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Dora Philippson war vor 1933 Studienrätin für Mathematik, Physik und Chemie an Lyzeen in Bonn und Berlin. 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert, gehörte sie zu den wenigen überlebenden Bonner Juden. Sie kam zurück in ihre Heimatstadt, war maßgeblich am Wiederaufbau der hiesigen Synagogengemeinde beteiligt und hat 1954 die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Bonn mitgegründet.
Dora Philippson kam als drittes Kind von Anna Lina Philippson geborene Simoni (1869–1906) und Alfred Philippson am 17.11.1896 in Bonn auf die Welt. Sie wuchs in einer großbürgerlichen Gelehrtenfamilie auf; ihr Vater war Professor für Geographie und ein weit über sein Fach hinaus angesehener Experte für Griechenland. Ihr Großvater Ludwig Philippson (1811–1889), Rabbiner, Gelehrter und bedeutender Publizist, hatte sich für die bürgerliche Gleichstellung der Juden eingesetzt.
Dora Philippson wurde 1903 in der Schubring'schen Privatschule in Bonn eingeschult, zog aber bereits 1904 mit den Eltern nach Bern, wo sie bis 1906 die Schmid'sche Privatschule besuchte. Dann zog die Familie erneut um – diesmal folgte der Vater einem Ruf nach Halle an der Saale. Während der Umzugsvorbereitungen starb unerwartet die Mutter – da war Dora erst zehn Jahre alt. Mit ihren älteren Geschwistern Mathilde (1893–1922), Ludwig (1894–1961) und der jüngeren Schwester Eva (1899–1962) wuchs sie mit wechselnden Kindermädchen und Hausdamen bei ihrem Vater auf. Dieser stand gerade am Beginn seiner Karriere und war, wenn nicht mit seinen Vorlesungen und Publikationen beschäftigt, unterwegs auf Forschungsreisen. Von 1907 bis 1911 besuchte Dora Philippson die Städtische Höhere Mädchenschule in Halle und ab 1911 den realgymnasialen Zweig der privaten, ab 1915 städtischen Studienanstalt in Bonn (heute Clara-Schumann-Gymnasium) und gehörte 1916 gehörte der ersten Klasse an, die dort bis zum Abitur geführt wurde. Die Familie war in das elterliche Haus nach Bonn in die Königstraße zurückgekehrt, nachdem der Vater 1911 auf das Ordinariat für Geographie der Universität seiner Heimatstadt berufen worden war.
Dora Philippson studierte zunächst Mathematik, Physik und Chemie an der Bonner Universität. Sie besuchte vom Sommersemester 1916 bis zum Wintersemester 1917/1918 nicht nur in ihren Prüfungsfächern Lehrveranstaltungen, sondern auch in Philosophie, Kunstgeschichte und Geographie. Anschließend ging sie für zwei Semester an die Universität Göttingen. Ostern 1919 kehrte sie zurück an die Bonner Universität, wo sie im November 1920 „mit Auszeichnung“ die Wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an Höheren Schulen ablegte.
Am 1.4.1921 begann Dora Philippson ihr Referendariat in Bonn an der Schule, an der sie selbst das Abitur gemacht hatte. Als Anfang 1922 ihre Schwester Mathilde starb und sie selbst erkrankte, wurde sie beurlaubt und setzte ihr Referendariat erst im Oktober in Berlin-Steglitz am Lyzeum mit Studienanstalt in der Rothenburgstraße fort. Seit der Spaltung der SPD wurde sie in Berlin engagiertes Mitglied der USPD. Als der radikale Flügel der USPD 1920 zu den Kommunisten wechselte und die übrige Partei sich zwei Jahre später mit den Mehrheitssozialisten vereinigte, trat sie jedoch wieder aus der Partei aus.
Im September 1923 legte sie die pädagogische Prüfung für das Höhere Lehramt, die Assessorenprüfung, ab und begann gleich im Herbst 1923 ein weiteres Studium an der Berliner Universität. Welche Lehrveranstaltungen sie besuchte, ist nicht bekannt. Überliefert ist, dass sie Vorlesungen bei Albert Einstein (1879-1955) hörte. 1924/1925 musste sie aus gesundheitlichen Gründen ihr Studium unterbrechen und ging zur Kur nach Davos.
