Zu den Kapiteln
Der seit 1552 in Duisburg ansässige Gerhard Mercator galt bereits in den Gelehrtenkreisen seiner Zeit als der bedeutendste lebende Kartograph. Das von ihm entwickelte Konzept „Atlas" wurde typenbildend für eine ganze Schriftengattung. Weltkarten in der von ihm entworfenen „Mercator-Projektion" waren bis zum Aufkommen des GPS („Global Positioning System") für die Navigation in See- und Luftfahrt unverzichtbar. Bemerkenswert ist auch die rein privatwirtschaftliche Organisationsform dieser Wissenschaftsarbeiten.
Gerhard Kremer, der sich seit Beginn seiner Studien nur noch mit dem latinisierten Humanistennamen Gerhard Mercator nannte, wurde am 5.3.1512 als ältester Sohn des aus Gangelt (heute Kreis Heinsberg) zugewanderten Schuhmachers Hubert Kremer und seiner Frau Emerentia im flandrischen Rupelmonde (heute Teil der Gemeinde Kruibeke) geboren. Mit Unterstützung seines geistlichen Großonkels Gisbert Kremer (gestorben um 1544) besucht er zunächst die Schule der Brüder vom Gemeinsamen Leben in ‘s-Hertogenbosch. 1530 begann er das Studium an der Artistenfakultät der Universität Löwen, das er 1532 mit dem Magisterexamen abschloss. Dort fand Mercator Zugang zu einem Kreis von Persönlichkeiten, durch die Löwen in jenen Jahren zum Zentrum eines neuen Fortschritts in den exakten Wissenschaften um die Vermessung und bildliche Darstellung der Welt und ihrer Teile wurde. Hierzu gehörten der Mathematiker und Vermessungstheoretiker Regnier Gemma Frisius (Reiner Jemme, 1508-1555), der Kupferstecher und Goldschmied Gaspard van der Heyden (Gaspar a Myrica, um 1496-nach 1549) und Jacob van Deventer (um 1500-1575), der spätere „Vater der niederländischen Kartographie." Hier erlernte Mercator alle handwerklichen und wissenschaftlichen Grundlagen, die für seine spätere Karriere wichtig waren.
1536 heiratete Mercator die Löwener Bürgerstochter Barbara Schelleken, die ein Jahr später das erste von insgesamt sechs Kindern der Familie gebar. Zur Ernährung der Familie war er als Instrumentenbauer, Kupferstecher, Landvermesser und Kartenmacher tätig. Im Druck erschienen ein Globenpaar (1536/1537, Autor Frisius), Wandkarten von Palästina (1537) und Flandern (um 1540), eine erste Weltkarte (1538), eine Schrift über den Gebrauch der italienischen Kursive in der Reproduktionsgraphik (1540) und ein eigener Erdglobus (1541; der zugehörige Himmelsglobus folgte erst 1551). Die folgende Lücke im Werk ist mit weiteren privaten Studien zu erklären. Über die reine Mathematik hinaus bezog Mercator Theologie und Philosophie in die Kosmographie („Weltbeschreibung") ein. In der kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel und der Naturphilosophie des Aristoteles (384-322 vor Christus) und ihren Widersprüchen zum tagtäglich Erkennbaren in der Natur ist er vermutlich mit dem Gedankengut der Reformation in Kontakt gekommen. Neue Sichtweisen der Kosmographie dürften der Grund dafür gewesen sein, dass er 1544 trotz guter Beziehungen zum Brüsseler Hof wegen Häresie angeklagt und sechs Monate inhaftiert wurde.
Im März 1552 siedelte Mercator nach Duisburg über. Die vergleichsweise liberale Atmosphäre in den Ländern Herzog Wilhelms V. mag hierfür eine Rolle gespielt haben. Der Hauptgrund für seine Entscheidung jedoch dürften Hoffnungen auf einen Lehrstuhl an der klevischen Landesuniversität gewesen sein, deren Gründung in Duisburg in jenen Jahren maßgeblich auf Betreiben Wilhelms V. geplant wurde. Ihr wichtigster geistiger Förderer war der Humanist Georg Cassander, Berater des klevischen Hofes und Freund Mercators seit gemeinsamen Studienjahren in Löwen. Diese Universitätsgründung kam jedoch aus bis heute nicht restlos geklärten Gründen nicht zu Stande.
Mercator konnte somit lediglich einige Jahre als Mathematiklehrer am akademischen Gymnasium unterrichten. Angesichts dieses Mangels an örtlichen Ressourcen und Perspektiven fand er als erster freier Unternehmer in der Kartographiegeschichte einen Weg der völligen Autarkie. Über 40 Jahre hat er seine Karten selbst wissenschaftlich erarbeitet, dann selbst in Kupfer gestochen, auf der eigenen Presse gedruckt und im eigenen Verlag über ein eigenes Agentennetz vertrieben. Daneben baute er auch weiter astronomische und geodätische Messinstrumente und führte Vermessungsaufträge für verschiedene Auftraggeber aus. Diese brachten ihm um 1560 die Ernennung zum herzoglichen Kosmographen ein. Es war dies aber ein rein tituläres Hofamt, mit dem keine festen Einkünften verbunden waren.
