Zu den Kapiteln
Einleitung
Die katholischen Thyssens gehörten seit dem 18. Jahrhundert zum lokalen Mittelstand des Aachen-Stolberger Raums, sie stellten Handwerker, Händler, Kleriker und städtische Beamte in Aachen und Umgebung. Als in den 1840er Jahren im Indetal zwischen Eschweiler und Stolberg, nur 14 Kilometer von Aachen entfernt, ein montanindustrielles Zentrum Deutschlands entstand, begann über zwei Generationen der Aufstieg der Thyssens zur bedeutendsten katholischen Unternehmerfamilie der Wilhelminischen Epoche. Um 1900 hätte August Thyssen für Max Weber (1864-1920) als Prototyp für dessen Aufsatz über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus dienen können.
Friedrich Thyssen (1804-1877)
Nach dem frühen Tod der Eltern hatte Friedrich Thyssen aus finanziellen Gründen die Schulausbildung abbrechen müssen und war bei seinem Onkel in die Banklehre gegangen. Seit 1834 leitete er als Direktor und Miteigentümer das erste Drahtwalzwerk des Rheinlands, die 1822 in Eschweiler gegründete „Draht-Fabrik-Compagnie", über die er in Kontakt zu zahlreichen regionalen, führenden Industriellenfamilien kam. Im März 1838 beteiligte er sich an der Gründung der „Metallurgischen Gesellschaft zu Stolberg", einem Vorläufer der „AG für Bergbau, Blei- und Zinkfabrikation zu Stolberg und in Westfalen".
1859 machte sich der als Schüler mittellose Waise Friedrich Thyssen mit einer Privatbank in Eschweiler selbstständig, die neben den Aachener und Kölner Banken zur Geldversorgung der regionalen Industrialisierung diente. Auch Jakob Thyssen (1808–1861), der Bruder von Friedrichs Ehefrau Katharina (1814-1888) und zugleich sein Cousin, hatte – jedoch als Angestellter – eine Affinität zum Bankwesen. Er war Mitarbeiter des Bankiers, Unternehmers und Politikers David Hansemann und leitete das Zentralbüro des „Aachener Vereins zur Förderung der Arbeitsamkeit", eine Prämiensparkasse mit breit gestreutem Risiko.
Mit Friedrichs Tod 1877 wurde dessen Bankhaus aufgelöst, da sein jüngerer Sohn Joseph (1844-1915) es nicht fortführte, sondern dem Ruf seines älteren Bruders August (1842-1926) folgte und diesen bei der Führung des Unternehmens Thyssen & Co. in Mülheim an der Ruhr als Mitgesellschafter (25 Prozent) unterstützte.
August Thyssen (1842-1926)
Wie sein Vater besaß August Thyssen die Doppelbegabung von technischem Verständnis und kaufmännischem Geschick, die sein unternehmerisches Handeln charakterisiert. Nach dem Abitur an der Höheren Bürgerschule in Aachen besuchte August 1859/1861 die Polytechnische Schule in Karlsruhe, wo sein Verständnis für Technik (Statik, technisches Zeichnen, Baukonstruktionen sowie Maschinenbau) und Naturwissenschaften (Chemie, Physik, Mineralogie) geschult wurde; anschließend besuchte er für ein Jahr die Handelshochschule in Antwerpen (Institut Supérieur du Commerce de L'État). Beide Schulen verließ August Thyssen ohne formellen Abschluss, da er nicht in den Staatsdienst wollte. Nach der Militärzeit erlernte er im Bankgeschäft des Vaters jenes praktische Wissen, das ihm später die Finanzierung seiner zahlreichen Projekte ermöglichte, ohne dabei in die Abhängigkeit eines einzelnen Kreditinstitutes zu geraten.
Nach dem Deutschen Krieg von 1866 versuchte sich August Thyssen erstmals als Unternehmer. Im Alter von 25 Jahren gründete er zusammen mit seinem belgischen Schwager, Désiré Bicheroux (1839-1875), dem belgischen Walzwerkspezialisten Noel Fossoul (geboren circa 1830) und anderen Geldgebern in Duisburg am Rhein ein kleines Puddel- und Bandeisenwalzwerk unter dem Namen Thyssen, Fossoul & Co. Sein Vater lieh ihm hierfür 8.000 Taler.