Ab 1.1.1927 gab sie an der städtischen Fontane-Schule in Berlin-Schöneberg Unterricht in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie. Ostern 1928 wechselte sie an die städtische Deutsche Oberschule im Stadtteil Mariendorf, an der sie 1929 Studienrätin wurde. Vom Herbst 1930 bis Februar 1933 unterrichtete sie an der Städtischen Deutschen Oberschule in Berlin-Zehlendorf und von Februar 1933 bis zum 1.4.1933 an der Staatlichen Augusta-Schule in der Elßholzstraße.
Die Aktionen der Nationalsozialisten am 1.4.1933, dem „Boykott Tag“, führten dazu, dass sie vom Schuldienst zunächst beurlaubt und dann aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 ohne Pensionsanspruch entlassen wurde. In der folgenden Zeit gab sie privat Unterricht, war jedoch aufgrund der Bestimmungen der „Nürnberger Gesetze“ vom 15.9.1935 gezwungen, auch diesen wieder aufzugeben. Sie wurde abermals krank und ging wegen ihres Lungenleidens ein Jahr zur Erholung in die Schweiz. Eine ständige Aufenthaltsgenehmigung konnte sie für die Schweiz jedoch nicht bekommen. So kam sie nach Deutschland zurück und zog zu einer Freundin nach Kassel, wo sie von Oktober 1934 bis Februar 1941 lebte. Die Freundin aus Berliner Zeit hatte dort in der Schulbehörde beim Kultusministerium gearbeitet und war entlassen worden, weil sie Sozialdemokratin war.
1938 wurden die Einschränkungen für Juden weiter verschärft: So ging mit dem Entzug des Reisepasses die Bewegungsfreiheit verloren, und die Einschränkung der Besitz- und Eigentumsrechte steigerte sich bis zur vollständigen Enteignung. 1940 stellte Dora Philippson einen Einreiseantrag in die USA. Als ihr das amerikanische Konsulat in Stuttgart am 1.11.1940 mitteilte, welch hohe Quotennummer sie auf der Visa-Warteliste hatte, gab sie ihr Vorhaben, in die USA zu gelangen, auf. Anfang Mai 1941 versuchte ihr Vater mit Hilfe eines in den USA lebenden Verwandten und eines dort im Exil lebenden Kollegen, mit ihr und seiner zweiten Frau Margarete, geborene Kirchberger (1882–1953), in die USA oder in die Schweiz zu gelangen. Ein Wettlauf gegen die Zeit und die Behörden begann. Es war jedoch zu spät; alle Versuche, noch eine Ausreise aus NS-Deutschland zu ermöglichen, gingen ins Leere.
Im August 1941 beschlagnahmte die Gestapo das seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Besitz der Familie Philippson befindliche Haus in der Bonner Königstraße. Dora, ihr Vater und Margarete Philippson wurden in das Haus des Rechtsanwaltes Wollstein in der Gluckstraße 12 in Bonn eingewiesen. Sie wurden nicht – wie die meisten Bonner Juden – in dem von der Gestapo beschlagnahmten Benediktinerinnen-Kloster in Endenich interniert. Dora erhielt daher am 18.9.1941 einen Ausweis, der dokumentierte:„Dora Sara Philippson, ledig, Studienassessorin i.R. Kennkarte als Jüdin: Kassel A 00 180, ist auf Grund besonderer Anordnung der Gestapo nicht in die 'Gemeinschaft Kapellenstraße' aufgenommen und unterliegt daher auch nicht den besonderen Beschränkungen, denen die Angehörigen dieser Gemeinschaft unterworfen sind.“
Jedoch musste auch sie sich am 14.6.1942 im Endenicher Kloster einfinden, wo die meisten Bonner Juden bereits seit Monaten eingesperrt waren. Von dort wurden sie zusammen mit etwa 130 Menschen nach Köln gebracht und am 15. Juni im Güterwaggon in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Hier wurde Dora Philippson zur Nummer III/1-553 (III stand für Köln, 1 für den 1. Kölner Transport und 553 war ihre individuelle Nummer). Vom 16.6.-7.7.1942 waren alle drei Philippsons in Theresienstadt unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in der „Hannover-Kaserne“ einquartiert. Da im Lager für die unter 65-Jährigen Arbeitspflicht bestand, musste Dora zunächst bei den ankommenden Deportationszügen helfen. Am 7.7.1942 kam sie dann mit 18 Frauen in ein 26 Quadratmeter großes Zimmer. Als sie am 12.7.1942 weiter deportiert werden sollte, gab sie an, sich um ihren alten Vater kümmern zu müssen; außerdem teilte der „Hausälteste“ der jüdischen Verwaltung, die für die Zusammenstellung der Deportationslisten verantwortlich war, mit, dass sie als Arbeitskraft unentbehrlich sei. In den folgenden Monaten war sie für die Nöte, Ängste und Sorgen vor allem der alten Gefangenen zuständig und arbeitete auf der Krankenstation des Lagers, in die auch ihr Vater wegen seines schlechten Gesundheitszustands häufig gebracht wurde.
