arbeitsloser am Wolfgangsee zu einem Zeitpunkt, als Helmut Kohl dort seinen jährlichen Urlaub verbrachte. Durch gemeinsames Baden wollten sie den See zum Überschwappen bringen, um sich an Kohl für dessen Arbeitsmarktpolitik zu rächen.
Im Frühjahr 2000 inszenierte Schlingensief in der Volksbühne sein Stück "Berliner Republik". Die Hauptstadt Berlin steht hier als Synonym für die Bundesrepublik Deutschland. Er trieb hiermit die Vermischung von Theater und Politik auf den Höhepunkt. Auf diese Weise wollte er den Nachweis erbringen, "daß sich jeder die maskenhafte Identität Gerhard Schröders überstülpen kann."[3]
Als seine originellste Performance wird von vielen Kritikern "Bitte liebt Österreich" aus dem Jahre 2000 angesehen. In Anlehnung an die umstrittene Fernsehsendung Big Brother bringt er angeblich zwölf Asylanten in einem Container neben der Wiener Staatsoper unter. Er nutzte die Medien, in denen er dazu aufrief, durch Anruf abzustimmen, welche Asylanten als nächste abzuschieben seien. Der am Schluss übrig gebliebene Asylant sollte schließlich eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Von Jörg Haiders (1950-2008) FPÖ übernahm er das Logo. Tatsächlich beteiligte sich eine vierstellige Anzahl von Anrufern an der Abstimmung.
Aufsehen erregte seine Hamlet-Inszenierung am Züricher Schauspielhaus im Jahre 2001. Damit inszenierte er erstmalig ein klassisches Stück, kürzte es aber auf eine Spielzeit von 90 Minuten. Im Rahmen einer Resozialisierungsmaßnahme, die vom deutschen Innenminister Otto Schily (Amtszeit 1998-2005) gefördert wurde, spielten sechs vorbestrafte Neonazis mit - eine Frau und fünf Männer. In diesem Stück forderte Schlingensief das Verbot der nationalistischen Schweizer Volkspartei unter der Führung von Christoph Blocher (geboren 1940).
Im Jahre 2002 veröffentlichte er erstmals ein Theaterstück: "Rosebud", eine Mischung aus Kammerspiel, Melodram und Lustspiel. Zwei mittelmäßige Journalisten glauben im Medienwald nur überleben zu können, wenn sie ihre Meldungen selbst machen. Sie proklamieren das Ende der Spaßgesellschaft. Fortan spekulieren sie mit Nachrichten so wie mit Aktien an der Börse. Sie wollen Medienmogule wie William Randolph Hearst in "Citizen Kane" werden.
In seiner Performance "Church of Fear" aus dem Jahre 2003 - sie fand auf der 50. Biennale Venedig statt - wurde alles Sakrale profanisiert und alles Säkulare sakralisiert. Zu Recht musste er sich den Vorwurf der Blasphemie gefallen lassen. Diese Aktion wurde auf dem Kölner Weltjugendtag 2005 im Kölner Museum Ludwig wiederholt.
Als Schlingensief von Katharina Wagner (geboren 1978) das Angebot erhielt, den Parsifal in Bayreuth zu inszenieren, sagte er nach kurzem Zögern zu. Wie Richard Wagner (1813-1883) verstand sich auch Schlingensief als Gesamtkunstwerker. Unterschiedliche Kunstgattungen sollten in einem Artefakt dargestellt werden. War es bei Wagner die Verquickung von Drama, Musik, Tanz und Choreographie, so kamen bei Schlingensief noch weitere Elemente hinzu, nämlich die Installation, der Film und der persönliche Eingriff des Künstlers. Wenn er wie Heiner Müller (1929-1995) 1993 äußerte, er habe sich zuvor nicht näher mit Wagner befasst, so war dies bei ihm ein understatement. Um die Jahrtausendwende war er durch die Wüste von Namibia gefahren und hatte sie für mehrere Tage mit übergroßen Boxen verschiedene Male mit Wagners "Ring des Nibelungen" beschallt. Ein kleineres, ähnliches Projekt war diesem im Ruhrgebiet vorgeschaltet gewesen. Dies erinnert an Werner Herzogs Film „Fitzcarraldo“ (1982), in dem die Amazonas-Indianer beschallt wurden.
