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Franz Richarz war ein bedeutender Psychiater des 19. Jahrhunderts. Von ihm kamen neue Anregungen und Anstöße für die öffentliche Versorgung von psychisch Kranken. Sein berühmtester Patient war der Komponist Robert Schumann, den Richarz in seiner Bonner Privatklinik von 1854 bis zu seinem Tode 1856 behandelte.
Franz Richarz wurde am 4.1.1812 in Linz am Rhein als Sohn des Kaufmanns und Schiffsbesitzers Johann Adam Richarz (1765-1831) und seiner Ehefrau Elisabeth, geborene Peis (gestorben 1838) geboren. Die Familie war katholisch. Nach dem Besuch der Gymnasien in Linz, Düren und Aachen begann er 1830 ein Medizinstudium an der Universität Bonn, wo unter anderem Christian Friedrich Nasse (1778-1851), der den Lehrstuhl für Innere Medizin inne hatte, sein akademischer Lehrer war. Die Nervenheilkunde im Allgemeinen und die Psychiatrie im Besonderen waren seinerzeit Teil der Inneren Medizin. Nasse vertrat daher mit der Inneren Medizin auch die Psychiatrie, der sein besonderes Interesse galt. Er weckte bei Richarz das Interesse für psychische Störungen und promovierte ihn 1834 mit dem Thema „De vesaniae cognitione atque cura quaedam“ (Über das Erkennen von Wahnsinn und dessen Heilung).
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Provinzial-Heilanstalt Siegburg die einzige Heilanstalt für Patienten mit psychischen Störungen in der Rheinprovinz, geleitet von Maximilian Jacobi (1775-1858). Zwischen ihm und Nasse bestand eine enge Kooperation, insbesondere hinsichtlich der Ausbildung von Medizinstudenten und jungen Ärzten. Nasse empfahl Jacobi den 24-jährigen Richarz, der 1836 in Siegburg eine Stelle als zweiter Anstaltsarzt antrat und dort bis 1844 blieb.
Richarz lernte die für seine Zeit fortschrittlichen und wegweisenden Methoden in der Behandlung von psychischen Krankheiten kennen, sah aber den „Psychiatriebetrieb“ auch durchaus kritisch und erkannte die Reformbedürftigkeit der öffentlichen Irrenpflege. So veröffentlichte er gegen Ende seiner Siegburger Zeit und nach mehreren Auslandsreisen 1844 die Schrift: „Die öffentliche Irrenpflege und die Notwendigkeit ihrer Verbesserung mit besonderer Rücksicht auf die Rheinprovinz“. Er trat darin für kleine Heilanstalten ein, die jeweils 80 Patienten aufnehmen sollten. Ihm schwebte eine Heilanstalt für jeden der fünf rheinischen Regierungsbezirke vor, während Siegburg die große zentrale Pflegeanstalt für die Rheinprovinz werden sollte. In Grundzügen wurden diese Ideen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch verwirklicht.
Nach seinem Weggang aus Siegburg eröffnete Richarz in Endenich (heute Stadt Bonn) am 26.10.1844 eine Privatheilanstalt, die er „Anstalt für Behandlung und Pflege von Gemütskranken und Irren“ nannte, und wo er seine Reformideen umsetzen konnte. Ein Jahr nach der Eröffnung musste Richarz einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen: Im Alter von nur 26 Jahren starb seine Frau. Richarz heiratete ein zweites Mal; aus der Ehe mit Katharina Lücker (1824–1900) gingen die Kinder Franz und Karl hervor.
Für seine Privatanstalt hatte Richarz das vor der Stadt Bonn gelegene Landhaus des ehemaligen kurfürstlichen Hofkammerrats Matthias Joseph Kaufmann erworben. Das 1790 errichtete Gebäude lag in einem großen Garten und bot nach Um- und Neubauten Platz für 52 Kranke. Hier wurden sowohl der syphilitische Arzt aus alter Hugenottenfamilie, das hysterische Fräulein vom Niederrhein, der depressive Maler aus Frankreich als auch der unter progressiver Paralyse (fortschreitende Gehirnerweichung) leidende Robert Schumann behandelt. Das Haus mit der heutigen Adresse Sebastianstraße 182 dient seit 1963 als Schumann-Gedenkstätte und Musikbibliothek der Stadt Bonn.