August Thyssen entschied sich somit für die gleiche Branche, in der schon sein Vater tätig gewesen war: die expandierende Eisen- und Stahlindustrie mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten. Er verließ das Aachener Steinkohlen- und Erzrevier und wechselte an den Rhein, wo Familienangehörige seines Schwagers Désiré Bicheroux schon seit Jahren Walzwerke betrieben. Durch den Standortwechsel schuf er eine räumliche Distanz zum Elternhaus – namentlich zum unternehmerisch erfolgreichen Vater –, die seiner eigenen Entwicklung förderlich war.
Das neu gegründete Unternehmen Thyssen, Fossoul & Co., dessen kaufmännische Leitung August Thyssen übernahm, florierte. 1871 löste er das Vertragsverhältnis, da er seine unternehmerischen Vorstellungen zusammen mit sechs Kommanditisten nicht realisieren konnte. In nur vier Jahren hatte er seinen Kapitaleinsatz – genau genommen den seiner Eltern – vervierfacht.
Mit dem ausbezahlten Kapital und mit einem gleich hohen Kommanditanteil seines Vaters gründete August Thyssen am 1.4.1871 in Styrum bei Mülheim an der Ruhr sein eigenes Bandeisenwalzwerk Thyssen & Co. Bandeisen wurde aus Puddelstahl gewonnen und fand unter anderem Verwendung bei Eisenkonstruktionen (Brücken, Dächer), im Waggon- und Schiffbau, in der Böttcherei (als Fassreifen) und in der Schlosserei. Bereits am 2.10.1871 wurde die Produktion aufgenommen. Dieses Werk wurde die Keimzelle seines Konzerns.
Den Zugang zum Mülheimer Bürgertum ebnete dem Dreißigjährigen die Heirat mit der 18-jährigen Hedwig Pelzer (1854-1940) am 3.12.1872, deren Eltern (Gerbereibesitzer) zur wohlhabenden Oberschicht der protestantischen Stadt gehörten. Hedwigs Mitgift wurde nicht nur in den weiteren Ausbau des Werks, sondern auch in Börsenprojekte investiert und dürfte mit dazu beigetragen haben, dass das noch junge Unternehmen Thyssen & Co. die Gründerkrise ohne größere Schwierigkeiten überstand.
Nach dem Tod des Vaters 1877 trat im folgenden Jahr sein Bruder Joseph (1844-1915) als Mitinhaber (25 Prozent-Anteil) in das Unternehmen ein. Dieser besaß keine akademische Ausbildung wie der Ältere; er widmete sich vornehmlich den betrieblichen Angelegenheiten und schuf damit seinem Bruder Freiraum für weitere unternehmerische Expansionen. Nun begann August Thyssen mit der vertikalen Entwicklung seines Bandeisenwerks in den vor- und nachgelagerten Bereichen.
Den Schritt zum eigenen Vertikalkonzern tat August Thyssen 1883 bei der Gewerkschaft Deutscher Kaiser, einem nicht sonderlich florierenden Stahlkohlenbergwerk in der Gemeinde Hamborn bei Duisburg, das mit einem eigenen Werkshafen verkehrsgünstig am Rhein lag. Bis 1891 kauften die beiden Brüder Thyssen sämtliche Kuxe der Gewerkschaft auf und erweiterten im gleichen Jahr die Steinkohlenzeche um ein Stahl- und Walzwerk, dem 1895 ein Hochofenwerk mit eigener Kokerei und einem Thomasstahlwerk folgen sollte.
In den folgenden Jahren erweiterte August Thyssen den Konzern systematisch, indem er darauf achtete, dass sich die Produkte der neu erworbenen oder gegründeten Firmen in einem vertikalen Verbund ergänzten. Parallel zur Sicherung einer ausreichenden Erzbasis für seine Hochöfen, unter anderem durch Beteiligungen an Erzgruben (beziehungsweise langfristigen Lieferverträgen) in Skandinavien, Nordafrika, Spanien, Russland (Ukraine und Kaukasus) sowie Indien, setzte die Internationalisierung des Thyssen-Konzerns ein. Seit 1905 baute die Thyssen-Gruppe ein eigenes Handels- und Schifffahrtsnetz mit Niederlassungen in der gesamten Welt auf. Sie orientierte sich dabei zunächst an den Standorten der erworbenen Erzgruben und deren Verschiffungsrouten und praktizierte dabei das Prinzip der Rückfrachten und Dreiecksgeschäfte.
