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Erich Zweigert zählt zu den bedeutendsten Oberbürgermeistern der Stadt Essen im 19. und 20. Jahrhundert. Während seiner Amtszeit von 1886 bis 1906 wurde Essen Großstadt (1896). Außerdem legte er den Grundstock für die Entwicklung Essens von einer wenig ansehnlichen Industriestadt zum Wirtschafts- und Verwaltungsmittelpunkt des Ruhrgebiets.
Zweigert, der am 25.2.1849 in Neustettin/Pommern als Sohn von Wilhelm (gestorben 1892) und seiner Ehefrau Julie geborene Kindorff geboren wurde, entstammte einer Juristenfamilie. Der Vater war Oberlandgerichts-Assessor und wurde später zum Appellationsgerichtspräsidenten in Berlin berufen. Die Familie war evangelisch. Nach dem Abitur Ostern 1869 am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin studierte Erich Zweigert 1869-1872 Rechtswissenschaft in Halle, Heidelberg und Berlin, wo er im September 1872 die erste juristische Staatsprüfung ablegte. Es folgte das Referendariat in Arnsberg, welches er mit der großen Staatsprüfung am 22.9.1877 abschloss. Seine weitere Laufbahn führte ihn als Hilfs-, Kreis- und Amtsrichter über die Stationen Berlin, Brilon und Warendorf am 1.10.1879 an das Amtsgericht Potsdam.
So sehr Zweigert auch in seinem späteren Wirken der ausgewiesene Jurist blieb, so befriedigte ihn seine Arbeit als Richter nicht sehr, weshalb er sich erfolgreich um das Amt des Ersten Bürgermeisters der Stadt Guben bewarb. Am 3.1.1881 wurde er in dem Amt bestätigt, am 28.11.1885 ihm der Oberbürgermeister-Titel verliehen. Aber schon bald suchte er einen größeren Wirkungskreis als den, den die Kleinstadt in der Niederlausitz bieten konnte, und er fand diesen in Essen. Seine Bewerbung war so überzeugend, dass die Stadtverordnetenversammlung ihn am 1.6.1886 ohne Gegenstimme zum Stadtoberhaupt wählte. Am 9. August wurde die Wahl bestätigt und am 2. Oktober erfolgte die Amtseinführung. Zweigert wurde am 14.1.1898 wiedergewählt und am 14. September erhielt er die erneute Bestätigung.
Essen hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Bevölkerungswachstum sondergleichen zu verzeichnen. Die Beschäftigungsmöglichkeiten im Bergbau und vor allem bei der Kruppschen Gussstahlfabrik zogen immer mehr Menschen an. Aus dem kleinen Landstädtchen mit gerade einmal 7.000 Einwohnern (1843) war beim Amtsantritt Zweigerts eine Industriestadt mit 66.000 Einwohnern geworden. Den Zustrom der Arbeitsmigranten und den hohen Geburtenüberschuss konnte die Stadt nur schwer verkraften. Die Wohnungsnot war groß, die Bevölkerungsdichte so hoch wie in kaum einer anderen deutschen Stadt und die Infrastruktur unzureichend. Obwohl Zweigert die Gestaltungsmöglichkeit eines Oberbürgermeisters als gering einstufte: „Wir können in der Verwaltung die Entwicklung der Städte nicht vorschreiben, sondern wir können ihr nur vorsichtig folgen und wir können hin und wieder an irgendeiner Stelle den Weg einmal wählen oder auch vielleicht ein wenig lenken nach der einen oder anderen Seite, im wesentlichen aber wird die Tätigkeit der Verwaltung immer eine nachfolgende sein und bleiben.“ Dennoch prägte er in den kommenden 20 Jahren die Stadtgeschicke ganz entscheidend.
Gemäß seiner Erkenntnis, dass nur große und räumlich ausgedehnte Gemeinden die anstehenden Probleme lösen könnten, widmete sich Zweigert seit seinem Amtsantritt der Vergrößerung des Stadtgebietes, das nur 1.023 Hektar umfasste. Doch die Eingemeindung der umliegenden Bürgermeistereien scheiterte vorerst am Widerstand des Landrates. Erst 1901 gelang es, die „würgenden Klammern“ des Landkreises (Brandi) zu sprengen und Altendorf anzugliedern. 1905 folgte das südlich gelegene Rüttenscheid. Essen zählte nun 230.000 Einwohner auf 2.549 Hektar.
