Zu den Kapiteln
Schlagworte
Friedrich Ueberweg war ein entschiedener Kritiker Kants und verfasste zwischen 1863 und 1866 eine umfassende Geschichte der Philosophie, das erste philosophiegeschichtliche Handbuch. Von 1852 bis 1862 lehrte er als Privatdozent an der Universität Bonn.
Obwohl am 22.1.1826 in Leichlingen als Sohn des lutherischen Pfarrers Gottlieb Friedrich Ueberwegs (1797-1826) geboren, verband den Philosophen Friedrich Ueberweg wenig mit seinem Geburtsort; schon vier Monate nach seiner Geburt zog die früh verwitwete Mutter Helene Ueberweg (1798-1868) mit ihrem einzigen Sohn in das Haus ihres Vaters Carl Theodor Boeddinghaus (1765-1843), Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Ronsdorf (heute Stadt Wuppertal).
Nach dem Besuch der Elementarschule und der Ronsdorfer Höheren Bürgerschule sowie der Gymnasien in Elberfeld (heute Stadt Wuppertal) und Düsseldorf bestand der junge Mann 1846 das Abitur „mit ungewöhnlicher Auszeichnung". Der Elberfelder Leinen- und Baumwollfabrikant Friedrich Boeddinghaus (1797-1896), ein Bruder der Mutter, sorgte dafür, dass der Neffe vom Militärdienst befreit wurde. Ueberweg begann sofort mit dem Studium der alten Sprachen mit dem Berufsziel des Lehramtes an Gymnasien. Er ging nach Göttingen, wozu wohl sein Lehrer Karl Johann Eichhoff (1805-1882) geraten hatte. Schon nach einem Semester wechselte er an die Berliner Universität. Dort übte die Philosophie eine wachsende Faszination auf ihn aus, aber er hörte auch Vorlesungen in Theologie, in Geschichte bei Leopold von Ranke (1795-1886), in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Die Philologien wurden darüber nicht vernachlässigt. In das Zentrum seiner Studien rückte jedoch die Philosophie, und die Professoren Friedrich Eduard Beneke (1798-1854), einer der frühen Psychologen, und Friedrich Adolf Trendelenburg (1802-1872), ein Anhänger des Aristoteles, beide Kritiker Immanuel Kants (1724-1804) und der spekulativen Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831), übten den größten Einfluss auf ihn aus.
Das Staatsexamen bestand Ueberweg 1850; im selben Jahr erwarb er den Doktortitel mit einer der Universität Halle zugesandten Dissertation über die Elemente der platonischen Ideenwelt. Danach unterrichtete er an verschiedenen Gymnasien, unter anderem in Elberfeld. Doch für diese Tätigkeit war er, den die Mutter während des Studiums immer begleitet und von den Problemen des Alltags abgeschirmt hatte, denkbar ungeeignet. Deshalb entschloss sich Friedrich Ueberweg schon bald, den Schuldienst aufzugeben und auf ein festes Gehalt zugunsten einer völlig ungesicherten Universitätslaufbahn zu verzichten. 1852 habilitierte er sich an der Universität Bonn mit mehreren Untersuchungen, die unter anderem Probleme der Aristoteles zugeschriebenen Schriften und den kategorischen Imperativ Kants behandelten.
Der Privatdozent Friedrich Ueberweg war nun auf die Hörgelder seiner wenigen Studenten angewiesen und führte mit seiner Mutter ein entbehrungsreiches Leben. Er spielte auch in der Fakultät, an der er nie studiert hatte, nur eine Nebenrolle. Einer seiner wenigen Bekannten in Bonn wurde der aus Solingen stammende Privatdozent Friedrich Albert Lange (1828-1875), sein späterer Biograph.
