Zu den Kapiteln
Einleitung
Die aus Hessen stammende, im 17. Jahrhundert sich nach Westfalen und ins Rheinland ausbreitende Familie ist vor allem durch ihre im Textilgewerbe tätigen Mitglieder bekannt, die im zweiten und dritten Drittel des 18. Jahrhunderts insbesondere die Monschauer Tuchmacherei zu einer der führenden in der Feintuchbranche machten, danach in verschiedenen Textil- und anderen Industriezweigen unternehmerisch tätig wurden und sich in- wie außerhalb Europas verzweigten. Der Name Scheibler verbindet sich heute vor allem mit dem Museum „Rotes Haus“ in Monschau, dem Denkmal einer bürgerlicher Wohnkultur, die sich noch sehr stark am Adel orientierte.
1. Anfänge der Familie Scheibler
Erste Mitglieder der noch heute in ununterbrochener Nachkommenfolge bestehenden Familie Scheibler (Scheybeler, Scheble[h]r, Schibeller) sind ab 1360 in der Gegend um Kassel urkundlich nachweisbar; um 1500 treten sie mit Johannes Scheibler (um 1490-1559) als angesehene, mit Einführung der Reformation in Hessen protestantische Familie im oberhessischen Städtchen Gemünden an der Wohra bei Marburg in Erscheinung. Im 16. und 17. Jahrhundert sind die Scheiblers eine einflussreiche Pastoren- und Gelehrtenfamilie mit reich verzweigten Beziehungen im protestantischen Bürgertum.
Zu den bekanntesten Familienmitgliedern dieser Anfangszeit gehören Johannes (1529-1594), Sohn des erwähnten Johannes und wohlhabender Bürger, Ratsmitglied und Kirchenältester der lutherischen Gemeinde in Gemünden, sein Sohn, der Magister Johannes (der Ältere) (1553-1597), lutherischer Pastor in Armsfeld (Waldeck), sowie dessen Sohn Christoph (1589-1653), Professor und Dekan der philosophischen Fakultät in Gießen und ab 1625 Superintendent in Dortmund. Mit ihm, der einen Zweig der Familie ins Westfälische verpflanzte, beginnt eine lange Reihe evangelischer Pastoren in der im 17. und 18. Jahrhundert sehr fruchtbaren Familie, aus der insgesamt 24 Pfarrer hervorgegangen sind; 25 Scheibler-Töchter heirateten Pfarrer.
Unter den Nachkommen des Magisters Christoph ragt heraus sein Sohn Johannes Scheibler der Jüngere (1628-1689), Professor in Giessen, der 1654 als Generalsuperintendent der lutherischen Kirchen in Jülich-Berg nach Lennep (heute Stadt Remscheid) ins Bergische verzog und damit die Familie auch im Rheinland heimisch machte. Durch seine Amtstätigkeit knüpfte er intensive Kontakte zu den Eifeler Gemeinden. 1677 ordinierte er seinen Neffen Arnold Heinrich (1646-1707) als Pfarrer von Gemünd und Menzerath; dessen Bruder Nikolaus Bernhard (1661-1721) wurde Pfarrer in Zweifall. Damit war der Bezug der Familie zum Monschauer Land hergestellt.
2. Die Monschauer Scheiblers: Formierung einer Tuchmacher- und Industriellendynastie
Mit dem Enkel von Johannes dem Jüngeren, Johann Heinrich Scheibler (1705-1765), beginnt die familiäre Epoche der Tuchmacher (Kaufleute) und Industriellen. Sein Vater Bernhard Georg (1674-1743) war Pastor in Volberg und Superintendent im Oberbergischen. Über familiäre Kontakte vermittelt, absolvierte Johann Heinrich eine kaufmännische Lehre beim Imgenbroicher Tuchfabrikanten Mathias Offermann (1672-1744), dessen Tochter Maria Agnes (1698-1752) er 1724 heiratete und somit in eine Monschauer Tuchfabrik eintrat, in der sich die drei führenden Tuchmacherfamilien Offermann, Schmitz und Schlösser verbanden. Seine Bedeutung für die lokale Tuchherstellung lag darin, dass er als erster überregionale Vertriebswege über Exportmessen (unter anderem Frankfurt am Main und Leipzig) fand und aus dem Monschauer Tuch einen Markenartikel machte. Das gelang durch Verbesserungen der Fabrikationsmethoden und das Aufgreifen von Modetrends mit der Spezialisierung auf Luxusartikel. Mit dem Bau des „Roten Hauses“, das er selbst nicht mehr bezog und das 1963 durch einen Nachkommen in eine Stiftung eingebracht wurde (heute Museum), schufen sich die Scheiblers in Monschau ein bleibendes Denkmal. Andere Feintuchmacher vor Ort übernahmen erfolgreich Johann Heinrichs Fabrikations- und Absatzmethoden und bauten damit den überregionalen Ruf des Städtchens als Metropole exquisiter Tuchmacherei im 18. Jahrhundert weiter aus.