Wagner verbindet in seinem Abschiedswerk „Parsifal“ synkretistisch christliches, buddhistisches und bedingt auch islamisches Gedankengut. Bei Schlingensiefs Inszenierung kommen der Voodookult und uralte Mythen aus afrikanischen Kulturen hinzu. In der Symbolik übernimmt der Hase, der auf Joseph Beuys verweist, eine besondere Rolle. Dieser ist sanftmütig und bildet eine Opposition zur männlich-kriegerischen Gewalt, etwa der eines Klingsors. Schlingensief behauptete, er müsse aufpassen, dass er beim Parsifal nicht melancholisch werde und Wagner als den großen Verführer zum Tode verunglimpfe. In Bayreuth wüssten die Zuhörer genau, dass sie sich nicht ganz auf Wagner einlassen dürften. Schlingensief sah sich jedoch außer Stande, diese Distanz zu wahren. Habe nicht kein geringerer als der Bayreuth erfahrene Dirigent Christian Thielemann gesagt: "Den ´Tristan´ dirigiere ich nicht mehr. Da stirbt man ja bei."[4] In den vier Jahren seiner Arbeit auf dem Grünen Hügel hat Schlingensief ständig an seinem Parsifal gefeilt. War der "Multi-Kulti-Parsifal" von 2004 noch verrissen und ausgebuht worden, so erntete Schlingensief bei der letzten Bayreuther Parsifal-Inszenierung im Jahre 2007 ausschließlich Ovationen. Keiner seit Heiner Müller mit seiner Tristan-Inszenierung von 1993 habe so deutlich herausgestellt, was im Werke Richard Wagners Liebe und Erlösung bedeute. Resümierend hielt Schlingensief fest. "Für mich ist in Wagners Musik die Frage nach dem Metaphysischen und der Transzendenz zentral, nach den Kräften, die zwischen den Menschen walten und uns entweder auf- oder entladen, die Frage nach dem Universum.“[5] Bereits 2005 hatte Schlingensief Wagners Fliegenden Holländer am Teatro Amazonas in Manaus/Brasilien, gewissermaßen mitten im Urwald, inszeniert. Trotz solcher Zitate wie "Wann dröhnt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht?" und "Wenn alle Tote auferstehen, dann werde ich in Nichts vergehen." habe er Wagners Todesmusik durch seine Inszenierung ins Lebendige transformieren können. Geholfen hätten ihm dabei die Sambaspieler und Trommler, der Raum mit der Drehbühne, die nur handgetrieben funktioniert habe, und nicht zuletzt eine Bootsfahrt auf dem Amazonas.
Im Frühjahr 2008 wurde bei Schlingensief ein aggressives Lungenkarzinom festgestellt. In seiner Erkrankung fand Schlingensief zu seinem Glauben zurück. In seinem Krebstagebuch hatte er für den 30.1.2009 festgehalten: "Gestern Nacht konnte ich mich mit Maria, Gott und Jesus versöhnen und sagen: Liebt mich doch einfach ein bisschen, ich bitte darum."[6] Auch beschäftigte er sich mit der Theodizee-Frage: Wie könne Gott das Leid in der Welt zulassen? Die Vorstellung, Gott prüfe seinen Glauben durch die Erkrankung, weist er von sich. Sein Krebs-Tagebuch, das ein Bestseller wurde, hatte er nach eigener Aussage auch an Papst Benedikt XVI. (Pontifikat 2005-2013) geschickt, jedoch keine Antwort aus dem Vatikan erhalten.
Wer bei einer solchen Erkrankung Rationalist bleibe, sei nicht ehrlich zu sich selbst. Vielmehr müsse man den Bereich des vernünftigen Denkens verlassen und offen für die Mystik sein.
