Zu den Kapiteln
Ernst Meumann gilt als Begründer der Pädagogischen Psychologie und Experimentellen Pädagogik in Deutschland. Hierbei versuchte er, durch Experimente die geistige Leistungsfähigkeit von Kindern zu bestimmen und trat dafür ein, diese Erkenntnisse auch für die Schule zu nutzen.
Als Sohn des Pastors Friedrich Ewald Meumann (1831–1895) und seiner Frau Pauline-Henriette, geborene Röhrig (1832–1912), kam Ernst Friedrich Wilhelm Meumann am 29.8.1862 in Uerdingen (heute Stadt Krefeld) zur Welt. Nach Privatunterricht bei seinem Vater besuchte er zunächst das Realprogymnasium in Langenberg (heute Stadt Velbert), ab 1873 das Internatsgymnasium in Gütersloh und ab 1876 das Internatsgymnasium Elberfeld (heute Stadt Wuppertal). Dort bestand er Ostern 1883 das Abitur.
Meumann studierte in den folgenden Jahren an mehreren Universitäten und orientierte sich auch mehrfach fachlich um. Im Sommersemester 1883 begann er zunächst ein Studium der Philosophie und Kunstwissenschaft in Tübingen, wechselte zum Wintersemester 1883/1884 nach Berlin; im Wintersemester 1884/1885 und im folgenden Sommersemester studierte er evangelische Theologie in Halle, wo er dem Verein Deutscher Studenten (VDSt) beitrat (Austritt um 1900). Zum Wintersemester 1885/1886 ging er an die Universität Bonn. Unter Meumanns Leitung kam es dort im Sommersemester 1886 zur Wiedergründung des VDSt, dessen Vorsitz er in diesem Semester inne hatte. Im Januar 1887 entstand unter seiner Führung eine erfolgreiche Petition evangelischer Theologiestudenten gegen einen Antrag auf Befreiung von Theologen beider Konfessionen vom Dienst mit der Waffe, den die Zentrums-Reichstagsfraktion bei der Militärkommission des Reichstags eingebracht hatte. Nach den beiden theologischen Prüfungen im Herbst 1887 und Ostern 1889 in Koblenz legte Meumann im Herbst 1889 in Bonn das Oberlehrerexamen für die Fächer Religion, Hebräisch und Philosophische Propädeutik ab. Während seines Studiums hatte er sich jedoch im Zuge einer Glaubenskrise soweit von den christlichen Dogmen entfernt, dass er weder den Beruf des Pfarrers noch den des Religionslehrers ergreifen wollte. Nach einer Tätigkeit als Hauslehrer studierte er ab dem Wintersemester 1890/1891 an der Universität Tübingen kurzzeitig Naturwissenschaften und Medizin, kam jedoch aus ästhetischen Gründen mit der praktischen Anatomie nicht zurecht und brach das Studium nach kurzer Zeit ab. Stattdessen promovierte er an der Philosophischen Fakultät am 26.2.1891 zum Dr. phil. und studierte anschließend ab Ostern 1891 am Institut für experimentelle Psychologie der Universität Leipzig bei Wilhelm Wundt (1832–1920), dessen zweiter Assistent er 1893 und dessen erster Assistent er im Herbst 1894 wurde.
Am 30.4.1894 habilitierte sich Meumann für Psychologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig, wo er zum 1.10.1897 den Ruf auf ein Extraordinariat für Induktive Philosophie und Allgemeine Pädagogik erhielt und am 1.4.1900 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Zum 1.10.1905 wechselte er als Professor für Philosophie an die Universität Königsberg, zum 1.4.1907 an die Universität Münster. Zum 1.10.1909 nahm er einen Ruf nach Halle an, schied jedoch 1910 wieder aus, um eine ordentliche Philosophieprofessur in Leipzig anzutreten. Bereits zum 1.10.1911 ging er als Professor für Philosophie und Pädagogik an das Kolonialinstitut Hamburg. Neben seiner dortigen Professur kümmerte er sich auch um die Ausbildung der Volksschullehrer in experimenteller Psychologie. Hierfür gründete er das Psychologische Institut, über das er besonders durch eine Verbindung mit Hamburger Lehrern seine wissenschaftliche Arbeit entfaltete. 1911 gehörte er zu den Mitbegründern des Bundes für Schulreform, in dessen Vorstand er eintrat.
