Georg Cassander

Humanist und Ireniker (1513-1566)

Martin Bock (Frechen)

Georg Cassander.

Un­ge­ach­tet der seit 1555 im Augs­bur­ger Re­li­gi­ons­frie­den reichs­recht­lich ze­men­tier­ten kon­fes­sio­nel­len Tei­lung in ein alt­gläu­big-ka­tho­li­sches und ein pro­tes­tan­ti­sches La­ger – Re­for­mier­te wie Cal­vi­nis­ten und Zwinglia­ner blie­ben vom Frie­dens­ver­trag aus­ge­nom­men – gin­gen die Be­mü­hun­gen um die Ein­heit der Kir­che in der zwei­ten Hälf­te des 16. Jahr­hun­derts durch­aus noch wei­ter. 1557 schei­ter­te zwar das letz­te gro­ße Re­li­gi­ons­ge­spräch in Worms, und da­mit ebb­te auch das Be­mü­hen der Fürs­ten ab, um das fak­ti­sche Aus­ein­an­der­bre­chen der Chris­ten­heit zu ver­hin­dern. In Ge­lehr­ten­krei­sen wur­den die Dis­kus­sio­nen und Kom­pro­miss­vor­schlä­ge zwi­schen den Kon­fes­sio­nen aber noch fort­ge­setzt und brach­ten die Ge­dan­ken der Ire­nik, vom grie­chi­schen Wort „ei­re­ne“ für „Frie­den“, her­vor, zu de­ren frü­hen pro­mi­nen­ten Ver­tre­tern der flä­mi­sche Theo­lo­ge und Hu­ma­nist Ge­org Cas­san­der ge­hör­te.

Ge­bo­ren wur­de Cas­san­der am 24.8.1513 in Pit­tem, auf hal­bem We­ge zwi­schen Brüg­ge und Gent. Sein Na­me ver­weist au­ßer­dem auf den klei­nen Küs­ten­ort Cad­zand an der Wes­ter­schel­de­mün­dung. Er wuchs in ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen auf, die ihm gleich­wohl den Schul­be­such mit an­schlie­ßen­dem Stu­di­um in Lö­wen, in die­ser Zeit ei­nes der her­aus­ra­gen­den in­tel­lek­tu­el­len Zen­tren und Hoch­burg des Hu­ma­nis­mus, er­mög­lich­ten. 1532 er­warb er hier nach dem Phi­lo­so­phie­stu­di­um den Ma­gis­ter­grad und brach­te ers­te Lehr­bü­cher für das Tri­vi­um, das Grund­stu­di­um der sie­ben frei­en Küns­te al­so mit den Dis­zi­pli­nen Gram­ma­tik, Dia­lek­tik und Rhe­to­rik, her­aus.

Mit die­sen Kom­pen­di­en für Stu­di­en­an­fän­ger er­warb sich Cas­san­der ei­nen gu­ten Ruf, der ihm auch ei­ni­ge ers­te Do­zen­ten­stel­len ein­brach­te: so lehr­te er et­wa Mit­te der 1530er Jah­re in Gent, wo er un­ter an­de­rem Jan van Uten­ho­ve (1516/1520-1560) un­ter­rich­te, der spä­ter als re­for­mier­ter Theo­lo­ge wirk­te und bei­spiels­wei­se das Neue Tes­ta­ment ins Nie­der­län­di­sche über­trug. Seit spä­tes­tens 1541 ver­trat Cas­san­der dann die Stu­dia hu­ma­nio­ra in Brüg­ge – be­mer­kens­wer­ter­wei­se al­so nicht an ei­ner Uni­ver­si­tät, son­dern als frei­er Leh­rer in ei­ner nach dem Weg­gang des bur­gun­di­schen Ho­fes im Nie­der­gang be­grif­fe­nen al­ten Han­dels­me­tro­po­le. Er galt als li­be­ral und ge­riet des­halb recht bald in Kon­flikt mit der im­mer noch scho­las­tisch ge­präg­ten Geist­lich­keit, um­so mehr, als dass er sich wohl schon in Brüg­ge auch theo­lo­gi­schen Stu­di­en zu­wand­te und zu be­fürch­ten stand, er kön­ne die Stadt wo­mög­lich für die Re­for­ma­ti­on öff­nen wol­len.