Die Vergrößerung des Stadtgebietes schuf die Möglichkeit, das Siedlungsproblem aktiv mitzugestalten. Gegen heftigen Widerstand in der Stadtverordnetenversammlung vermochte es Zweigert, Boden seitens der Stadt aufzukaufen und damit die Wohnungspolitik mitzusteuern. Ebenso wurden durch Robert Schmidt neue Baupolizei-Verordnungen entworfen, mittels derer Fortschritte in gesundheitlicher, aber auch ästhetischer Hinsicht erzielt werden sollten. Da Zweigert die Verbesserung der Wohnverhältnisse als wichtigstes Moment zur Befriedung der Gesellschaft und zur Milderung der sozialen Spannungen ansah, engagierte er sich schon frühzeitig in diesem Bereich beim Verein für öffentliche Gesundheitspflege und beim Verein für Socialpolitik. Folgerichtig führte Essen auch als erste Stadt in Deutschland 1899 eine Wohnungsinspektion ein.
Für die Regeneration der Großstadtbewohner, besonders der Arbeiterbevölkerung, erachtete Zweigert einen nahegelegenen Stadtwald als wichtig. Auch in diesem Fall waren die Widerstände im Stadtrat zu überwinden, ehe er seine Pläne verwirklichen und die Waldflächen ankaufen konnte. Um seine Verdienste bei der Schaffung dieses bis heute genutzten Naherholungsbezirkes zu würdigen ließen Freunde hier 1909 einen Gedenkstein errichten.
Innovativ war Zweigert nicht allein bei der Wohnungsinspektion, sondern auch im Bereich des Tarifwesens. Als 1904 bei den Lohnkämpfen im Baugewerbe des Ruhrreviers die Arbeiter ausgesperrt wurden, kritisierte das Stadtoberhaupt die Arbeitgeber und wollte die Ausgesperrten unterstützen. Auf seine Initiative gab es dann Verhandlungen unter dem Vorsitz des Beigeordneten Otto Wiedfeldt (1871-1926), die mit einem Tarifabschluss für das gesamte Ruhrgebiet endeten.
Auch beim Bergarbeiterstreik 1905 bezog Zweigert eindeutig Position, indem er sehr zum Missfallen der „Schlotbarone“ bekundete, dass er „auf einem vollkommen abweichenden sozialpolitischen Standpunkt wie die Bergwerksunternehmer“ stünde: „Der rein privatrechtliche Standpunkt bezüglich des Arbeitsvertrages ist verkehrt.“ Aus solchen Äußerungen und Handlungen darf man aber nicht auf Sympathien Zweigerts für die organisierte Arbeiterbewegung schließen. Sein teilweises Entgegenkommen gegenüber den Belangen der Arbeiterschaft sollte vielmehr den Einfluss der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie schmälern, denen er in unzweifelhafter Gegnerschaft gegenüberstand.
Einen Ausgleich der sozialen Spannungen versprach er sich auch von einer stärkeren Beteiligung der Arbeiter an der Kommunalpolitik, weshalb er eine Reform, nicht die Abschaffung, des Dreiklassenwahlrechts forderte. Das gleiche Wahlrecht für alle Bürger lehnte er ab, weil es dazu führen würde, „dass ein Teil der Bürgerschaft die Gemeindelasten trägt, während ein anderer Teil, der nichts oder wenig dazu beigetragen hat, über die eingezahlten Steuern zu verfügen hätte. Die Gemeindeverwaltung würde dadurch zu einem Spielballe der politischen Parteien werden und die bisherige segensreiche und ruhige Entwickelung der preußischen Gemeinden würde durch die Einführung eines solchen Wahlsystems ganz sicherlich ernstlich gefährdet werden. Das Prinzip, die städtische Wählerschaft entsprechend der Steuerleistung in Klassen einzuteilen, darf daher nicht verlassen werden.“ Stattdessen plädierte Zweigert für die Einrichtung einer vierten Klasse.