August Thyssen befürwortete eine dezentrale Unternehmensführung mit selbstständigen Gesellschaften, die er vornehmlich über (monatliche) Statistiken und Berichte kontrollierte. Seine zahlreichen Ideen hätte August Thyssen nicht ohne einen Stab fähiger Mitarbeiter verwirklichen können. Bei seinen leitenden Mitarbeitern legte Thyssen nicht ausschließlich auf gute schulische Ausbildung wert, sondern gab auch Autodidakten schon in jungen Jahren durchaus eine Chance, sodass mehrere Volksschüler (unter anderem Heinrich Dinkelbach (1891-1967) und Wilhelm Scheifhacken (1877-1963)) nahezu US-amerikanische Karrieren vom Hilfsarbeiter bis zum Vorstandsmitglied durchlaufen konnten.
Thyssen, der katholischen Zentrumspartei nahe stehend, versuchte, im Hintergrund Einfluss auf die Politik sowohl im In- als auch Ausland zu nehmen, um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für seine Unternehmungen zu verbessern. Auf Beziehungen zum protestantischen Kaiserhaus und auf Staatsaufträge, auf eine Nobilitierung oder auf den Titel Kommerzienrat legte er – sehr zum Verdruss seiner Kinder – keinen Wert.
August Thyssen war unternehmerisch erfolgreich; seine Gewinne reinvestierte er in den Ausbau seiner Werke beziehungsweise in neue Projekte. Entgegen aller Gerüchte über seine Sparsamkeit war er durchaus bereit, für sich und seine Selbstdarstellung (Porträtpostkarten zum 80. Geburtstag, Büsten, Porträtgemälde) Geld auszugeben.
Als Familienvater und Erzieher versagte August Thyssen. 1885 ließ sich der Workaholic von seiner zwölf Jahre jüngeren Frau nach einer Fehlgeburt, deren Vaterschaft er anzweifelte, scheiden und bekam das Sorgerecht für die noch minderjährigen Kinder zugesprochen. Das Vermögen der Eheleute wurde auf die gemeinsamen Kinder übertragen, August Thyssen aber lebenslanger Nießbrauch eingeräumt. Diese Rechtskonstruktion verhinderte, dass August seinen Kindern früh unternehmerische Verantwortung übertrug. Er wollte, dass sie sein Lebenswerk fortführten; sie aber wollten Verfügung über ihr Erbe erlangen, nicht mit geliehenem Kapital (des Vaters) in anderen Branchen reüssieren. Der Konflikt mit dem Vater eskalierte, als die Kinder das Alter erreichten, in dem sich August Thyssen – aber auch schon sein Vater – vom Elternhaus abgelöst und eigene unternehmerische Verantwortung übernommen hatte. Seine drei Söhne arbeiteten zwar temporär im Unternehmen mit, lebten aber sonst von den durchaus hohen Apanagen des Vaters.
Die ohnehin schon hohen materiellen Wünsche der Kinder stiegen nach dem Verkauf der Gewerkschaft ver. Gladbeck 1902 nochmals. Hatten sie den Unternehmenswert bisher nicht richtig eingeschätzt, so wollten sie nun ab sofort an dem ihnen formal gehörenden Firmenvermögen beteiligt werden, so ihre Interpretation des Scheidungsvertrags. Sie wünschten sich ein aufwändiges Leben mit Landgut und Jagd sowie repräsentativer Stellung im Unternehmen, ohne jedoch entsprechende unternehmerische Verantwortung übernehmen zu wollen. So ging Augusts mittlerer Sohn August (1874-1943) Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinem Rittergut Rüdersdorf bei Berlin in Konkurs, weil ihn die Beziehungen zum Adel mehr als das eigene Unternehmen interessierten. Der Vater kaufte das Gut verdeckt auf und führte es anschließend zum Gewinn (Kalk- und Mörtelwerke).
August Thyssen übertrug seinen Söhnen Fritz und Heinrich 1919 zunächst die Firma Thyssen & Co. und 1921 auch die Firma August Thyssen-Hütte, Gewerkschaft (Nachfolgeunternehmen der Gewerkschaft Deutscher Kaiser). Seinen beiden anderen Kindern hatte er den Erbverzicht gegen hohe Einmalzahlungen und Apanagen abgekauft. Wegen der dezentralen Unternehmensstruktur des Konzerns wurde dieser Eigentümerwechsel nicht allzu deutlich, zumal August Thyssen versuchte als „Patron" weiterhin die bestimmende Persönlichkeit in allen Unternehmensgremien zu bleiben.