Cas­san­der trug die Aus­ein­an­der­set­zun­gen je­doch nicht of­fen aus, son­dern ver­ließ Brüg­ge nach we­ni­gen Jah­ren, um mit Cor­ne­li­us Wou­ters (1512-1578) auf Rei­sen zu ge­hen. Der gleich­alt­ri­ge Phi­lo­lo­ge Wou­ters pro­fi­tier­te von rei­chen Ein­künf­ten aus sei­ner Stifts­herrn­pf­rün­de an der Kir­che St. Do­na­ti­on in Brüg­ge und wur­de für Cas­san­der da­mit nicht nur zum ge­lehr­ten Freund, son­dern auch zum Mä­zen, denn Cas­san­ders fi­nan­zi­el­le Ver­hält­nis­se blie­ben zeit­le­bens be­grenzt.

Auf der Rei­se tra­fen die bei­den so il­lus­tre Per­sön­lich­kei­ten wie Mar­tin Bu­cer, Jo­han­nes a Las­co (1499-1560), Hein­rich Bul­lin­ger (1504-1575) und Phil­ip­p ­Me­lan­chthon (1497-1560) – al­le­samt Lu­the­ra­ner oder so­gar Re­for­mier­te, mit de­nen Cas­san­der den in­tel­lek­tu­el­len Dia­log such­te. 1544 er­reich­ten Cas­san­der und Wou­ter­s Köln, wo sie sich an der theo­lo­gi­schen Fa­kul­tät im­ma­tri­ku­lier­ten und im Hau­se des Gra­fen Her­mann von Neue­nahr (1520-1578), eben­falls ein of­fe­ner An­hän­ger der neu­en Leh­re, wohn­ten. 1546 zo­gen die bei­den wei­ter nach Hei­del­berg, der Haupt­stadt der cal­vi­nis­ti­schen Kur­pfalz, und setz­ten ih­re theo­lo­gi­schen dort fort. 

Fast schon er­staun­lich al­so er­scheint es nicht nur, dass Cas­san­der bei so viel of­fen­kun­di­gem In­ter­es­se an den Re­for­ma­to­ren auf der alt­gläu­bi­gen Sei­te blieb, son­dern auch, dass er bald schon zu den be­kann­tes­ten ka­tho­li­schen Theo­lo­gen zähl­te, des­sen Rat auch von höchs­ter Stel­le sehr ge­schätzt wur­de. Kai­ser Fer­di­nand I. (1503-1564), spä­ter auch der Köl­ner Erz­bi­schof Fried­rich von Wied und vor al­lem auch Her­zo­g Wil­helm V. von Jü­lich-Kle­ve-Berg such­ten Cas­san­ders Rat. Wil­helm war es, der un­ter den gro­ßen Reichs­fürs­ten am stärks­ten auf ei­ne „via me­di­a“, ei­nen drit­ten Weg zwi­schen Ka­tho­li­zis­mus und Pro­tes­tan­tis­mus dräng­te und sich da­bei vor al­lem auf die Leh­re des Eras­mus von Rot­ter­dam (1466/69-1536) stüt­ze.

Trotz schlech­ter Ge­sund­heit be­reis­te Cas­san­der da­her im Auf­trag Wil­helms des­sen nie­der­rhei­ni­sches Her­zog­tum und mach­te sich hier vor al­lem durch die Grün­dung ei­ner La­tein­schu­le in Duis­burg ver­dient. 1559 plan­te der Her­zog in Düs­sel­dorf ein neu­es, gro­ßes Re­li­gi­ons­ge­spräch, bei de­m ­Cas­san­der ­die füh­ren­de Rol­le über­neh­men soll­te. Sei­ne stär­ker wer­den­den Gicht­an­fäl­le lie­ßen ihn je­doch die Teil­nah­me ab­sa­gen, der Kon­gress kam in der Fol­ge auch nicht zu­stan­de. Eben­falls ab­leh­nen muss­te Cas­san­der ei­ne Ein­la­dung Kai­ser Fer­di­nands nach Wien, um mit ihm über ei­ne mög­li­che Öff­nung der alt­gläu­bi­gen Par­tei durch die Zu­las­sung von Lai­en­kelch und Pries­ter­ehe zu spre­chen. Er er­hielt statt­des­sen den von Fer­di­nands Nach­fol­ger Ma­xi­mi­li­an II. (1527-1576) er­neu­er­ten Auf­trag, ein schrift­li­ches Gut­ach­ten zu er­stel­len.