Am 1.10.1942 kamen alle drei Philippsons in die Unterkunft „Q 408“, wo sie ein eigenes kleines Zimmer mit Betten, Tisch und Bücherregalen erhielten. Diese Hafterleichterung war die Folge einer Nachfrage des international bekannten schwedischen Asienreisenden Sven Hedin (1865–1952), der mit Doras Vater in Berlin Geographie studiert hatte, bei den NS-Behörden nach dem Verbleib von Alfred Philippson. Hedin hatte sich nach seinem Kommilitonen aus Studienzeiten erkundigt, weil Kollegen und Verwandte Alfred Philippsons ihn mehrfach darum gebeten hatten. Sie hatten zu Recht angenommen, dass, wenn überhaupt jemand etwas erfahren und erreichen konnte, es der mit dem NS-Regime stark sympathisierende und mit Ministern des „Dritten Reiches“ befreundete Sven Hedin war. Die Privilegien, die die Philippsons daraufhin erhielten, konnten allerdings auch jederzeit von der SS widerrufen werden, was auch bedeutete, dass sie jederzeit in ein Vernichtungslager hätten deportiert werden können.
Alfred Philippson begann am 13.10.1942 mit den Aufzeichnungen seiner Lebenserinnerungen. Dora Philippson kümmerte sich weiter um Kranke, obwohl sie als „prominente Gefangene“ keinen Arbeitsdienst hätte leisten müssen. Nach der Befreiung schrieb sie, wie furchtbar die Zustände gewesen seien: Die verlausten Kranken hätten nicht isoliert werden können, die Menschen seien bei lebendigem Leib von den Läusen aufgefressen worden, viele wären an eitrigen Zellgewebsentzündungen gestorben, und es habe keine Möglichkeiten gegeben, die Toten schnell wegzuschaffen.
Kurz vor Kriegsende – am 20.4.1945 – wurden die Philippsons einzeln von der SS-Lagerleitung schriftlich aufgefordert, sich für eine Reisegruppe ins Ausland bereitzuhalten. Mit dem genauen Zeitpunkt der Abreise sei in kurzer Frist zu rechnen. Tatsache war, dass sie außerhalb des Lagers erschossen werden sollten. Doch da die Rote Armee näher rückte, übergab die SS Theresienstadt am 3.5.1945 dem Roten Kreuz, und die Erschießungen wurden nicht mehr durchgeführt.
Mangel an Lebensmitteln, fehlende sanitäre Anlagen und die vielen völlig geschwächten Überlebenden führten zu Seuchen, sodass Theresienstadt zunächst unter Quarantäne gestellt wurde. Erst am 10.7.1945 kehrten Dora Philippson, ihr Vater und seine Frau nach Bonn zurück. Da das Haus der Familie „arisiert“ und anderweitig vermietet sowie ihr Eigentum versteigert worden war, wurden sie vorübergehend von Freunden aufgenommen. 1946 konnten sie in eine Wohnung in der Endenicher Allee 21 ziehen. Von November 1945 bis Februar 1946 musste Dora Philippson wegen ihres schlechten Gesundheitszustands als Folge der KZ-Haft im Krankenhaus behandelt werden. Später wurde sie als Studienrätin dem Kollegium des städtischen Clara-Schumann-Gymnasiums zugeteilt, konnte aber wegen ihrer dauerhaft geschädigten Gesundheit nicht mehr unterrichten.