Meumann betrachtete die Pädagogik als eine empirische Wissenschaft und verteidigte daher die Errichtung pädagogischer Lehrstühle an Universitäten. Als Erziehungswissenschaft wies er der Pädagogik vier Aufgaben zu: die Untersuchung der Zöglinge als Gegenstand der Erziehung, die Untersuchung der verschiedenen Arten der Erziehungstätigkeit, die Untersuchung der Erziehung in Familien beziehungsweise staatlichen Anstalten sowie die Untersuchung der Erziehungsziele. Erziehung selbst definierte er als Vorbereitung auf die aktive Teilnahme an allen menschlichen Zielen und Idealen. Das Streben der Erziehung sollte „am Kinde“ verwirklicht werden und sich die Erziehungsarbeit „vom Kinde aus“ vollziehen. Hierfür bedurfte es seiner Ansicht nach eines empirischen Unterbaus, um Kenntnisse und Grundsätze für die Erziehungsarbeit zu gewinnen, den die experimentelle Pädagogik liefern sollte. Um dies zu gewährleisten, sollte die experimentelle Pädagogik die unterschiedliche geistige und körperliche Entwicklung von Schulkindern sowie ihre Begabungen und ihr Verhalten bei der Schularbeit erforschen. Damit ging auch eine Untersuchung der Tätigkeit der Lehrer einher. Aus diesem Punkt entwickelte sich sein Grundsatz, dass die Verbesserung der („Lern-“)Schulen von der verbesserten Bildung der Lehrer ausgehe.
1914 gründete er das Hamburger Institut für Jugendkunde zu deren zentralen und überregionalen wissenschaftlichen Koordination. Um der Diskussion um methodische Fragen eine Plattform zu bieten, hatte er bereits 1903 das Archiv für die gesamte Psychologie mitbegründet und war ab 1911 Mitherausgeber der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und Experimentelle Pädagogik. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs handelte seine letzte größere Arbeit „Über Volkserziehung auf nationaler Grundlage“. Sein darin skizziertes Volkserziehungsprogramm beruhte maßgeblich auf der aus seiner Sicht einigenden Kraft des Nationalbewusstseins.
Der ledig Gebliebene starb am 26.4.1915 in Hamburg an den Folgen einer Lungen- und Rippenfellentzündung kurz vor einer USA-Reise zur Annahme der Ehrendoktorwürde der Universität New York. Er hinterließ dem Philosophischen Seminar und Psychologischen Laboratorium der Universität Hamburg seine umfangreiche wissenschaftliche Privatbibliothek. Der Bestand blieb größtenteils erhalten und ist heute in den Bibliotheken der Psychologie, Philosophie und der Erziehungswissenschaften zu finden.
Werke
Die Petition der evangelischen Theologen an den Reichstag, in: Akademische Blätter 1 (1886/87), S. 173-174.
Das Resultat der Petition der evangelischen Theologie-Studierenden an den Reichstag, in: Akademische Blätter 1 (1886/87), S. 194.
Das Grundgesetz der Assoziation und Reproduktion der Vorstellungen, Diss. Univ. Tübingen 1891.
Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhythmus, Habil.-Schrift Leipzig 1894.
Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde, Leipzig 1902.
Die Sprache des Kindes, Zürich 1903.
Haus- und Schularbeit. Experimente an Kindern der Volksschule, Leipzig 1904.
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene im Bereiche des Gedächtnisses, Leipzig 1904.
Das Schulkind in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung, Leipzig 1906.
Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, 2 Bände, Leipzig 1907.
Einführung in die Ästhetik der Gegenwart, Leipzig 1908.
Über Ökonomie und Technik des Lernens, 2. Auflage, Leipzig 1908.
Intelligenz und Wille, Leipzig 1908.
Über Institute für Jugendkunde und die Gründung eines Instituts für Jugendforschung in Hamburg, Leipzig 1912.
System der Ästhetik, Leipzig 1914.
Abriß der experimentellen Pädagogik, Leipzig 1914.
Über Volkserziehung auf nationaler Grundlage, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 16 (1915), S. 161-185.
Zeitfragen deutscher Nationalerziehung. Sechs Vorlesungen, Leipzig 1917.
Herausgeberschaft
[zusammen mit] Hösch-Ernst, L., Das Schulkind in seiner körperlich und geistigen Entwicklung, Teil 1, Leipzig 1906.
Archiv für die gesamte Psychologie. [Herausgeber 1903-1915].
Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und Experimentelle Pädagogik [Mitherausgeber ab 1911].
Pädagogisch-psychologische Forschungen, Leipzig 1912 (Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Ergänzungsheft 1).
Literatur
Deutsche Biographische Enzyklopädie, Band 7, München 1998, S. 93-94.