Die­ser „Con­sul­ta­tio de ar­ti­cu­lis re­li­gio­nis in­ter ca­tho­li­cos et pro­tes­tan­tes con­tro­ver­sis“ über­schrie­be­ne Text darf als Cas­san­ders Haupt­werk und Sum­me sei­ner ire­ni­schen Leh­re ver­stan­den wer­den. Hier­in bau­te er auf ei­ni­gen frü­he­ren, an­onym ver­fass­ten Stu­di­en auf, in de­nen er un­ter an­de­rem vor­schlug, kirch­li­che Dog­men in fun­da­men­ta­le und nicht-fun­da­men­ta­le zu un­ter­schei­den und das Pri­mat des Papst­tums zwar an­zu­er­ken­nen, je­doch le­dig­lich als von Men­schen selbst er­wähl­tes und nicht durch di­rek­te Ab­stam­mung von Pe­trus. In der Leh­re ziel­te er auf den „con­sen­sus uni­ver­sa­lis an­ti­qui­ta­tis“, al­so die ge­mein­sa­me An­er­ken­nung der Kir­chen­leh­rer bis zu Papst Gre­gor I. (um 540-604). So­wohl Erz­bi­schof Fried­rich, der das Gut­ach­ten nach Wien über­mit­tel­te, als auch Kai­ser Ma­xi­mi­li­an zeig­ten sich zu­frie­den mit Cas­san­ders Ar­beit und schlu­gen er­neut ein di­rek­tes Zu­sam­men­tref­fen vor, das nun aber so­wohl we­gen der an­hal­ten­den Gicht­an­fäl­le Cas­san­ders wie auch des sich an­bah­nen­den zwei­ten Tür­ken­kriegs in­fol­ge des Auf­stan­des des sie­ben­bür­gi­schen Fürs­ten Jo­hann Si­gis­mund Zá­po­lya (1540-1571), der Ma­xi­mi­li­ans Auf­merk­sam­keit an an­de­rer Stel­le er­for­der­te, wie­der­um nicht statt­fand.

Cas­san­der blieb in sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren in Köln, wo er schon seit 1549 über­wie­gend ge­lebt hat­te. Hier ap­pel­lier­te er im Pro­zess ge­gen die Wie­der­täu­fer an das Ge­richt, die An­ge­klag­ten mil­de zu be­han­deln und statt des Schwer­tes das Wort wal­ten zu las­sen. Er muss­te je­doch er­le­ben, dass statt ei­ner An­nä­he­rung der Kon­fes­si­ons­par­tei­en der Gra­ben ste­tig tie­fer wur­de. Auch sei­ne ei­ge­nen Vor­schlä­ge wur­den im­mer we­ni­ger ge­hört und von bei­den Sei­ten nicht nur po­li­tisch, son­dern auch ideo­lo­gisch ab­ge­lehnt. Im­mer­hin ge­wann die von den Je­sui­ten – die Cas­san­der ih­rer Un­nach­gie­big­keit we­gen strikt ab­lehn­te – ge­tra­ge­ne ka­tho­li­sche Ge­gen­re­for­ma­ti­on, aber auch die 1580 in die Kon­kor­di­en­for­mel mün­den­de kon­fes­si­ons­theo­re­ti­sche Ab­gren­zung der pro­tes­tan­ti­schen Sei­te wach­sen­den Ein­fluss auf die bei­den La­ger, und mit dem Ster­ben der „Frie­dens­ge­ne­ra­ti­on“ un­ter den deut­schen Fürs­ten war das Tor für ei­nen of­fe­nen Glau­bens­kampf auf­ge­sto­ßen.