In seiner Performance auf der Ruhrtrienale in Duisburg "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" aus dem Jahre 2008, das er als Fluxus-Oratorium im Sinne von Joseph Beuys konzipiert hatte, spricht er offen seine Krankheit und sein Verhältnis zur katholischen Kirche an. Er lässt ein Schiff seiner Heimatpfarrkirche auf der Bühne aufbauen, über dem Altarraum wird durch Videos ein Tryptichon eingeblendet. Ein Requiem für einen "Untoten" wird "zelebriert". Man könne dem Menschen zwar den Glauben nehmen, so stellt Schlingensief in diesem Kontext fest, jedoch nicht seine Furcht. Die Krebserkrankung sei für ihn zuerst das Fremde gewesen, was er nicht hätte fassen können. Er habe zunächst die Schuld bei sich selbst gesehen. Diese Erfahrung hätte man im christlichen Sinne als Vorhölle begreifen können.
Schlingensiefs Vermächtnis ist der Plan eines Festspielhauses in Afrika. Um dieses Projekt in Angriff zu nehmen - erst bei einer dritten Afrika-Reise, sie führte ihn nach Ouagaugou in Burkina Faso -, konnte der Visionär sein Ziel in Angriff nehmen. Er sah dieses Projekt als sein Lebenswerk an. Da die afrikanische Kultur unabhängiger sei als die europäische, hielt er sie auch für die Überlegene. In Europa sei noch viel zu sehr die Vorstellung von der Unfähigkeit der afrikanischen Kultur vertreten. Schlingensiefs Kulturbegriff ist zwischen dem der Transkulturalität und dem der Interkulturalität gelegen. Der afrikanische Animismus erfährt bei ihm durchaus eine Wertschätzung. In Afrika habe er immer Kräfte gespürt wie auf keinem anderen Kontinent. Zur islamischen und zur buddhistischen Kultur fand Schlingensief hingegen nie einen Bezug. Sein Projekt wurde vom Auswärtigen Amt, von der Bundeskulturstiftung und vom Goethe-Institut unterstützt. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler (Amtszeit 2004-2010), dem die Förderung Afrikas stets ein besonderes Anliegen war, rief zur Unterstützung dieses Vorhabens auf. Im Februar 2010 konnte Schlingensief die Grundsteinlegung des Operndorfs miterleben. Ob das Bayreuther Festspielhaus Pate für das Afrika-Projekt stand, lässt sich nicht genau klären. Hierzu sind Schlingensiefs Äußerungen zu ambivalent. Während er sein Projekt zuerst Opernhaus nennt, spricht er später von Operndorf. Die Fläche des Grundstücks umfasst immerhin fünf Hektar, wobei auch die Errichtung einer Schule für 500 Kinder und ein Krankenhaus mit zur Planung gehört.
Als im Frühjahr 2010 die Meldung kam, Schlingensief gehe es merklich besser, erwartete man mit großer Spannung auf dem zweiten Ökumenischen Kirchentag in München im Mai 2010 seine angekündigte Bibelarbeit. Sein Gesundheitszustand hatte sich jedoch wieder so verschlechtert, dass er kurzfristig absagen musste.
Schlingensiefs "Afrika-Spektakel" "Remdogoo - Via Intolleranza II.", das auf den Münchener Opernfestspielen im Mai 2010 aufgeführt wurde, fand in der Fachwelt ungeteilte Zustimmung. Er verarbeitete hier seine Wut gegenüber ethnozentrischem Denken. Die Schauspieler kamen aus Europa und aus Burkina Faso. Ihm war bewusst, dass dies sein letztes Projekt war, das er abschließen konnte. Den Tod vor Augen hält er fest. " ... danke Jesus, danke! in diesem Moment habe ich gedacht, auch ich habe zu danken, auch ich muß Danke sagen, ja, ich habe Krebs, ich bin am Ende, ich sterbe gleich, aber ich sage: Danke, Jesus, ich sage Danke! Halleluja!"[7] Insgesamt ist er jetzt versöhnlich. Er wolle ein guter Mensch sein, so wie ihn seine Eltern und die Kirche dies gelehrt hätten.
Seinen Auftrag, den deutschen Pavillon bei der Bienale 2011 in Venedig zu gestalten, konnte er nicht mehr zu Ende führen. Im Vorfeld war diese Nominierung nicht unumstritten. So hatte sich der Kölner Maler Gerhard Richter (geboren 1932) dagegen ausgesprochen. Nach seinem Tod übernahm Susanne Gaensheimer zusammen mit Aino Laberenz, Schlingensiefs Witwe, die Gestaltung des Pavillons. Sie stellten wesentliche Teile von Schlingensiefs Krebsleiden- und Fluxus-Oratorium "Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" aus dem Jahre 2008 ins Zentrum der Installation. Diese wurde mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet.