Felsch, Meumann und Herbarts Psychologie, in: Jahrbuch des Vereins für Wissenschaftliche Pädagogik 42 (1910), S. 148-244.
Hehlmann, Wilhelm, Pädagogisches Wörterbuch, Leipzig 1931, S. 136; 3. Auflage, Stuttgart 1942, S. 284.
Hering, Rainer, Ernst Meumann, in: Hamburgische Biografie, Band 2, Hamburg 2003, S. 283-284.
Kubbe, Karl, Charakterbildung bei Herbart und Meumann. Speziell die Bedeutung des Vorstellungslebens für die Charakterbildung, Langensalza 1912.
Kunz, M., Antwort auf die Nachbemerkungen von Herrn Prof. Dr. Meumann im 12. Bande der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik und im 13. Bande zu den Verfassten Arbeiten über das Ferngefühl Blinder, Taubblinder und Vollsinniger, Mülhausen 1912.
Moede, Walther, Erwiderung auf die kritischen Entwicklungen Prof. Külpe's betreffend Prof. Meumann, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 17 (1916), 3, S. 166-170.
Müller, Paul, Ernst Meumann als Begründer der experimentellen Pädagogik, Diss. Univ. Zürich 1942.
Münch, W., Die Experimentalpädagogik nach Meumann, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 10 (1908/09), S. 254-257.
Pakulla, Rudolf, Über Grundsätze und Methoden pädagogischer Forschung bei Ernst Meumann und Wilhelm August Lay, Diss. Univ. Rostock 1956.
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Probst, Paul, Ernst Friedrich Wilhelm Meumann, in: Lück, Helmut E. (Hg.), Illustrierte Geschichte der Psychologie, München 1993, S.118-123.
Probst, Paul/Bringmann, Wolfgang G., Ernst Meumann und William Stern. Analyse ihres Wirkens in Hamburg (1910–1933) unter Berücksichtigung biographischer und soziokultureller Hintergründe, Geschichte der Psychologie. Nachrichtenblatt deutschsprachiger Psychologen 10 (1993), Heft 1, S. 1-14.
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Nachrufe
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Busemann, K., Ernst Meumann †, in: Zeitschrift für Kinderforschung. Organ der Gesellschaft für Heilpädagogik und des Deutschen Vereins zur Fürsorge für Jugendliche Psychopathen 20 (1915), S. 530-534.
Nachruf Ernst Meumann, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 16 (1915), S. 209-210.
Scheibner, Otto, Die Arbeitsschule im Gedenken an Ernst Meumann, in: Die Arbeitsschule. Monatsschrift des Deutschen Vereins für Werktätige Erziehung 29 (1915), S. 161-167.
Wundt, Wilhelm, Zur Erinnerung an Ernst Meumann, in: Die Arbeitsschule. Monatsschrift des Deutschen Vereins für Werktätige Erziehung 29 (1915), S. 211-214.
Fischer, Aloys, Ernst Meumann und sein Werk, in: Die Arbeitsschule. Monatsschrift des Deutschen Vereins für Werktätige Erziehung 29 (1915), S. 214-227.
Brahn, Max, Ernst Meumann und die Organisation zur Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik, in: Die Arbeitsschule. Monatsschrift des Deutschen Vereins für Werktätige Erziehung 29 (1915), S. 227-232.
Külpe, Oswald, Ernst Meumann und die Ästhetik, in: Die Arbeitsschule. Monatsschrift des Deutschen Vereins für Werktätige Erziehung 29 (1915), S. 232-238.
Meumann, Friedrich, In Gedenken an Ernst Meumanns Studienzeit, in: Die Arbeitsschule. Monatsschrift des Deutschen Vereins für Werktätige Erziehung 29 (1915), S. 257-262.
Petersdorff, Herman v., Ernst Meumann, in: Akademische Blätter 30 (1915/16), S. 66.
Schlager, Paul, Ernst Meumann, sein Leben und Werk, in: Monatshefte für deutsche Sprache und Pädagogik 17 (1916), S. 347-351.
Störring, Gustav, Nachruf für Ernst Meumann, in: Archiv für die gesamte Psychologie 34 (1915), S. V-XIV.
Online
Forster, Peter, Ernst Meumann, in: Neue Deutsche Biographie, Band 17, Berlin 1994, S. 265-266. [Online]
Catalogus-professorum-halensis. [Online]
Professorenkatalog der Universität Leipzig. [Online]
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Zirlewagen, Marc, Ernst Meumann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ernst-meumann/DE-2086/lido/57c94e5414b3c2.75587681 (abgerufen am 13.12.2024)