Eugen Richter

Liberaler Parlamentarier im Kaiserreich (1838-1906)

Jürgen Frölich (Gummersbach/Bonn)

Eugen Richter, Porträtfoto.

Eu­gen Rich­ter ge­hör­te in der spä­ten Bis­marck-Zeit und zu Be­ginn der wil­hel­mi­ni­schen Ära ne­ben Au­gust Be­bel und Lud­wig Wind­t­horst (1812-1891) zu den be­kann­tes­ten Op­po­si­ti­ons­po­li­ti­kern. Als füh­ren­des Mit­glied der Deut­schen Fort­schritts­par­tei er­wies er sich als ein ve­he­men­ter Kri­ti­ker des Kul­tur­kamp­fes und der So­zia­lis­ten­ge­setz­ge­bung wie auch des au­ßen­po­li­ti­schen Kur­ses des Reichs­kanz­lers Ot­to von Bis­marck (1815-1898) und sei­ner Nach­fol­ger.

Eu­gen Rich­ter wur­de am 30.7.1838 in Düs­sel­dorf als Sohn des preu­ßi­schen Mi­li­tär­arz­tes Adolf Leo­pold Rich­ter ge­bo­ren. Sei­ne Ju­gend ver­leb­te er im Rhein­land und be­such­te das Gym­na­si­um in Ko­blenz. Nach dem Ab­itur stu­dier­te er von 1856 bis 1859 Rechts­wis­sen­schaf­ten in Ber­lin, Hei­del­berg und Bonn. Sei­ne ju­ris­ti­sche Kar­rie­re im Staats­dienst, un­ter an­de­rem als Re­fe­ren­dar beim Re­gie­rungs­prä­si­den­ten in Düs­sel­dorf, en­de­te je­doch schon nach we­ni­gen Jah­ren, weil er sich in sa­ti­ri­schen Schrif­ten kri­tisch mit bü­ro­kra­ti­sche Hür­den und der Be­schrän­kung der Ge­wer­be­frei­heit aus­ein­an­derg­setzt hat­te. We­gen sei­ner li­be­ra­len Ge­sin­nung wur­de 1864 auch sei­ne Wahl zum Bür­ger­meis­ter von Neu­wied durch den preu­ßi­schen Kö­nig und spä­te­ren Kai­ser Wil­helm I. (Re­gent­schaft 1858-1888) nicht be­stä­tigt. Ot­to von Bis­marck soll die­se Ent­schei­dung spä­ter an­ge­sichts der häu­fi­gen par­la­men­ta­ri­schen und pu­bli­zis­ti­schen At­ta­cken Rich­ters sehr be­dau­ert ha­ben.