Ueberwegs folgende Veröffentlichungen, insbesondere das 1857 erschienene Werk „System der Logik und Geschichte der logischen Lehren" sowie die von der Wiener Akademie der Wissenschaften preisgekrönte „Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge platonischer Schriften und über die Hauptmomente aus Platons Leben" (1858/1861) machten ihren Verfasser in akademischen Kreisen bekannter und hoben ihn in den Rang eines ernstzunehmenden Kontrahenten Kants und Hegels. Oder in seinen eigenen Worten: „Der Kern meines Gegensatzes zu Kant liegt in dem Nachweis, wie die wissenschaftliche Einsicht ... nicht mittels apriorischer Formen gewonnen wird, sondern durch die Kombination von Erfahrungstatsachen nach logischen Normen." Die Wahrnehmung, die Erfahrung und das Denken des erkennenden Subjekts spielen die entscheidende Rolle in seiner Logik, und die logischen Formen des menschlichen Denkens werden verstanden als Spiegel der objektiven Verhältnisse, in denen die Dinge sich befinden.
Es war nur folgerichtig, dass Ueberweg sich auch mit der Entwicklung des menschlichen Denkens, also mit der Psychologie und Pädagogik beschäftigte und sich mit den Theorien von Neurophysiologen wie Hermann von Helmholtz (1821-1894) auseinandersetzte. Ausgehend von der objektiven Realität des Raumes und entsprechend seiner Auffassung, dass diese Realität und die menschliche Vorstellung von ihr sich entsprechen, folgerte Ueberweg eine „Räumlichkeit der inneren Wahrnehmung". Das menschliche Sensorium, dass die Welt dreidimensional wahrnahm, musste ebenfalls dreidimensional beschaffen sein. Das Gehirn musste ebenfalls einen Raum beherbergen, der mit einer Art von „Gehirnäther" angefüllt sei, in dem sich durch die Vermittlung der Nerven „Abbilder" der äußeren Welt formten. Diese Theorie, von der zeitgenössischen Wissenschaft mit großer Skepsis aufgenommen, war nicht zuletzt beeinflusst von den Spekulationen der damaligen Physik, die das Konstrukt eines „Weltäthers" im interstellaren Raum diskutierte, um physikalische Phänomene wie die Ausbreitung des Lichts erklären zu können – die Quantentheorie wurde erst um die Jahrhundertwende von Max Planck (1858-1947) formuliert. Ueberwegs Bemühungen um eine Professur scheiterten viele Jahre. Erst 1862 erfuhr er die ersehnte Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen und wurde zum außerordentlichen Professor an die Universität Königsberg berufen. Der Kritiker Kants kam an die Universität, die durch Kant geprägt worden war! Helene Ueberweg begleitete ihren Sohn auch nach Königsberg. Die neue Stelle erlaubte ihm die Gründung einer eigenen Familie; 1863 heiratete der Königsberger Professor in der ostpreußischen Hafenstadt Pillau Luise Panzenhagen (1844-1909), die einer dort ansässigen wohlhabenden Familie entstammte. Ueberweg führte mit seiner Frau, die ihm vier Kinder gebar, eine glückliche, endlich auch von allen materiellen Sorgen befreite Ehe. 1868 starb Ueberwegs Mutter; sie hatte kurz vor ihrem Tode die Ernennung ihres Sohnes zum ordentlichen Professor und damit die Krönung seiner Karriere noch erlebt.
Bereits in Bonn hatte Ueberweg den Plan zu einem Werk gefasst, das ihn vor allem und bis heute unter den Philosophen bekannt gemacht hat und das er in Königsberg vollendete. Im Auftrag der Bonner Verlagsbuchhandlung E. S. Mittler & Sohn verfasste er einen „Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart." Die drei Bände behandelten das vorchristliche Altertum (1863), die „Philosophie der christlichen Zeit", unterteilt in die „patristische" und die „scholastische Periode" (1864) sowie die „Philosophie der Neuzeit" (1866). Dieses Standardwerk zeichnet sich durch eine umfassende Literaturkenntnis sowie eine eigenständige Quellen- und Grundlagenforschung seines Verfassers aus. Ueberweg erwies sich als Fachmann in all den einzelnen Teildisziplinen der Philosophie. Die antike Philosophie war ihm seit seinem Studium bei Trendelenburg und durch seine philologischen Studien vertraut; umfangreiche Notizzettel belegen, dass er sich ebenfalls eingehend mit der Patristik und der Scholastik beschäftigte, in der die antike Tradition auf eine ganz eigene Art und Weise aufgenommen und verarbeitet wurde. Aber Ueberweg zeichnete sich ebenso als Fachmann in der Darstellung der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646-1716) und ihrer Beziehung zu den mathematischen Leistungen des großen Gelehrten aus, wie er überhaupt der Verknüpfung der Philosophie der Neuzeit mit den modernen Naturwissenschaften mit besonderer Intensität nachspürte.