Seine mit dem Deutschen Theater Berlin geplante Produktion s.M.A.S. musste er aus Gesundheitsgründen absagen. Als Christoph Schlingensief den Kampf gegen den Krebs am 21.8.2010 verloren hatte, wurde das einstige enfant terrible in der deutschen Presse als einer der vielseitigsten und sensibelsten Künstler beschrieben. Viele Feuilletonisten stellten dar, wie er jede Bigotterie unserer Gesellschaft öffentlich anprangerte. Für die Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (geboren 1946) war er der größte zeitgenössische Künstler überhaupt. Die Berliner Theaterkritikerin Eva Behrendt sah in ihm ein Künstler im Sinne Nietzsches, der unaufhörlich in Bewegung sei und jenseits jeder bereits vorhandenen vereinheitlichten Norm gewirkt habe. Wie zuvor Orson Welles (1915-1985) und Jean Cocteau (1889-1963), transzendierte er als Filmemacher alle Gattungsgrenzen. In Schlingensiefs Pfarrkirche Herz Jesu wurde ein katholisches Requiem gefeiert. Ähnlich wie bereits Ingmar Bergmann (1918-2007) hatte Schlingensief die "Regieanweisungen" für dieses selbst verfasst. Die sterblichen Überreste von Christoph Schlingensief sind eingeäschert worden. Seine Familie hält geheim, ob die Asche verstreut oder in einer Urne beigesetzt wurde. Auch der Ort ist nicht bekannt.
Die Fertigstellung des Operndorfes in Burkina Faso sollte er nicht mehr erleben. Sie wird nun von seiner Witwe Aino Laberenz, der Geschäftsführerin der Festspielhaus Afrika GmbH, vorangetrieben. Die ihm von Katharina Wagner angetragene Inszenierung von "Tristan und Isolde" bei den Bayreuther Festspielen, die er trotz seiner Ambivalenz zu Wagners Opus summum gerne angenommen hätte, musste sie daher 2015 selbst realisieren.
In den ersten zwei Jahren nach Schlingensiefs Tod stagnierte das Operndorf Projekt. Doch konnte zumindest im Juni 2011 die Grundschule für 300 Schülerinnen und Schüler fertig gestellt werden. Wie ein roter Faden durchzieht hier das Fach Kunst alle anderen Lerninhalte. Im Juni 2012 besuchte der Schirmherr des Projektes, Bundespräsident a.D. Horst Köhler, erstmals das geplante Operndorf. In diesem Jahr wurde auch die gemeinnützige Stiftung Operndorf Afrika gegründet. Die Krankenstation, in der bis zu 5000 Patienten überwiegend ambulant behandelt werden können, wurde im April 2014 eröffnet. Im Sinne der inter- und transkulturellen Ästhetik Christoph Schlingensiefs sollen sich im Operndorf afrikanische und europäische Kulturen begegnen. Von daher ist an ein breites Spektrum der Darbietungen gedacht. Seit 2015 werden in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Burkina Faso und dem Team des Operndorfs Afrika Stipendien nach dem Konzept “Artists in Residence” vergeben. Diese ermöglichen den Künstlerinnen und Künstlern einen längeren Aufenthalt vor Ort und wurden bisher für die Bereiche Film, Fotografie, Schauspiel, bildende Kunst und Design vergeben.
Im Frühjahr 2017 nahm das Operndorf ein neues Projekt in Angriff. Man begann mit der Einrichtung einer großen Bibliothek französischsprachiger Literatur. Im selben Jahr konnten die 2011 eingeschulten Schülerinnen und Schüler des Operndorfs ihre Abschlussprüfungen ablegen.
Nun stehen lediglich noch die endgültige Konzeption und der Bau des „Festspielhauses“ aus, das als Multifunktionsraum zu verstehen ist. Hier sollen sich afrikanische und europäische Kulturen begegnen, wobei nicht alleine an die Aufführungen von Opern und Dramen gedacht ist. Im März 2018 präsentierte das Africa Bass Culture Festival im Operndorf von Burkina Faso verschiedene afrikanische und internationale Künstlerinnen und Künstler aus dem Bereich der bildenden Kunst und der elektronischen Musik.