1858 lehnte Richarz den Ruf als Nachfolger von Jacobi als Leiter der Siegburger Anstalt ab, nahm diese Funktion aber 1863 für einige Monate kommissarisch wahr. Die Leitung seiner eigenen Anstalt hatte er bereits ab 1859 sukzessive seinem Neffen Bernhard Oebeke (1837-1913) übergeben. Schwerhörigkeit und die damit verbundenen Schwierigkeiten im Umgang mit vielen Menschen machten ihm zunehmend zu schaffen. In seinem Nachruf auf Richarz schreibt Oebeke über seinen Vorgänger: „Er hatte eine gewisse ihm eigene Schwierigkeit mit vielen fremden Menschen in leichter Weise zu verkehren. Äußere, nicht immer erwünschte, aber doch unwichtige oder langweilige Umstände wirkten verstimmend auf ihn und ließen ihn wohl mitunter unmuthig in seinem Auftreten erscheinen“. Dennoch blieb Richarz bis 1872 konsultierender Arzt seiner Anstalt. Seit 1869 war er Geheimer Sanitätsrat. 1867 gründete Richarz zusammen mit Karl Friedrich Werner Nasse (1822-1889), seit 1866 Direktor der Provinzialirrenanstalt Andernach (ab 1881 der Provinzialirrenanstalt Bonn), einem Sohn von Friedrich Nasse, den „Psychiatrischen Verein der Rheinprovinz“. Richarz war aber nicht nur gesundheitspolitisch interessiert und aktiv, sondern blieb bis zu seinem Tod auch wissenschaftlich tätig. Eine mit drei Kollegen verfasste Abhandlung aus dem Jahre 1855 über einen seinerzeit bekannten Kriminalfall „Reiner Stockhausen, ein actenmäßiger Beitrag zur psychisch gerichtlichen Medizin für Ärzte und Juristen mit Gutachten von Jacobi, Bücker, Hertz, Richarz“, erregte Aufsehen. Seine darin enthaltenen Ausführungen über psychische Untersuchungsmethoden, über Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit waren seinerzeit ein schätzenswerter Beitrag zur forensischen Psychiatrie.
Vorträge und Abhandlungen von Richarz erschienen in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“, so beispielsweise ein Beitrag „Über die Nahrungsverweigerung bei psychischen Krankheiten“, ursprünglich ein 1852 auf der Naturforscherversammlung in Wiesbaden gehaltener Vortrag.
In die Schumann-Biographie von Wilhelm Joseph von Wasielewski (1882-1896) von 1858 flossen Richarz‘ Mitteilungen über Robert Schumanns Krankheitsverlauf und Tod ein. Über seinen berühmten Patienten veröffentlichte Richarz auch einen Artikel in der „Kölnischen Zeitung“ vom 30.8.1873, der am 17.9.1873 gleichlautend in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ in Leipzig erschien.
Richarz interessierten Fragen der Vererbung (Genetik). So hielt er 1873 auf der Versammlung der Anthropologen und Naturforscher Deutschlands in Wiesbaden einen Vortrag über das Thema „Über Vererbung von Geisteskrankheiten auf Grund der Geschlechtsverschiedenheit“. 1880 publizierte er ein Werk über Zeugung und Vererbung. Dabei handelte es sich um eine Entgegnung auf die „Beiträge zur Erblichkeitsfrage“ von Emanuel Roth.