Der Textilherstellung widmeten sich vier Söhne von Johann Heinrich: Bernhard Georg (1724-1786), Paul Christoph (1726-1797), Johann Ernst (1731-1773) und Wilhelm (1737-1797), zudem mindestens sieben Enkel. Johann Heinrichs Bruder Wilhelm Wimar Gerhard (1715-1803) zeigte ebenfalls großes kaufmännisches Talent und wurde 1757 Direktor der „Kgl. Preußischen Tuchfabrique“ unter Friedrich dem Großen (Regierungszeit 1740-1786). Alle Söhne Johann Heinrichs, die zeitweise in der väterlichen Firma tätig waren, begründeten eigene Unternehmen, teilweise außerhalb des Rurstädtchens. Bernhard Georg errichtete Tuchmanufakturen in Hagen und Herdecke, sein Sohn Bernhard Paul (1758-1805) wurde Tuchfabrikant in Monschau und Eupen. 1793 oder 1797 ließ er in Monschau eine geschlossene Fabrikationsanlage („Fabrik“) mit Wasserantrieb errichten, in der alle Produktionsschritte vom Spinnen bis zur Appretur vereinigt waren.
Der kaufmännische Erfolg zog weitere Verwandte nach, so Johann Heinrichs Neffen Peter Christoph (1752-1809) sowie Johann Karl Wilhelm (1783-1847), ein entfernter Verwandter, dessen Sohn Karl Wilhelm (1820-1881) 1854 in Lódź die erste und die ab 1867 größte mechanische Baumwollweberei Polens gründete. In Monschau organisierten die diversen Scheibler-Nachkommen ab circa 1807 in Zusammenarbeit mit den verschwägerten Cockerills die Maschinisierung der Wollspinnerei und Tuchproduktion. Die direkten Nachkommen von Johann Heinrichs Sohn Wilhelm betrieben in Monschau Tuchherstellung bis 1908 (Firma Louis Scheibler Sohn) beziehungsweise waren als Textilindustrielle (Reißwolle) tätig bis 1957 (Walter Scheibler, 1880-1965).
3. Die Scheiblers – ein Beispiel für geschäftliche und familiäre Netzwerke
Bereits für das 17. und beginnende 18. Jahrhundert lässt sich an Hand der Scheiblerschen Stammbäume die Existenz eines ausgedehnten Familien- und Verwandten-Netzwerkes erkennen. In der protestantischen Diaspora der Monschau-Imgenbroicher Feintuchmacher hatte sich bereits vor dem Zuzug von Johann Heinrich Scheibler ein sozial-ökonomisches Netzwerk entwickelt, mit dem sich seine Familie sofort mehrfach verband: Beschränkt auf die protestantische Konfession und fixiert auf die innerfamiliäre Sicherung des unternehmerischen Kapitals, das prinzipiell durch die praktizierte Realerbteilung gefährdet war, waren die protestantischen Unternehmerfamilien mehrfach miteinander und darüber hinaus mit anderen protestantischen Kaufmannsfamilien in der Region (Eisen- und Kupferverarbeitung, Textilgewerbe unter anderem in Aachen, Düren, Stolberg, im Schleidener Tal usw.) versippt und verschwägert.
In der Folge praktizierte die Familie der Scheibler vor allem im 18. und 19. Jahrhundert eine geradezu dynastisch anmutende, planvolle Heiratspolitik, hierin keineswegs untypisch für viele rheinisch-westfälische (protestantische) Unternehmerfamilien: Über-Kreuz-Eheschließungen, Doppelheiraten von Geschwisterpaaren, Ehen zwischen Cousinen und Cousins der nachfolgenden Generation beziehungsweise zwischen Verschwägerten nach dem Tod eines Ehegatten sowie Heiratsbeziehungen zwischen bestimmten Familien über Generationen hinweg sollten die negativen Folgen von Erbgängen minimieren oder gar verhindern, andererseits wurden kapitalkräftige Familien „eingeheiratet“ beziehungsweise Geschäftsverbindungen zementiert. So entstanden direkte Verwandtschaftsbeziehungen überwiegend zu rheinisch-westfälischen, aber auch zu süddeutschen protestantischen Familien, so den Hoesch (Düren), Moll (Hagen), Cockerill, Harkort, Claus (Aachen) und Pastor (Aachen-Burtscheid), den Virmond (Düren-Blumenthal), Rupé (Iserlohn), Andreae (Mülheim am Rhein, heute Stadt Köln), von der Leyen und Heydweiller (Krefeld). Mehrfach versippt war man auch mit der Trarbacher Kaufmannsfamilie Böcking.