Bald dar­auf ver­leg­te Rich­ter sei­nen Le­bens­mit­tel­punkt nach Ber­lin und wur­de zu ei­nem der ers­ten Be­rufs­po­li­ti­ker in Deutsch­land, der vor al­lem von sei­ner Pu­bli­zis­tik, un­ter an­de­rem als Her­aus­ge­ber der „Frei­sin­ni­gen Zei­tung", leb­te. „Von al­len Rück­sich­ten los und le­dig, war ich nun­mehr mei­nem in­ners­ten Be­ruf zu­rück­ge­ge­ben, nach mei­ner ei­gens­ten selb­stän­di­gen Über­zeu­gung in Wort und Schrift zur Ver­bes­se­rung der Zu­stän­de im Ge­mein­we­sen mit­zu­wir­ken", hei­ßt es da­zu in Rich­ters Le­bens­er­in­ne­run­gen. 1867 wur­de er als Ab­ge­ord­ne­ter des mit­tel­deut­schen Wahl­krei­ses Schwarz­burg-Ru­dol­stadt erst­mals in den kon­sti­tu­ie­ren­den Reichs­tag des Nord­deut­schen Bun­des ge­wählt. Dort mach­te er sich bald ei­nen Na­men als fi­nanz­po­li­ti­scher Fach­mann. Von 1871 bis zu sei­nem Tod im Jahr 1906 ge­hör­te er dem Deut­schen Reichs­tag an und ver­trat ab 1874 den Wahl­kreis Ha­gen-Schwelm. 1875 über­nahm Rich­ter den Frak­ti­ons­vor­sitz der links­li­be­ra­len Deut­schen Fort­schritts­par­tei, ei­ne Funk­ti­on, die er trotz or­ga­ni­sa­to­ri­scher Ver­än­de­run­gen im Links­li­be­ra­lis­mus prak­tisch bis zu sei­nem Le­bens­en­de in­ne­hat­te. Rich­ter galt als en­er­gi­scher Kri­ti­ker von Bis­marcks In­nen- und Au­ßen­po­li­tik; sei­ne op­po­si­tio­nel­le Hal­tung setz­te sich aber auch un­ter spä­te­ren Reichs­kanz­lern fort. So lehn­te er – vor al­lem aus fi­nan­zi­el­len Er­wä­gun­gen – ein deut­sches Aus­grei­fen nach Über­see im­mer ab. Ob­wohl ge­bür­ti­ger Rhein­län­der und auch spä­ter dem Wes­ten Deutsch­lands, un­ter an­de­rem über sei­nen lang­jäh­ri­gen Reichs- und Land­tags-Wahl­kreis Ha­gen, wei­ter­hin ver­bun­den, kon­sta­tier­ten so­wohl Zeit­ge­nos­sen als auch spä­te­re His­to­ri­ker bei Eu­gen Rich­ter so­wohl po­li­tisch als auch per­sön­lich mehr „preu­ßi­sche" als „rhei­ni­sche Zü­ge": Als Par­tei­füh­rer lag sei­ne Stär­ke eher im Po­la­ri­sie­ren als im In­te­grie­ren, was nicht oh­ne Fol­gen auf den or­ga­ni­sa­to­ri­schen Zu­sam­men­halt des Links­li­be­ra­lis­mus blieb. So war haupt­säch­lich sei­ne Per­son 1893 Ur­sa­che für die Spal­tung der Links­li­be­ra­len in zwei „frei­sin­ni­ge" Frak­tio­nen. Nicht un­um­strit­ten im ei­ge­nen La­ger war auch die von ihm be­vor­zug­te Tak­tik, den Li­be­ra­lis­mus so­wohl ge­gen den Kon­ser­va­ti­vis­mus als auch die So­zi­al­de­mo­kra­tie in Stel­lung zu brin­gen. Un­ter sei­ner Ägi­de ge­lang es nicht, in dem ent­ste­hen­den breit­ge­fä­cher­ten Par­tei­en­spek­trum für den Links­li­be­ra­lis­mus neue Wäh­ler­schich­ten zu er­schlie­ßen, was sich bei ei­ner schnell an­stei­gen­den Wahl­be­tei­li­gung ne­ga­tiv auf die par­la­men­ta­ri­sche Po­si­ti­on der Li­be­ra­len aus­wirk­te. Rich­ter selbst hat dies nicht un­be­dingt ne­ga­tiv ge­se­hen; in ei­ner Lau­da­tio auf sei­nen Ge­sin­nungs­freund Ru­dolf Vir­chow (1821-1902) mein­te er 1896: „Es ge­reicht uns zur Eh­re, weil wir des­halb we­ni­ger ge­wor­den sind, weil wir uns nie­mals ein­ge­las­sen ha­ben auf Kom­pro­mis­se."

Po­si­tiv wird da­ge­gen vor al­lem von vie­len heu­ti­gen Li­be­ra­len Rich­ters an­hal­ten­der Wi­der­stand ge­gen die Ein­rich­tung ei­nes staat­lich ge­lenk­ten Wohl­fahrt­sys­tems mit Zwangs­mit­glied­schaf­ten an­ge­se­hen. Sei­ne dies­be­züg­li­che Streit­schrift „So­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Zu­kunfts­bil­der – frei nach Be­bel" von 1891 hat­te eben­so wie sein mehr­fach auf­ge­leg­tes „Po­li­ti­sches ABC-Buch. Ein Le­xi­kon par­la­men­ta­ri­scher Zeit- und Streit­fra­gen" durch­aus Best­sel­ler-Cha­rak­ter. Rich­ters wirt­schafts­po­li­ti­schem Cre­do vom Vor­rang von Markt und Han­dels­frei­heit ent­sprach so­zi­al­po­li­tisch sein Glau­be an Frei­wil­lig­keit und Ei­gen­in­itia­ti­ve. So führ­te er in ei­ner Reichs­tags­re­de 1879 nicht al­lein auf den Schutz­zoll ge­münzt aus: „das Ver­spre­chen von Staats­hil­fe, dass al­les bes­ser wer­den wür­de durch den Zoll­ta­rif, ist ei­ne so­zia­lis­ti­sche (Me­tho­de), nicht ge­eig­net, die Ar­beits­lust, die Selbst­tä­tig­keit, die En­er­gie in den Pro­duk­ti­ons­krei­sen wach­zu­ru­fen".

Als ei­nen Akt der von Rich­ter zeit sei­nes Le­bens hoch­ge­hal­te­nen „frei­wil­li­gen So­li­da­ri­tät" kann man auch den Um­stand be­wer­ten, dass er, der ein­ge­fleisch­te Jung­ge­sel­le, im Al­ter von 63 Jah­ren die Wit­we ei­nes lang­jäh­ri­gen po­li­ti­schen Le­bens­ge­fähr­ten hei­ra­te­te, um die­se zu ver­sor­gen.