Das muss­te Cas­san­der al­ler­dings nicht mehr er­le­ben. Er starb am 3.2.1566. Sei­ne Ruf war aber wohl noch so be­deu­tend, dass die ka­tho­li­sche Geist­lich­keit un­ter Füh­rung des Pfar­rers von St. Ko­lum­ba, Se­bas­ti­an Novimo­la (1500-1579) ver­such­te, ihm ein Be­kennt­nis für ih­re Sa­che und da­mit ge­gen sein le­bens­lan­ges Be­mü­hen und Maß und Mit­te ab­zu­brin­gen. Ob er es ge­ge­ben hat, ist um­strit­ten; sei­ne Grab­stel­le je­den­falls, die er im Fa­mi­li­en­grab der Fa­mi­lie Su­der­mann in der Mi­no­ri­ten­kir­che fand, wur­de, nach­dem Wou­ters die „Con­sul­ta­ti­o“ ver­öf­fent­licht hat­te und die­sel­be 1577 auf den rö­mi­schen In­dex ver­bo­te­ner Schrif­ten ge­kom­men war, un­kennt­lich ge­macht.

Werke (Auswahl)

Hym­ni Eccle­si­as­ti­ci, 1556.
Lit­ur­gi­ca de ri­tu et or­di­ne Do­mi­ni­cae co­enae ce­le­bran­dae, 1558.
Pre­ces Eccle­si­as­ti­cae, 1560.
De of­fi­cio pii ac pu­bli­cae tran­quil­li­ta­tis ve­re aman­tis vi­ri in hoc re­li­gio­nis dis­s­idio, 1561.
De sa­cra com­mu­ni­on in ut­raque pa­nis et vi­ni spe­cie, 1564.
Con­sul­ta­tio de ar­ti­cu­lis re­li­gio­nis in­ter ca­tho­li­cos et pro­tes­tan­tes con­tro­ver­sis, 1564.

Literatur

Bautz, Fried­rich Wil­helm, Art. „Cas­san­der, Ge­or­g“, in: Bautz Bio­gra­phisch-Bi­blio­gra­phi­sches Kir­chen­le­xi­kon, Band 1, 2. Auf­la­ge, Hamm 1990, Sp. 949-950.
Brö­der, Pau­la, Ge­org Cas­san­ders Ver­mitt­lungs­ver­such zwi­schen Pro­tes­tan­ten und Ka­tho­li­ken, Diss. Mar­burg 1932.
Do­lan, John Pa­trick, The In­flu­ence of Eras­mus, Wit­zel and Cas­san­der in the church or­di­nan­ces and re­form pro­po­sals of the United Du­chees of Cle­ve du­ring the midd­le de­ca­des of the 16th cen­tu­ry, Müns­ter 1957.
Ga­schick, Da­ni­el, Wit­zelt Cas­san­der? Der Brief­wech­sel zwi­schen Ge­org Cas­san­der (1513-1566) u. Ge­org Wit­zel (1501-1573), in: Kir­chen­ge­schich­te - Fröm­mig­keits­ge­schich­te – Lan­des­ge­schich­te, Rem­scheid 2008, S. 97-114. 
Nol­te, Ma­ria, Ge­or­gius Cas­san­der en zi­jn oe­cu­me­nisch stre­ven, Diss. Ni­j­me­gen 1951.
Ten Doorn­k­aat-Kool­man, Ja­co­bus, Jan Uten­ho­ves Be­such bei Hein­rich Bul­lin­ger im Jah­re 1549, in: Zwinglia­na 14 (1976), S. 263-173.

Online

Cas­san­der, Ge­org, in: Con­tro­ver­sia et Con­fes­sio, hg. Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und Li­te­ra­tur Mainz. [On­line
En­nen, Leo­nard, „Cas­san­der, Ge­or­g“, in: All­ge­mei­ne Deut­sche Bio­gra­phie 4 (1876), S. 59-61. [On­line
Haaß, Ro­bert, „Cas­san­der, Ge­or­g“, in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 3 (1957), S. 166. [On­line

 
Zitationshinweis

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Bock, Martin, Georg Cassander, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/georg-cassander-/DE-2086/lido/57c68b776c5800.83424459 (abgerufen am 09.12.2024)