4. Unternehmerisch-kaufmännische Mentalität
Die Scheiblers wurden Kaufleute und Unternehmer nicht als Handwerker aus dem produzierenden Gewerbe heraus, sondern aus dem Milieu der protestantischen Geistlichen und Gelehrten. Ein Grundmerkmal der Familie war die hohe Bereitschaft zur Mobilität. Dies galt bereits für den Pfarrerzweig: Amtsstellen wurden über das familiäre und konfessionelle Netz innerhalb ganz Deutschlands gesucht und gefunden.
Die sich darin manifestierende Risikofreude, basierend auf einem tief verwurzelten Gottvertrauen, die grundsätzliche Aufgeschlossenheit für Wissenschaft, Kunst und Sprachen bildeten ideale Voraussetzungen für den großen Erfolg im Tuchmachergewerbe mit seinem hohen Bedarf an Informationen über Märkte und Moden, unverzichtbaren Fremdsprachenkenntnissen sowie dem ständigen Zwang zur flexiblen Anpassung an den wechselnden Geschmack der Kundschaft. Charakteristisch und prägend für die Monschauer Tuchmacherdynastien des 18. Jahrhunderts war daher ein unternehmerischer Kaufmannssinn, der rasch über den engen beschränkten Rahmen des Rurstädtchens beziehungsweise der damaligen kleinstaatlichen Situation hinaus drängte; er beinhaltete eine grundsätzliche Bereitschaft zu unternehmerischen Risiken und eine Aufgeschlossenheit gegenüber technischen Neuerungen, so auch der die Wolltuchherstellung ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert erfassenden Maschinisierung. Die männlichen Nachkommen bewegten sich im Rahmen ihrer kaufmännischen Ausbildung wie selbstverständlich im Bereich der inner- und außereuropäischen Absatzgebiete, ein wichtiges Merkmal dieser frühen kaufmännischen Globalisierung. Ein Wechsel von Familienmitgliedern in verwandte wie völlig andere Unternehmenszweige und Tätigkeitsfelder war daher alles andere als überraschend.
5. Berufliche/geographische Diversifizierung
Bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wichen die Söhne von Johann Heinrich, aber auch andere Monschau-Imgenbroicher Tuchfabrikanten in benachbarte Regionen aus, um dort zollpolitische und technische Standortvorteile - zum Beispiel für die neuesten technologischen Möglichkeiten (Wasserkraft für die einsetzende Maschinisierung der Tuchherstellung) - zu nutzen. Zugleich wandten sich Mitglieder der Familie anderen Gewerbezweigen, aber auch künstlerischen Berufen zu. Unter den Nachkommen finden sich im 19. Jahrhundert bedeutende Chemiker, Maschinen- und Automobilbauer, Musikwissenschaftler oder Bildhauer. Dazu zählt Wilhelm Wimars Urenkel, der bedeutende Berliner Zuckerchemiker Prof. Dr. Carl Bernhard Wilhelm (1827-1899). Sein Bruder Friedrich Jacob („Fritz“, 1845-1921), Maschinenbauer in Burtscheid (heute Stadt Aachen), stellte in der 1900 gegründeten „Fritz Scheibler Motorwagenfabrik“ Automobile und Nutzfahrzeuge her. 1907 wandelte er mit seinem Sohn Kurt (geboren 1875) den Betrieb in die „Motoren- und Lastwagen AG (MULAG)“ um, die als „Mannesmann-MULAG“ bis 1928 Nutzfahrzeuge produzierte. Johann Heinrich Scheiblers gleichnamiger Enkel (1777-1837), auch Erfinder eines Musikinstruments sowie eines physikalischen Tonmessgerätes, begründete 1834 in Krefeld die Samt- und Seidenmanufaktur „Scheibler & Co.“ (1965 in die heute noch bestehende Scheibler Peltzer GmbH“ eingegangen) und damit die so genannte Krefelder Linie der Scheiblerschen Seidenfabrikanten und –händler. Aus ihr ging Carl Johann Heinrich (1852-1920) hervor, einer der Mitbegründer der chemischen Großindustrie in Köln („Chemische Fabrik Kalk GmbH“), in der sein Sohn Hans Carl (1887-1963) ebenfalls leitend tätig war. Beide, Begründer des so genannten Kölner Zweiges, widmeten sich darüber hinaus intensiv der Familienforschung.