In den 1920er Jahren verwarf August Thyssen seinen Dynastie-Plan, da ihm weder sein Sohn Fritz, noch sein Neffe Hans (1890-1943) – letzterer aus gesundheitlichen Gründen – für die Leitung seines komplexen Konzerns geeignet erschienen. Trotz eines Altersstarrsinns, der bei dem über 80-ährigen zunehmend feststellbar war, dürfte diese Entscheidung richtig gewesen sein. Da ein angestellter Manager immer von den Eigentümern, nach seinem Tod also von seinen Kindern, abhängig war, entschied sich August Thyssen angesichts schlechter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, seinen Konzern in eine von Albert Vögler und Hugo Stinnes seit Ende des Ersten Weltkriegs vorgeschlagene Interessengemeinschaft einzubringen. Ohne Fritz Thyssen zu brüskieren, der sich seit Jahrzehnten auf die Nachfolge im Unternehmen vorbereitet hatte, konnte er diesen auf den Vorsitz im Aufsichtsrat beschränken und gewann den damals besten deutschen Stahlmanager, Albert Vögler, für die Leitung eines noch weitaus größeren Konzerns (Vereinigte Stahlwerke AG) und zu dessen notwendiger weiterer Rationalisierung. Dass dieses Unternehmen nicht mehr seinen Namen trug, akzeptierte er, war doch auch das Bankgeschäft seines Vaters Friedrich bei dessen Tod liquidiert worden. Unmittelbar nach August Thyssens Tod brachte sein Sohn Fritz mit seiner Zustimmung den größten Teil des damaligen Thyssen-Konzerns in die Vereinigte Stahlwerke AG ein.
Fritz Thyssen (1873-1951)
Nach dem Abitur an einem Düsseldorfer Gymnasium hatte Fritz Thyssen zunächst ein einjähriges Praktikum in der väterlichen Fabrik als Arbeiter absolviert, dann wie sein Vater ohne Abschluss in London, Lüttich und Charlottenburg (heute Berlin) studiert, 1896/1897 bei dem 5. Westfälischen Ulanen-Regiment gedient und gegen den Willen des Vaters 1900 Amélie zur Helle (1877–1965) geheiratet. Er arbeitete sich zunächst in das Erzhandelsgeschäft und die anderen Belange des Hüttenwerks ein, diente im Ersten Weltkrieg als kriegsfreiwilliger Reserveoffizier, bevor er sich 1916 wieder für das Unternehmen engagierte und dem Bruckhausener Hüttenwerk seinen Stempel aufdrückte. In der Weimarer Republik wurde durch den Prozess der französischen Militärverwaltung gegen ihn und andere Ruhrindustrielle bekannt, weil er sich aus nationalen Gründen weigerte, den gegen Deutschland gerichteten Anweisungen bei der Ruhrbesetzung Folge zu leisten. Er wurde vom französischen Kriegsgericht in Mainz freigesprochen und in einem Triumphzug in seine Heimatstadt Mülheim an der Ruhr begleitet. Die juristische Fakultät der Universität Freiburg verlieh ihm daraufhin die Ehrendoktorwürde. Dies hinderte Fritz Thyssen 1928 nicht daran, mit französischen Stahlindustriellen die Internationale Rohstahlgemeinschaft, ein Kartell, zu gründen.
Seine national-konservative Gesinnung brachte ihn früh in Kontakt mit Erich Ludendorff (1865-1937) und vor allem mit Adolf Hitler (1889-1945), dessen Partei er finanziell unterstützte, unter anderem durch ein (nicht zurückgezahltes) Darlehen für den Bau des Braunen Hauses in München. Diese Finanzbeiträge waren nicht so bedeutend wie sie oftmals nach dem Krieg dargestellt wurden, sie erreichten nur einen Bruchteil der Jahresbeiträge der Parteimitglieder. In die NSDAP trat Fritz Thyssen erst im Mai 1933 ein, unter anderem wegen der innerhalb der Partei propagierten Ständestaat-Ideologie. Ein entsprechendes, für Fritz Thyssen errichtetes Institut existierte 1933/1934 in Düsseldorf, bevor Robert Ley und die Deutsche Arbeitsfront (DAF) diese Konkurrenz ausschalteten und einige ehemalige Mitarbeiter verfolgten. Damit setzte die sich allmählich entwickelnde Distanz Fritz Thyssens zur NSDAP ein, die ihn 1933 noch zum Staatsrat und zum Mitglied des Reichstags gemacht hatte. Seine Haltung blieb zunächst zwiespältig, so interessierte er sich für eine Arisierungsgesellschaft, förderte aber andererseits das jüdische Bankhaus Simon Hirschland in Essen.