Im aus­ge­hen­den Kai­ser­reich galt Eu­gen Rich­ter als Ver­kör­pe­rung ei­nes deut­schen Li­be­ra­len, wie ihn bei­spiels­wei­se Hein­rich Mann (1871-1950) in sei­nem kurz vor dem Ers­ten Welt­krieg ent­stan­de­nen be­rühm­ten Ro­man „Der Un­ter­tan" ge­zeich­net hat. Ins­ge­samt war Rich­ters Po­li­tik und Stra­te­gie durch ei­nen de­fen­si­ven Cha­rak­ter ge­kenn­zeich­net, vor al­lem als sich 1888 durch den frü­hen Tod von Kai­ser Fried­rich III. (Re­gent­schaft 1888) die Hoff­nun­gen auf ei­nen li­be­ra­len Wech­sel an der Staats­spit­ze end­gül­tig zer­schlu­gen. Fried­rich Nau­mann (1860-1919) schrieb in sei­nem Nach­ruf auf den „Reichs­kri­ti­kus" Rich­ter: „Er hat­te das Schick­sal, das Rück­zugs­ge­fecht des deut­schen Li­be­ra­lis­mus füh­ren zu müs­sen und konn­te da­bei we­nig wirk­lich fro­he Ta­ge er­le­ben." Nau­mann sorg­te selbst da­für, dass der Links­li­be­ra­lis­mus nach Rich­ters Tod im März 1906 zu­nächst sich wie­der­ver­ein­te und dann ei­ne of­fe­ne­re Hal­tung zur kai­ser­li­chen Po­li­tik, da­mit auch zur Ko­lo­ni­al­po­li­tik und zum Wohl­fahrts­staat ein­nahm. Ob da­durch der Links­li­be­ra­lis­mus sei­ne po­li­ti­sche Po­si­ti­on mit­tel­fris­tig deut­lich hät­te ver­bes­sern kön­nen, lässt sich im heu­te nicht mehr ent­schei­den, da der Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs auch in­nen­po­li­tisch die Rah­men­be­din­gun­gen voll­kom­men ver­än­der­te.

Sei­ner rhei­ni­schen Hei­mat hat sich Eu­gen Rich­ter auch nach vie­len Jahr­zehn­ten in Ber­lin gern er­in­nert. Über sei­ne Gym­na­si­al­zeit hei­ßt es in den „Ju­gend­er­in­ne­run­gen": „(A)uch heu­te noch dan­ke dem Ko­blen­zer Gym­na­si­um die nach­hal­ti­ge Ge­wöh­nung an erns­tes und aus­dau­ern­des Ler­nen." Und zu sei­ner Ge­burts­stadt kann man an glei­cher Stel­le le­sen: „Auch sonst hat es im hei­te­ren Düs­sel­dorf nie­mals an Ge­le­gen­heit zur Ge­sel­lig­keit ge­fehlt."

Eu­gen Rich­ter starb am 10.3.1906 in Ber­lin Lich­ter­fel­de.

Schriften (Auswahl)

Im al­ten Reichs­tag, 2 Bän­de, Ber­lin 1894
Ju­gend­er­in­ne­run­gen, Ber­lin 1892
Der li­be­ra­le Ur­wäh­ler oder was man zum Wäh­len wis­sen muß. Po­li­ti­sches Hand­büch­lein nach dem ABC ge­ord­net, Ber­lin 1879
So­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Zu­kunfts­bil­der - frei nach Be­bel, Ber­lin 1891/Nach­druck 2006

Literatur

Doering, Det­mar, Eu­gen Rich­ters Be­deu­tung für die Ge­gen­wart, in: Jahr­buch zur Li­be­ra­lis­mus-For­schung 19 (2007), S. 211-223.
Kie­se­ritz­ky, Wolt­her von, Li­be­ra­lis­mus und So­zi­al­staat. Li­be­ra­le Po­li­tik in Deutsch­land zwi­schen Macht­staat und Ar­bei­ter­be­we­gung, Köln/Wei­mar 2002.
Lo­renz, Ina Su­san­ne, Eu­gen Rich­ter. Der ent­schie­de­ne Li­be­ra­lis­mus in wil­hel­mi­ni­scher Zeit 1871 bis 1906, Hu­sum 1981.

Online

Eu­gen Rich­ter in der Da­ten­bank der deut­schen Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten (In­for­ma­ti­ons­por­tal der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek). [On­line]
Web­site des Eu­gen-Rich­ter-Ar­chivs. [On­line]

 
Zitationshinweis

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Frölich, Jürgen, Eugen Richter, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/eugen-richter/DE-2086/lido/57cd1f647a93d1.45330922 (abgerufen am 24.04.2024)