Die Kritik am Verhalten der Arbeitgeber bei den Arbeitskämpfen bedeutete nicht, dass Zweigert industriefeindlich eingestellt gewesen wäre. Er hatte zwar seinen eigenen Kopf und Friedrich Alfred Krupp klagte, dass es nicht angenehm sei, „unter dem Zepter von Zweigert zu leben“, dennoch wusste der Oberbürgermeister nur zu genau, dass er seine politischen Vorstellungen nicht gegen die führenden Schichten in der Kommune, also gegen Krupp, die Gewerke und die Bauunternehmer, durchführen konnte. Er benötigte ihre Zustimmung und Unterstützung und so verbrachte er viel Zeit in der Gesellschaft „Verein“, wo alle wichtigen Entscheidungen vorbesprochen wurden.
Ohne Einverständnis und Beteiligung der Industrie wären auch nicht die überregionalen Wasserverbände – der Ruhrverband, der Ruhrtalsperrenverein und die Emschergenossenschaft – geschaffen worden, auf deren Gründung Zweigert maßgeblich Einfluss genommen hat. Ihm gelang es, die unterschiedlichen Interessen auszugleichen und die Kommunen, die Landkreise und die Industriebetriebe gemeinsam in die Verantwortung zu nehmen. Er arbeitete in langwierigen Verhandlungen den Vertragstext und die Statuten aus. In Anerkennung seiner Verdienste übertrug man ihm den Vorsitz in den Verbänden, die ihren Sitz bis heute in Essen haben.
Dank der Unterstützung durch Krupp und anderer Industrieller hatte Zweigert Erfolg bei der Ansiedlung von Verwaltungen. Die Eisenbahndirektion ließ sich ebenso wie das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE) und die Gelsenkirchener Bergwerks AG hier nieder. Diese Entwicklung Essens zu einem Dienstleistungsstandort konnte aber nur gelingen, wenn dazu bestimmte Voraussetzungen vorhanden waren: eine leistungsfähige Kommunalverwaltung, eine moderne Infrastruktur, eine ausreichende Zahl an Bildungs- und Fortbildungseinrichtungen, vielfältige Kulturangebote. Auf allen Gebieten gab es während der Amtszeit von Zweigert große Fortschritte, wenngleich sich die eine oder andere Entscheidung im Nachhinein als falsch erwiesen hat. Doch insgesamt ist die Leistungsbilanz beeindruckend.
Der Ausbau der Verwaltung ist nicht allein quantitativ beachtlich. Die Zahl der Beamten stieg von 91 (1885) auf 377 (1900) und vergrößerte sich in der Folgezeit nochmals um ein Vielfaches. Zweigert hatte zudem die Gabe, überaus qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen, unter denen Otto Wiedfeldt und Robert Schmidt (1869-1934) besonders herausragten.
Der Bau neuer höheren Schulen wurde energisch vorangetrieben. Zu nennen sind das Humboldt- und das Helmholtz-Gymnasium, die Luisen- und die Viktoriaschule. Doch dem Oberbürgermeister lag nicht allein die Fortentwicklung des höheren Schulwesens am Herzen, sondern ebenso hatte er sich um die Volksschulen gekümmert. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt nahm er die Verhandlungen mit den konfessionellen Gemeinden auf, um die Volksschulen auf den Kommunaletat zu übernehmen. Die Vereinheitlichung des Schulwesens erfolgte 1890 und bildete die Grundlage für den Bau vieler neuer Schulgebäude.
Kulturell hatte die Stadt bis 1886 wenig zu bieten, doch dann entstanden in rascher Folge: das Theater (1892), das städtische Orchester (1898), die städtische Bücherei (1904), das Museum der Stadt (1904) und als Veranstaltungsort der neue Saalbau (1904). Es war nicht allein die Stadt, die investierte. Zweigert zeigte sich in diesen Bereichen eher zurückhaltend. Ob hierfür sein nicht sehr stark ausgeprägtes kulturelles Interesse oder doch seine finanzielle Vorsicht ursächlich waren, sei dahingestellt. Es war daher ein Glücksfall, dass sich in vielen Fällen die Bürger der Stadt engagierten und die Finanzierung der Kultureinrichtungen übernahmen. So stiftete Friedrich Grillo das Theater, das in der Folgezeit von Krupp unterstützt wurde, und auch der Saalbau wurde nur dank der Spendenbereitschaft Essener Bürger – Friedrich Alfred Krupp wiederum an der Spitze – errichtet.