Auf die Unternehmenspolitik der (VSt) scheint Fritz Thyssen keinen großen Einfluss genommen zu haben. War er bei Gründung der VSt 1926 mit fast 26 Prozent Kapitalanteil der größte Einzelaktionär (formal zusammen mit seinem Bruder Heinrich), so verlor er diese Bedeutung zeitweise an Friedrich Flick, ohne dass bisher entsprechende Konflikte zwischen diesen beiden Unternehmerpersönlichkeiten publik geworden wären.
Hatte Fritz Thyssen noch zu den Juden-Pogromen der „Reichskristallnacht" öffentlich geschwiegen, so wandte er sich bei der deutschen Kriegserklärung an Polen in einem offenen Brief an Reichstagspräsident Hermann Göring (1893-1946) und Reichskanzler Adolf Hitler und protestierte als einziger deutscher Großindustrieller gegen den Krieg. Gleichzeitig setzte er sich mit seiner Familie in die Schweiz ab. Von dort, wo er nicht bei seinem Bruder Heinrich Thyssen-Bornemisza lebte, wollte er über Frankreich nach Argentinien auswandern, wo er schon vor dem Ersten Weltkrieg große Güter besaß und dessen Industrialisierung er entsprechend verfolgt hatte. Bei seinem Aufenthalt an der Côte d’Azur überredete ihn der US-amerikanische Journalist Emery Reves (1904-1981), zu einem Buchprojekt gegen Hitler und führte ausführliche Interviews mit ihm. Der in französischer Sprache abgefasste, von Fritz Thyssen nur zum Teil autorisierte Text wurde 1941 in New York in englischer Sprache unter dem Titel „I paid Hitler" veröffentlicht - zu einem Zeitpunkt, als sich Fritz Thyssen schon in deutschem Gewahrsam befand. Wegen des im Mai 1940 begonnenen deutschen Westfeldzugs hatte Fritz Thyssen nicht mehr emigrieren können und wurde zusammen mit seiner Frau als einer der Ersten von Vichy-Frankreich an Deutschland ausgeliefert. Das Land Preußen hatte Fritz Thyssen nach seinem offenen Brief im Dezember 1939 ausgebürgert und sein Vermögen beschlagnahmt. Zunächst zusammen mit seiner Frau in eine psychiatrische Abteilung eines Privatsanatoriums, dann unter anderem in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald gebracht, widerrief er seinen offenen Brief nicht, sondern blieb trotz Todesdrohung standhaft. US-amerikanische Truppen befreiten ihn und andere „Edelgefangene" des NS-Regimes bei Kriegsende aus der so genannten Alpenfestung in Südtirol, wohin Heinrich Himmler (1900-1945) seine vermeintlichen Faustpfänder hatte bringen lassen.
Nach seiner Verfolgung durch die Nationalsozialisten wurde er nun von den US-Amerikanern – vor allem wegen der Publikation „I paid Hitler" – als Unterstützer der NSDAP vor Gericht gestellt und erst 1947 in Wiesbaden zu teilweisem Vermögenseinzug verurteilt. Da die Thyssenhütte auf der Demontageliste stand und der größte Arbeitgeber der Region war, wollte Fritz Thyssen das Werk zeitweise dem deutsch-französischen Jugendwerk übereignen, um eine Demontage zu verhindern.
Im Januar 1950 wanderte er zusammen mit seiner Frau schließlich nach Argentinien aus, wo seine Tochter mit ihrem Mann lebte und wo er am 8.2.1951 starb. Seine Witwe und die gemeinsame Tochter Anita Zichy-Thyssen (1909-1990) gründeten 1959 die erste große deutsche Wissenschaftsstiftung mit einem nominellen Vermögen von 100 Millionen DM in Aktien der August Thyssen-Hütte AG, die sie ihm zu Ehren Fritz Thyssen Stiftung nannten.
