Zu den Kapiteln
Schlagworte
Obwohl sie in Deutschland nie einen theologischen Lehrstuhl innehatte, gehörte Dorothee Sölle zu den bekanntesten Theologinnen des 20. Jahrhunderts. Sie selbst sah sich gerne als freischaffende „Theologiearbeiterin“ – und das hatte seinen Grund, fand sie doch gerade bei Menschen Gehör, die sich von der traditionellen Kirche verabschiedet hatten.
Dorothee Sölle wurde am 30.9.1929 als viertes von fünf Kindern des Juristen und Hochschullehrers Hans Carl Nipperdey (1895-1968), später Vorsitzender des Bundesarbeitsgerichts in Kassel, und seiner Frau Hildegard, geborene Eißer (1903-1990) in Köln geboren. Ihr Bruder war der Historiker Thomas Nipperdey. Die Familie gehörte dem liberalen Bürgertum an; dem Christentum begegnete man freundlich, aber distanziert, der Kirche eher kritisch. Die junge Dorothee genoss eine gute Bildung und spielte begeistert Klavier. 1949 begann sie ein Studium der Philosophie und Klassischen Philologie in Köln, wechselte aber zwei Jahre später zur evangelischen Theologie und Germanistik und führte ihre Studien in Freiburg und Göttingen fort.
Vor allem eine Frage hatte sie motiviert, sich der Theologie zuzuwenden: Wie war es möglich, dass das liberale Bürgertum – das Umfeld, aus dem sie selbst stammte – sich nicht entschiedener gegen Hitler zur Wehr setzte, wie konnte Auschwitz geschehen? In der Philosophie hatte sie sich mit dem Existenzialismus und dem Nihilismus, mit Friedrich Nietzsche (1844-1900), Martin Heidegger (1889-1976) und Jean-Paul Sartre (1905-1980), auseinandergesetzt, und es war der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) der ihr mit seinem Denken Mut machte, den Sprung in den Glauben zu wagen.
1954 heiratete Dorothee Sölle den Maler Dietrich Sölle (geboren 1922), von dem sie jedoch zehn Jahre später wieder geschieden wurde. Nach ihrem Staatsexamen verfasste sie eine Dissertation über die „Nachtwachen des Bonaventura“, in der sie ihr Interesse an Literatur und Theologie verbinden konnte. Der Promotion folgte eine Anstellung als Lehrerin für Deutsch und Religion an einer Kölner Mädchenschule, außerdem war sie als freie Mitarbeiterin für Rundfunk und Zeitschriften tätig. 1969 heiratete sie erneut, den ehemaligen Benediktinerpater Fulbert Steffensky (geboren 1933), mit dem sie 1970 eine weitere Tochter bekam. 1971 habilitierte sie sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln. Eine Hochschulkarriere blieb ihr jedoch ihrer theologischen und politischen Ansichten wegen in Deutschland verwehrt; auch ihr Lebensweg als alleinerziehende Mutter dreier Töchter mag dazu beigetragen haben. Zwischen 1972 und 1987 unterrichtete sie aber am Union Theological Seminary in New York auf dem Lehrstuhl von Paul Tillich (1886-1965) systematische Theologie und hatte weitere Gastprofessuren im Ausland inne.
1968 war sie Mitinitiatorin des Politischen Nachtgebets, das vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges erstmals auf dem Deutschen Katholikentag in Essen veranstaltet wurde. Politische Informationen und Diskussionen verbunden mit einer Meditation biblischer Texte und einer Predigt prägten die Veranstaltung, die bis 1972 monatlich in der Kölner Antoniterkirche durchgeführt wurde, nachdem der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings verboten hatte, das Nachtgebet in einer katholischen Kirche durchzuführen. Gesellschaftlich brisante Themen wie der Terrorismus der Baader-Meinhof-Gruppe, die Bundestagswahlen oder die Solidarität mit Lateinamerika prägten die Veranstaltung. Dorothee Sölle zog schon beim ersten Politischen Nachtgebet den Unmut sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirchenleitung auf sich, indem sie ein berühmt gewordenes, selbstverfasstes Glaubensbekenntnis sprach.
Für Dorothee Sölle gehörten Glauben und Politik, Beten und Handeln zusammen; „Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein“, formulierte sie in ihrer Autobiographie „Gegenwind“. Sie vertrat eine Theologie der radikalen Diesseitigkeit und plädierte für eine Entmythologisierung der Bibel. Das Wort Gottes war für sie nicht vom Leben zu trennen, ja, sie hielt Gottes Wirken in der Welt für gebunden an unser Handeln („Gott hat keine anderen Hände als unsere“).