Zurückhaltung zeigte Zweigert auch bei zwei wichtigen Projekten. So scheute er sich, ein kommunales Elektrizitätswerk zu bauen oder eine Straßenbahn anzulegen, weil ihm das finanzielle Risiko zu hoch erschien. Später waren diese Entscheidungen nicht mehr zu revidieren, weil die Forderungen der Investoren, die eingesprungen waren, so überzogen waren, dass sie nur eine Beteiligung der Stadt am RWE beziehungsweise an der Süddeutschen Eisenbahngesellschaft zuließen.
Die zuletzt angesprochenen Punkte trüben etwas die Erfolgsbilanz, die dennoch beachtlich bleibt. Der Umbau der unansehnlichen Industriestadt war eingeleitet worden. Essen, das auch weiterhin von Krupp geprägt wurde, war aber mittlerweile schon eine moderne Großstadt geworden mit Sitz vieler Verwaltungen und Banken. Es besaß beachtliche Kultur- und Freizeiteinrichtungen, attraktive Einkaufsmöglichkeiten und Hotels. Dies war zwar nicht allein das Verdienst von Zweigert und seinen Mitarbeitern, doch er hatte einen Plan, wie sich Essen entwickeln, wie aus der großen Stadt eine Großstadt werden sollte. Dafür setzte er sich unermüdlich ein, betrieb Raubbau mit seinen Kräften, die allmählich schwanden, zumal Zweigert von Statur eher hager war.
1905 beantragte er zum ersten Mal aus gesundheitlichen Gründen seine Versetzung in den Ruhestand, was die Stadtverordnetenversammlung jedoch mit Entschiedenheit ablehnte. Doch weil sich sein Gesundheitszustand zusehends verschlechterte, nahmen die Stadtverordneten ein zweites Gesuch am 20.4.1906 gezwungenermaßen an. Zugleich verliehen sie ihm das Ehrenbürgerrecht, eine Auszeichnung, die ansonsten keinem Oberbürgermeister der Stadt zu Teil wurde. Nur wenige Wochen später, am 27.5.1906, starb Zweigert im Alter von 57 Jahren. Am gleichen Tag wurde im Saalbau das 42. Tonkünstlerfest eröffnet. Professor Max von Schillings (1868-1933) gedachte zu Beginn der Veranstaltung des Toten, anschließend dirigierte Richard Strauß (1864-1949) Mozarts Trauermusik.
1902 war Zweigert mit der Verleihung des Roten Adlerordens 2. Klasse mit Eichenlaub geehrt worden. Er hatte die Stadt Essen im Preußischen Herrenhaus und im Rheinischen Provinziallandtag vertreten.
Zweigert, der seit dem 25.7.1878 mit Therese Kessler (1853-1928) verheiratet gewesen war, hinterließ fünf Kinder. In den Nachrufen wurden seine rhetorischen Fähigkeiten und sein meisterhaftes Geschick, Verhandlungen zu leiten, betont. Insgesamt wurde „das unnatürliche Schaffen des Mannes“ gewürdigt, „der keine Rücksicht gegen sich kannte, dem das Wohl und das Gedeihen der Stadt als oberstes Gesetz galt“. Dieses Urteil hat auch heute noch Bestand.
Literatur
Annen, Gunther, Erich Zweigert und die Gründung der Emschergenossenschaft, in: Essener Beiträge 110 (1998), S. 69-134.
Bajohr, Frank, Zwischen Krupp und Kommune. Sozialdemokratie, Arbeiterschaft und Stadtverwaltung in Essen vor dem 1. Weltkrieg, Essen 1988.
Brandi, Paul, Der Aufstieg der Stadt Essen zur Industriemetropole. Eine Erinnerung an Oberbürgermeister Erich Zweigert, in: Essener Beiträge 60 (1940), S. 239-294.
Brandi, Paul, Erich Zweigert, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien 4 (1941), S. 187-216.
Romeyk, Horst, Die leitenden staatlichen und kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz 1816-1945, Düsseldorf 1994, S. 830-831.
Schröder, Ernst, Neue Beiträge zur Biographie Erich Zweigerts, in: Essener Beiträge 93 (1978), S. 215-227.
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Wisotzky, Klaus, Erich Zweigert, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/erich-zweigert/DE-2086/lido/5b9f98a5040bb6.94760043 (abgerufen am 10.10.2024)