Preise und Ehrungen
Schlingensief hat zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, u.a.:
1985 - Nordrheinwestfälischer Produzentenpreis für Tunguska – Die Kisten sind da.
1986 - Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen.
1987 - Förderpreis zum Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft der Stadt Mülheim an der Ruhr.
2003 - Hörspielpreis der Kriegsblinden für Rosebud.
2005 - Filmpreis der Stadt Hof.
2007 - Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft.
2009 - Berliner Bär (B.Z.-Kulturpreis).
2009 - Nestroy-Theaterpreis-Nominierung für die Beste Regie von Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper am Wiener Burgtheater.
2010 - Helmut-Käutner-Preis.
2010 - Bambi (posthum).
2011 - Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis (posthum).
2011 - Goldener Löwe der Biennale di Venezia für den besten nationalen Beitrag (Deutscher Pavillon) (posthum).
In seiner Heimatstadt wurde 2012 die Pacellistraße in Christoph-Schlingensief-Straße umbenannt; ebenfalls seit 2012 heißt die Rheinische Förderschule Oberhausen LVR-Christoph-Schlingensief-Schule.
Quellen
Sammlung Christoph Schlingensief im Institut für Theaterwissenschaften der Universität Köln - Schloss Köln-Wahn.
Werke (Schriften)
Die Wüste lebt. Christoph Schlingensief über die Befreiung des Ausdrucks vom Zwang des Sinns, in: Kluge, Alexander, Facts und Fakes 2/3. Fernsehnachrichten, Herzblut und Kunstblut. Erster imaginärer Opernführer hg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann, Berlin 2000, S. 137-163.
So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, 7. Auflage, Köln 2009.
Rosebud. Das Original. Mit Vorbemerkungen von Diederich Diederichsen und Carl Hegemann, Köln 2002.
Church of Fear. Museum Ludwig Köln, Köln 2005.
Ich weiß, ich war´s, hg. von Aino Laberenz, 3. Auflage, Köln 2012.
Filme, Inszenierungen
1989 - 100 Jahre Adolf Hitler - Die letzte Nacht im Führerbunker (Film).
2008 - Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir
2010 - Remdogoo - Via Intolleranza II
Literatur
Bierbichler, Josef, Ohne die Fähigkeit der Gesellschaft immer wieder Wut- oder Schmerzensschreie zu entlocken, kann Theater einpacken, in: Zeichen 4 (2000), 2. Auflage, Berlin 2000, S. 7-24.
Engagement und Skandal. Ein Gespräch zwischen Josef Bierbichler, Christoph Schlingensief, Harald Martenstein und Alexander Bewerk, in: Zeichen 4 (2000), 2. Auflage, Berlin 2000, S. 25-97.
Scheidgen, Hermann-Josef, Ein Festspielhaus für Afrika. Christoph Schlingensiefs Beitrag zur Interkulturalität, in: Yousefi, Hamid Reza/Scheidgen, Hermann-Josef/Oosterling, Henk, Von der Hermeneutik zur interkulturellen Philosophie. Festschrift für Heinz Kimmerle zum 80. Geburtstag, Nordhausen 2010, S. 575-590.
Scheidgen, Hermann-Josef, Vollendung des Gesamtkunstwerks? Richard Wagners eigenwillige Rückkehr zum Christentum bei gleichzeitiger Annäherung an den Buddhismus, in: Bickmann, Claudia/Scheidgen, Hermann-Josef/Voßhenrich, Tobias/Wirtz, Markus (Hg.), Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven, Amsterdam/New York 2006, S. 281-305.
Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Dokumentation von Matthias Lilientahl und Claus Phillip, Frankfurt a.M. 2000.
Fachzeitschriften
Opernwelt. Das internationale Opermmagazin 51 (2010).
Theater heute. 52 (2010).
Theater der Zeit 65 (2010).
Online
Website des Operndorfs Afrika. [online]
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Scheidgen, Hermann Josef, Christoph Maria Schlingensief, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/christoph-maria-schlingensief/DE-2086/lido/5d726e3c4dce23.06505867 (abgerufen am 05.12.2024)