Heinrich Thyssen-Bornemisza (1875-1947)
Fritz jüngster Bruder Heinrich hatte 1899/1900 ebenfalls mit eigenem Pferd und Burschen bei den Ulanen in Düsseldorf gedient. Er blieb auf räumlicher Distanz zu seinem Vater, studierte in Heidelberg Chemie und wurde bei dem angesehenen Chemiker Theodor Curtius (1857-1928), dem Onkel des späteren Ministers Julius Curtius, mit einer Arbeit über „Hydrazid der α-Thiophencarbonsäure" promoviert, veröffentlichte aber keine weiteren chemischen Arbeiten, sondern lebte einige Zeit in London. Ob dies mit Bemühungen um eine Anstellung im diplomatischen Dienst zusammenhing, ist anzuzweifeln. In dieser Zeit lebte er mit einer US-Amerikanerin zusammen, bereiste mit ihr sogar die USA, wollte sie aber nicht ehelichen, was zu einem in der interessierten, deutschen Klatschpresse wahrgenommenen Prozess in London führte. Die Brisanz lag darin, dass Heinrich Thyssen mittlerweile geheiratet hatte und er mit diesem Prozess jeglichen Erpressungsversuchen entgegentreten wollte. 1906 hatte Heinrich Thyssen in Wien die ungarische Baroness Margareta Bornemisza von Kászon (1887-1971) geheiratet, deren Mutter im Übrigen eine US-Amerikanerin war. Er lernte die ungarische Sprache, lebte in Ungarn, nahm aber einmal jährlich an den Gewerkenversammlungen der Gewerkschaft Deutscher Kaiser teil. Weil sein Schwiegervater keine männlichen Erben besaß, ließ er sich von diesem adoptieren und bekam von Kaiser Franz Joseph I. (Regierungszeit 1848-1916) den freiherrlichen Rang verliehen mit dem Recht, den Namen Thyssen-Bornemisza von Kászon führen zu dürfen. Vor den sozialistischen Nachkriegsunruhen in Ungarn floh er in die Niederlande, wo er ab 1919 die dortigen Thyssen’schen Konzernunternehmen leitete.
Vornehmlich verwaltete er die Valuta des Konzerns, was angesichts der Hyperinflation in Deutschland von großer Bedeutung war. Er hatte mehr die Bankiers-Interessen seines Vaters geerbt und – obwohl er erst im fünften Lebensjahrzehnt eigene unternehmerische Verantwortung übernahm – sollte er der einzige von August Thyssens Söhnen sein, der über den Tod des Vaters hinaus einen Konzern selbstständig und eigenverantwortlich leitete.
Heinrich lehnte 1925 die Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG (VSt) ab und brachte den auf ihn anfallenden Erbanteil in eine selbstständige Holdinggesellschaft, die August Thyssen’sche Unternehmungen des In- und Auslandes GmbH, ein. Hierzu gehörte unter anderem die Press- und Walzwerk AG, die Gewerkschaft Walsum, die Thyssen’sche Gas- und Wasserwerke GmbH, die Bank voor Handel en Scheepvaart N.V. und die N.V. Handels- en Transport-Maatschappij „Vulcaan". Bis 1933 saß er auch im Aufsichtsrat der VSt, da zunächst der in die VSt eingebrachte Anteil des Thyssen-Konzerns größer war als das auf seinen Bruder Fritz entfallene Erbe.
Heinrich führte mit den Managern seines Vaters dessen Unternehmenspolitik fort, ohne jedoch einen wie bei seinem Vater vertikal durchstrukturierten Konzern zu organisieren. Er verstärkte die Bankaktivitäten, betrieb aber auch die anderen geerbten Geschäftsfelder weiter, mit denen er zum Teil in Abhängigkeit zur VSt als Abnehmer/Lieferant stand (Thyssengas).