Als Psychiater liberal-konservativer Richtung wandte sich Richarz schon zur Zeit seines Abschieds von Siegburg strikt gegen die Einstellung von Geistlichen in Gefängnissen und Irrenanstalten. Die meisten Geistlichen waren seinerzeit der Auffassung, dass Irresein eine Strafe Gottes und nicht therapierbar sei. Entsprechend behandelten sie Kranke häufig mit rigiden Methoden bis hin zur körperlichen Züchtigung. Hier stellte sich Richarz „auf die Seite der Jacobischen Gegner“, das heißt, er sprach sich für die „geistliche Enthaltsamkeit“ aus[1] und war einer der über 100 Unterzeichner der „Königswinterer Protesterklärung“ vom 14.10.1870. Diese Erklärung war eine Reaktion auf die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 über die Unfehlbarkeit des Papstes.
Im Grunde seines Herzens blieb Richarz aber Moralist, der „alkoholische, geschlechtliche“ und sogar „geistige Exzesse“ als Sünde ansah, für die der Patient und insbesondere die Patientin mit Geisteskrankheit bestraft würden. Ähnlich rückständig war seine Vorstellung über die Frauen: „Die Entstehung des weiblichen Geschlechts wird unserem Verständnis viel näher gebracht, wenn man es als ein negatives, als das Nicht-männliche auffasst.“[2]
Franz Richarz starb am 26.1.1887 in Bonn an einem Herzleiden. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Friedhof.
Werke (Auswahl)
De vesaniae cognitione atque cura quaedam, Med. Diss. Bonn, 1834, Druck Köln 1835.
Die öffentliche Irrenpflege und die Notwendigkeit ihrer Verbesserung mit besonderer Rücksicht auf die Rheinprovinz, Bonn 1844.
Über die Vorzüge mehrerer kleinen, über einen Landestheil vertheilter, öffentlicher Irrenheil-Anstalten von einer einzigen grossen Centralanstalt. Vortrag in der Section für Antropologie und Psychiatrie aus der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte Aachen, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 5 (1848), S. 387-396.
[Zusammen mit] F. W. Boecker, C. Hertz (Hg.), Reiner Stockhausen. Ein actenmässiger Beitrag zur psychish-gerichtlichen Medicin für Aerzte u. Juristen, mit Gutachten von M. Jacobi u. den Herausgebern, Elberfeld 1855.
Über Wesen und Behandlung der Melancholie mit Aufregung, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 15 (1858), S. 28–66.
Über Zeugung und Vererbung: Entgegnung auf die "Beiträge zur Erblichkeitsfrage von Emanuel Roth in den Nummern 46 und 47 (1879) der "Berliner klinischen Wochenschrift", 1880.
Über Vererbung in Geisteskrankheiten auf Grund der Geschlechtsverschiedenheit, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 30 (1874), S. 658-662.
Quellen
Appel, Bernhard R./Reimann, Aribert, Robert Schumann in Endenich (1854-1856): Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte, Mainz 2006.
Literatur
Braun, Salina, Heilung mit Defekt. Psychiatrische Praxis an den Anstalten Hofheim und Siegburg 1820-1878, Göttingen
2009.
Herting, Johannes, Die erste rheinische Irrenheilanstalt Siegburg. Eine geschichtliche Studie, unter Benutzung
amtlicher Quellen zur 100jährigen Wiederkehr ihres Eröffnungstages am 1.Januar 1825, Berlin/Leipzig 1924.
Orth, Linda [u.a.], Pass op, sonst küss de bei de Pelman. Das Irrenwesen im Rheinland des 19. Jahrhunderts, Bonn
1996, S. 49–58.
Oebeke, Bernhard, Nekrolog Dr. Franz Richarz, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 43 (1887), S. 557–559.
Wasielewski, Wilhelm von, Robert Schumann, Dresden 1858.
Online
Bandorf, Richarz, Franz, in: Allgemeine Deutsche Biographie 28 (1889), S. 423-424. [Online]
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Orth, Linda, Klenk, Wolfgang, Franz Richarz, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/franz-richarz/DE-2086/lido/57cd1e6d3cfd98.35956915 (abgerufen am 07.12.2024)