Sie half ihrem Vater bei den zahlreichen Eingaben an die Alliierten und an die Stadt Bonn, um das tägliche Leben zu organisieren, Recht und Besitz wiederzuerlangen und ihre Situation für ein „Wiedergutmachungsverfahren“ zu belegen. Es ist ein Brief erhalten, in dem ihr Vater das Standesamt bittet, die durch die NS-Gesetzgebung erzwungenen Namen „Israel“ und „Sara“ für die Familie rückgängig zu machen. Weil viele Unterlagen vernichtet waren, musste Dora sich vorläufige Zeugnisse und Dokumente ausstellen lassen, um bei der Abwicklungsstelle des früheren Oberpräsidenten der Nord-Rheinprovinz ihren persönlichen und beruflichen Werdegang zu belegen. Erhalten blieb das ausgefüllte umfangreiche Merkblatt zur Neuanlage von Personalakten, das sie der Abwicklungsstelle zurücksandte mit dem nachdrücklichen Vermerk: „Da trotz meines Judentums und meiner nach deutschen und britischen Richtlinien gültigen Anerkennung als rassisch Verfolgte von Ihnen ein politischer Fragebogen und Entnazisierung [sic!] gefordert worden ist, füge ich beides als Anlage bei. Ich möchte aber mit allem Nachdruck gegen die Anforderung und Form dieser 'Entnazisierung' durch deutsche Dienststellen protestieren; eine solche 'Entlastung' ist ein bitterer Hohn auf die Verfolgungen und Leiden, die im Namen des deutschen Volkes über mich wie alle meine Glaubensbrüder und = schwestern verfügt worden sind.“
In den folgenden Jahren war Dora Philippson maßgeblich am Wiederaufbau der Bonner Synagogengemeinde beteiligt. 1954 war sie Mitbegründerin der Bonner Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, deren Vorstand sie viele Jahre angehörte. 1955 gründete sie den Jüdischen Frauenverein in Bonn neu und versuchte die materielle Not zu lindern, die unter einigen Gemeindemitgliedern herrschte. Sie blieb ihr Leben lang aktives Mitglied in der Gemeinde und engagierte sich bis kurz vor ihrem Tod für die christlich-jüdische Zusammenarbeit. Dora Philippson starb am 18.8.1980 im Alter von 84 Jahren und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Bonn Ecke Römerstraße/Augustusring beerdigt.
Quellen
Archiv des Geographischen Instituts der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (AGIB) NL-Philippson 134-136.
Universitätsarchiv Bonn: Anmeldebuch und Exmatrikel GI Bn IX-62 und Exmatrikel vom 26.3.1920.
Alfred Philippson Collection Leo Baeck Institute New York.
Philippson, Alfred, Wie ich zum Geographen wurde. Aufgezeichnet im Konzentrationslager Theresienstadt zwischen 1942 und 1945, 2. Auflage, Bonn 2000.
Literatur
Adler, Hans Günther, Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1955.
Brandenburg, Beate/Mehmel, Astrid, Margarete Kirchberger, verheiratete Philippson, in: Kuhn, Annette [u.a.] (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium: Frauen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dortmund 1996, S. 156-159.
Mehmel, Astrid, Dora Philippson, in: Kuhn, Annette [u.a.] (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium: Frauen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dortmund 1996, S. 200-204.
Philippson, Alfred, Wie ich zum Geographen wurde. Aufgezeichnet im Konzentrationslager Theresienstadt zwischen 1942 und 1945. Hg. und kommentiert von Hans Böhm und Astrid Mehmel, Bonn 1996, 2. erweiterte und kommentierte Auflage, Bonn 2000.
Rothe, Valentine, Jüdinnen in Bonn 1933-1945, in: Kuhn, Annette (Hg.), Frauenleben im NS-Alltag. Bonner Studien zur Frauengeschichte, Pfaffenweiler 1994, S. 281-320.
Dora Philippson hat nach der Befreiung des Lagers 1945 in einem Bericht ihre Deportation und das Überleben in Theresienstadt geschildert. Dieser ist abgedruckt in: Rothe, Valentine: Jüdinnen in Bonn 1933-1945, in: Kuhn, Annette (Hg.), Frauenleben im NS-Alltag. Bonner Studien zur Frauengeschichte, Pfaffenweiler 1994, S. 303–320; er liegt außerdem in der Dauerausstellung der Gedenkstätte für die Bonner Opfer des Nationalsozialismus – An der Synagoge e.V. in der Franziskanerstraße 9 in Bonn aus.
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Mehmel, Astrid, Dora Philippson, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/dora-philippson/DE-2086/lido/57c95a53809125.71313918 (abgerufen am 09.12.2024)