Den Gekreuzigten fand sie im Vietnamkrieg – und nicht in sakralen Räumen hinter Kirchenmauern. Von Nietzsche übernahm sie den Gedanken vom Tod Gottes. Sie fragte sich, wie man „atheistisch an Gott glauben“ könne – ein Satz, der auch Titel eines ihrer Bücher wurde. Gott war für sie in der Kirche nicht mehr zu finden, wohl aber, so meinte sie, begegnet uns Christus als Stellvertreter Gottes in vielen Brüdern und Schwestern. Aus dem Wunsch nach einem christusförmigen Leben ergab sich für sie die Notwendigkeit einer widerständigen Mystik, wie auch eines ihrer letzten Bücher, „Mystik und Widerstand“, bezeugt, in dem sie sich damit befasste, „wie sich Mystiker verschiedener Zeiten zu und in ihrer Gesellschaft verhalten haben“.
Der Sprache der Wissenschaft misstraute sie, hielt deren religiöse Begrifflichkeit für erstarrt und theologisch entleert, weshalb sie nach neuen Ausdrucksweisen suchte, um über Gott reden zu können. In der Poesie, Malerei und Musik entdeckte sie eine nicht-religiöse Interpretation theologische Begriffe und Themen und erschuf selbst eine „Theopoesie“. Neben theologischen Büchern verfasste sie Gedichtbände und Rundfunkstücke. Sie reiste viel durch Deutschland, um in jeder noch so kleinen Gemeinde und in Volkshochschulen vorzutragen, und konnte mit ihrer entschiedenen und kraftvollen Sprache viele Menschen, gerade kirchenferne, mitreißen.
Nach wie vor hielt sie auch das Thema Holocaust und Nationalsozialismus in Atem und veranlasste sie, sich der Friedensbewegung zuzuwenden. In den 1980er Jahren machte sie sich stark gegen den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung. Zweimal wurde sie wegen versuchter Nötigung verurteilt; zum ersten Mal wegen ihrer Teilnahme an Sitzblockaden vor den Nato-Mittelstreckenraketen in Mutlangen, ein weiteres Mal im Zuge des Protests gegen US-amerikanische Giftgasdepots in Fischbach. 1983 provozierte sie einen Skandal, als sie vor dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Vancouver sagte: „Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Welt kommt; einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte“.
Sie interessierte sich auch für die lateinamerikanische Befreiungstheologie, unternahm Reisen nach Nicaragua und El Salvador und unterstützte Basisgemeinden und Widerstandsbewegungen. Die Befreiungstheologie weckte ihr verstärktes Interesse an der Bibel, vor allem dem Neuen Testament, dem sie sich fortan gemeinsam mit ihrer Freundin, der Neutestamentlerin Luise Schottroff (geboren 1934) widmete, mit der sie mehrere Bücher herausgab und auf Evangelischen Kirchentagen Bibelarbeiten und Diskussionen durchführte. Im Rahmen ihres gesellschaftspolitischen Interesses engagierte sie sich auch für den Feminismus und kämpfte für mehr Selbstbestimmung von Frauen in Kirche und Gesellschaft.
Gegen Ende ihres Lebens trat sie vermehrt gemeinsam mit ihrem Mann Fulbert Steffensky auf, der Professor für Religionspädagogik in Hamburg war. Er war bei ihr, als sie am 27.4. 2003 nach einer Lesung in Göppingen starb.
Werke (Auswahl)
Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem 'Tode Gottes', Stuttgart 1965, erweiterte Neuauflage 1982.
Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten und Freiburg, 1968.
Phantasie und Gehorsam. Überlegungen zu einer künftigen christlichen Ethik, Stuttgart, 1968.
Leiden, Stuttgart, 1973.
Die revolutionäre Geduld. Gedichte, Berlin, 1974.
Wählt das Leben, Stuttgart, 1980. Aufrüstung tötet auch ohne Krieg, Stuttgart, 1982.
Verrückt nach Licht. Gedichte, Berlin, 1984.
Lieben und arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung, Stuttgart, 1985 .
Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Stationen feministischer Theologie, München, 1987.
Es muss doch mehr als alles geben. Nachdenken über Gott, Hamburg, 1992.
Gegenwind. Erinnerungen, Hamburg, 1995.
Mystik und Widerstand - »Du stilles Geschrei«, Hamburg, 1997.
Literatur
Renate Wind, Dorothee Sölle, Rebellin und Mystikerin, Stuttgart 2008.
Ralph Ludwig, Die Prophetin, Wie Dorothee Sölle Mystikerin wurde, Berlin 2009.
Britta Baas, Johanna Jäger-Sommer, Dorothee Sölle, Eine feurige Wolke in der Nacht, Oberursel 2004.
Online
Dorothee Sölle, Biographie (Information auf der Website FemBio.org des FemBio Frauen-Biographieforschung e.V.). [Online]
Gedenkenseite Dorothee Sölle, dort u.a. die 12 bändige Werkausgabe im Audio-Stream. [Online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Streeck, Nina, Dorothee Sölle, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/dorothee-soelle/DE-2086/lido/57c9529636ad16.61654631 (abgerufen am 09.10.2024)