Den Wohnsitz verlegte er, nachdem sich seine erste Frau von ihm getrennt hatte, nach Lugano, wo er die Villa Favorita von Friedrich Leopold Prinz von Preußen (1895-1959) gekauft hatte, und widmete sich nun vornehmlich dem Auf- und Ausbau einer exzellenten Kunstsammlung, mit der er schon 1930 erstmals in München unter dem Begriff „Sammlung Schloß Rohoncz" an die Öffentlichkeit getreten war und deren Schwerpunkt auf der europäischen Malerei des 15. bis 19. Jahrhunderts, den „Alten Meistern", lag und deren einzelne Kunstwerke zunächst in Paris, Den Haag, London und anderen Städten zerstreut aufbewahrt worden waren. Das besagte Schloss, einst sein ungarischer Wohnsitz im ungarischen Teil des Burgenlandes, war bei Grenzregulierungen nach dem Ersten Weltkrieg an Österreich gefallen und wurde nun Rechnitz genannt. Dieses Schloss vermachte er 1938 seiner Tochter Margit von Batthyány (1911-1989). 1932 ließ sich das Ehepaar Thyssen-Bornemisza scheiden, um im folgenden Jahr andere Partner zu heiraten. Die Ehe mit der Künstlerin Maud Feller (1909-1977) hielt nur fünf Jahre. Auch die dritte Ehe mit Gunhild von Fabrice (1908-2008), einem Mannequin aus einer reformierten Nürnberger Patrizierfamilie, kriselte schnell und es folgte ein langjähriger Scheidungsprozess.
In der NS-Zeit pflegte er – wie sein Bruder – Kontakte zu hohen Parteifunktionären, unter anderem zu Hermann Göring. Heinrich Thyssen-Bornemiszas Unternehmen wirkten an der NS-Autarkie- und Kriegswirtschaft mit, was jedoch nicht verhinderte, dass er wegen Devisenvergehen angeklagt wurde. Das operative Geschäft erledigten in den Niederlanden und im Deutschen Reich seine Generaldirektoren. Nach dem Krieg wurden seine Unternehmen konfisziert und bis zu seinem Tod nicht wieder freigegeben. Das unternehmerische Erbe sollte nicht sein ältester Sohn Stephan (1907-1981), ein promovierter Elektrochemiker mit natur- und ingenieurwissenschaftlichen Interessen (Thyssen-Gravimeter zur Lagerstättenerkundung), übernehmen, sondern sein jüngster Sohn Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza (1921-2002).
Literatur
Eglau, Hans Otto, Fritz Thyssen. Hitlers Gönner und Geisel, Berlin 2003.
Fear, Jeffrey Robert, Organzing Control. August Thyssen and the Construction of German Corporate Managemant, Cambridge (Mass.) 2005.
Lesczenski, Jörg, August Thyssen 1842–1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Düsseldorf 2008.
Rasch, Manfred, August Thyssen. Der katholische Großindustrielle der Wilhelminischen Epoche, in: Rasch, Manfred/Feldman, Gerald D. (Hg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898–1922, München 2003, S. 13–107.
Rasch, Manfred: August Thyssen und sein Sohn Heinrich Thyssen-Bornemisza. Die zweite und dritte Unternehmergeneration Thyssen, in: Rasch, Manfred (Hg.): August Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza. Briefe einer Industriellenfamilie 1919-1926, Essen 2010, S. 9–78.
Wegener, Stephan (Hg.), August und Joseph Thyssen. Die Familie und ihre Unternehmen, 2.,überarbeitete und erweiterte Auflage, Essen 2008.
Online
August Thyssen (17. Mai 1842–4. April 1926) (Biographische Information auf der Homepage des ThyssenKrupp Konzerns). [Online]
Fritz Thyssen (9. November 1873-8.Februar 1951), Amélie Thyssen (11. Dezember 1877-25. August 1965), und Anita Gräfin Zichy-Thyssen (13. Mai 1909-20 August 1990) (Biographische Information auf der Homepage des ThyssenKrupp Konzerns). [Online]
Fritz Thyssen in der Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten (Informationsportal der Bayerischen Staatsbibliothek). [Online]
Heinrich Thyssen-Bornemisza (31.Oktober 1875-26. Juni 1947) (Biographische Information auf der Homepage des ThyssenKrupp Konzerns). [Online]
ThyssenKrupp Konzernarchiv Bestandsübersicht (Information auf der Homepage des ThyssenKrupp Konzerns). [Online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Rasch, Manfred, Familie Thyssen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/familie-thyssen/DE-2086/lido/57c93eda1220e8.71868134 (abgerufen am 08.12.2024)