Das Werk wurde ein außerordentlicher Erfolg. Es fand auch in der wissenschaftlichen Welt verbreitete Zustimmung, die Ueberweg noch erlebte und genoss. Seine Ernennung zum ordentlichen Professor 1867 verdankte er sicherlich seiner Philosophiegeschichte. Nun erreichten ihn Rufe an andere Universitäten, 1867 von Basel, 1868 von Kiel und 1871 von Würzburg. Ueberweg lehnte sie alle ab, den Würzburger Ruf mit dem Argument, dass in der Stadt „vornehmlich für die Bedürfnisse der katholischen Theologie gesorgt werden müsse, das aber ist nicht meine Sache".
Drei Auflagen des „Grundrisses" bearbeitete der Verfasser selbst; auf seinem Sterbebett war er noch mit der Korrektur einer englischen Übersetzung beschäftigt. Daneben veröffentlichte er noch mehrere Untersuchungen und Vorträge, die sich unter anderem der „Poetik" des Aristoteles, dem englischen Theologen und Philosophen George Berkeley (1684-1753) und dessen „A Treatise concerning the Principles of human knowledge" sowie dem Kritizismus Kants widmeten.
Im Frühjahr 1871 erkrankte Ueberweg an einer Hüftgelenkentzündung, zu der kurz darauf eine Erkältung kam. Er starb am 9.6.1871 in Königsberg im Alter von nur 45 Jahren.
Sein „Grundriß", das erste allgemeine philosophiegeschichtliche Handbuch, war inzwischen ein Standardwerk geworden. Es wurde auch nach dem Tode des Verfassers wieder aufgelegt und später neu bearbeitet und auf fünf Bände erweitert, die zwischen 1923 und 1928 in elfter beziehungsweise zwölfter Auflage erschienen. 1951/1956 kam ein Nachdruck heraus; seit 1983 gibt der Baseler Verlag Schwabe unter der Leitung von Helmut Holzhey einen neuen, auf 20 Bände angelegten „Grundriß der Geschichte der Philosophie" heraus. Im Untertitel erscheint Ueberweg weiterhin, obwohl keine Zeile in dem Werk mehr von ihm stammt.
Werke (Auswahl)
De elementis animae mundi Platonicae, o. O. 1850 (Dissertation)
Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart, 3 Bände, Berlin 1863-1866
System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, Bonn 1857
Untersuchungen Ueber die Echtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften und ueber die Hauptmomente aus Plato´s Leben, Wien 1861
Literatur
Eckard, Uwe, „Lieber Oheim! Halb sieben. Ich schreibe unter dem Kanonendonner..." Unbekannte Studentenbriefe des Philosophen Friedrich Ueberweg (1826-1871), in: Hentzschel-Fröhlings, Jörg u.a. (Hg.), Gesellschaft – Region – Politik.
Kloeden, Wolfdietrich von, „Friedrich Ueberweg", in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 12 (1997), Sp. 809-810.
Festschrift für Hermann de Buhr, Heinrich Küppers und Volkmar Wittmütz. Norderstedt 2006, S. 193-214.
Wittmütz, Volkmar, Friedrich Ueberweg 1826-1871, Langenfeld 1990.
Wittmütz, Volkmar, Friedrich Ueberweg, in: Information Philosophie 21/4 (1993), S. 30-39.
Wittmütz, Volkmar, Friedrich Ueberweg (1826-1871), in: Rheinische Lebensbilder 14 (1994), S. 153-172.
Online
Liebmann, Otto, „Ueberweg", in: Allgemeine Deutsche Biographie 39 (1895), S. 119-121. [Online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wittmütz, Volkmar, Friedrich Ueberweg, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/friedrich-ueberweg/DE-2086/lido/57c9395e8275e3.32304428 (abgerufen am 15.12.2024)