Einige Scheiblers machten beim Militär Karriere, so der Enkel von Johann Heinrich, der Freiherr und Feldmarschall-Leutnant Carl Wilhelm von Scheibler (1772-1843), 1814 in Österreich zum Freiherrn erhoben. Neben ihm wurden mindestens zehn weitere Familienmitglieder von verschiedenen europäischen Herrschern in den einfachen Adels-, Freiherren- oder Grafenstand erhoben, darunter Bernhard Georg (1724-1786), ein Sohn von Johann Heinrich, 1781 geadelt als kurpfälzischer „Edler von Scheibler“, dann Johann Christian (1754-1787), 1783 ausgezeichnet mit dem persönlichen österreichischen Adelstitel, Karl Scheibler in Lodz, 1910 geadelt vom hessischen Großherzog Ernst Ludwig (Regierungszeit 1892-1918), sowie Felix Emil (1856-1921), der 1896 in Italien Graf wurde. Weitere Adelserhebungen fanden in Preußen statt: 1757 unter Friedrich dem Großen bei Wilhelm Wimar Gerhard, 1794 bei Johann Friedrich (1750-1810) und 1798 bei Johann Daniel (1745-1812).
Gleichzeitig verzweigte sich die Familie bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weit über die bisherigen Regionen hinaus: Nachkommen wanderten unter anderem nach Russland, Österreich, Polen, Dänemark, Belgien, Frankreich, Italien, Brasilien, Argentinien, in die Schweiz und in die USA aus.
6. Traditionsbewusstsein
Innerhalb weniger Generationen war der Scheiblersche Familiensinn soweit erstarkt, dass 1791 ein erstes Geschlechtsregister entstand, dem zwei weitere folgten (1874, 1895). Es verwundert kaum, dass Tatkraft und Energie der „Sippe Scheibler“ - auch weil sie gut erforscht und belegt war - nach 1933 das Interesse nationalsozialistischer Rassenforschung weckte. Die Auffälligkeit der Häufung bedeutender, weil erfolgreicher Unternehmer und Wissenschaftler in der weit verzweigten Familie innerhalb weniger Generationen ließ die Scheiblers als ein geeignetes Vorzeigeobjekt der rassisch argumentierenden Führer- und Elitenforschung erscheinen. „Hinter der Verschwägerung der Sippen steht kein Zufall, sondern organisches Werden“, schrieb Hans Carl Scheibler 1937. So flossen die Ergebnisse der eigenen Familienforschung in eine Nutzung durch die nationalsozialistische Rassenkunde ein, 1937 publiziert im ersten und einzigen Band der „Westdeutschen Ahnentafeln“ von Hans Carl Scheibler und dem von ihm finanziell unterstützten „Sippen- und Volkskörperforscher“ Karl Wülfrath (1904-1981).
Literatur
Nay-Scheibler, Elisabeth, Die Geschichte der Familie Scheibler, in: Das Rote Haus in Monschau, hg. von der Stiftung Scheibler-Museum Rotes Haus Monschau, Köln 1994, S. 78-95 (mit kleineren Ungenauigkeiten).
Scheibler, Johann Heinrich Carl (Hg.), Geschichte und Geschlechts-Register der Familie Scheibler, Köln 1895.
Scheibler, Walter, Geschichte und Schicksalsweg einer Firma in 6 Generationen 1724-1937, Aachen 1937.
Scheibler, Hans Carl Scheibler/Wülfrath, Karl (Hg.), Westdeutsche Ahnentafeln, Band 1, Weimar 1939, S. 328ff.
Scheibler, Walter, 300 Jahre Familie Scheibler im Rheinland, in: Mitteilungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde 18 (1956), Heft 6/7, S. 257–266; Heft 8, S. 346-350; 19 (1957), Heft 1, S. 1-6.Liebmann, Otto, „Ueberweg", in: Allgemeine Deutsche Biographie 39 (1895), S. 119-121. [Online]
Online
Ramm, Hans-Joachim, Artikel Scheibler, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 224-227. [Online ]
Stiftung Scheibler Museum Rotes Haus Monschau (Information auf der Website des LVR). [Online]
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Offermann, Toni, Familie Scheibler, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/familie-scheibler/DE-2086/lido/57c943dc3d5788.33449081 (abgerufen am 07.10.2024)