Mit der Übersiedlung an den Niederrhein begann die fruchtbarste Zeit im Leben Mercators. 1554 publizierte er eine bereits in Löwen begonnene Europa-Wandkarte (revidierte Zweitauflage 1572). 1565 folgte eine Wandkarte der Britischen Inseln und 1569 schließlich die berühmte 18-blättrige Wandkarte in der nach Mercator benannten Projektion. Ihr Merkmal sind parallel in gleichen Abständen verlaufende Längengrade und ebenfalls parallel verlaufende Breitengrade, deren Abstände zu den (nicht dargestellten) Polen hin wachsen. Dadurch entstehen zwar in Bezug auf die Flächentreue erhebliche Überdehnungen in höheren Breiten. Der große Vorteil von Karten in Mercator-Projektion aber ist, dass bei ihr Linien mit konstant gleicher Richtung (Loxodrome oder Kursgleichen) als Geraden abgebildet werden und die Längengrade immer unter dem gleichen Winkel schneiden. Dies erspart bei der Navigation mit Karte sowie mit Kompass und Sonnenstand ständige und komplizierte Umrechnungen.
Vergleichbar einem Handwerksmeister hat Gerhard Mercator beizeiten dafür gesorgt, dass sein Unternehmen eine längerfristige Perspektive hatte und seine drei Söhne eine Ausbildung im Metier erhielten. Der Praktiker Arnold Mercator (1537-1587) führte nach einer Lehre bei seinem Vater zahlreiche Vermessungsarbeiten durch. Seine Kartierungen des Erzstifts Trier (1559-1567), des Stadtgebiets von Köln (1568-1570) und in Hessen (ab 1583) gehören zu den besten Landesaufnahmen des 16. Jahrhunderts im deutschen Raum. Etwa ab 1580 wuchs er in die Rolle des Firmenleiters hinein. Der zum Gelehrten bestimmte Bartholomäus Mercator (1540-1568) gab ein Lehrbuch zum Kosmographieunterricht seines Vaters in Duisburg („Breves in sphaeram," 1563) heraus. Zur gleichen Zeit arbeitete er an einer Mercatorschen Vermessung Lothringens mit. Er starb plötzlich kurz nach Beginn seines 1567 aufgenommenen Studiums in Heidelberg. Der jüngste Sohn Rumold Mercator (um 1545/1550-1599) trat 1567 in das Kölner Verlags- und Buchhandelshaus Birckmann ein. Hier war er bis um 1585 in leitender Position in Filialen in Antwerpen und London tätig. Weitere Lehrlinge des Meisters Gerhard Mercator waren der niederrheinische Kartograph Christian Sgrooten und Johannes Corputius (1542-1611), Autor des 1566 gedruckten ersten Stadtplans von Duisburg.
Spätestens seit Ende der 1560er Jahre arbeitete Gerhard Mercator konzentriert an der Verwirklichung seines großen Lebenswerkes, dem nach dem mythischen mauretanischen König benannten Projekt „Atlas." Sein Ziel war eine allumfassende Beschreibung von Himmel und Erde unter Einbezug von Theologie und Geschichte in fünf Teilen oder Sektionen
-
Text über die Erschaffung der Welt;
-
Beschreibung des Kosmos und des gestirnten Himmels;
-
Beschreibung der Länder und Meere, mit einer weiteren Untergliederung in:
a) moderne Geographie;
b) Beschreibung der antiken Welt nach der „Geographia" des Claudius Ptolemaeus (2. Jh. n. Chr.);
c) Beschreibung der antiken Welt auf der Grundlage zeitgenössischer Forschung;
-
Staaten- und Regentengeschichte;
-
allgemeine Chronologie
Die Realisierung des gigantischen Arbeitsvorhaben geschah in Schritten. 1569 erschien die „Chronologia" (Sektion 5), eine synoptische Weltgeschichte in fünf parallelen Zeitrechnungen. 1578 folgte die Ptolemaeus-Edition (Sektion 3b) mit 28 Karten.
Die Darstellung der Sektion 3a entwarf Mercator als Buch mit etwa 120 Landkarten. Ein solches Kartenwerk war nicht das erste seiner Art. Bei allen Vorläufern handelte es sich aber um Sammlungen von wenig veränderten Kopien fremder Vorlagen. Das innovative Element des Projektes von Mercator besteht im wesentlich höheren Grad von Originalität, Einheitlichkeit, Durcharbeitung und Systematik. Jede der einzelnen Karten ist völlig neu erarbeitet, jeweils unter Verwendung zahlreicher unterschiedlicher Quellen. Der Blattschnitt des Gesamtwerkes ist von Mercator selbst und weitgehend unabhängig von Vorgaben bestimmt. Für alle Karten verwandte er einen einheitlichen Zeichenschlüssel sowie eine. Alle Karten haben Längen- und Breitenskalen nach einem ebenso einheitlichen Koordinatensystem.
Die Veröffentlichung der „neuen Geographie" begann erst 1585 mit drei Teilbänden: „Galliae tabulae geographicae (16 Karten), „Belgii Inferioris geographicae tabulae (9 Karten) und „Germaniae tabulae geographicae (26 Karten). 1589 folgten noch die „Italiae, Sclavoniae, et Graeciae tabulae geographicae" (22 Karten).
Ohnehin bereits durch Gicht und Augenleiden behindert, erlebte Gerhard Mercator in diesen Jahren mehrere Schicksalsschläge. Es starben 1586 seine Frau Barbara und 1587 der älteste Sohn und Hoffnungsträger Arnold. Seit einem Schlaganfall 1590 musste er das Kartenzeichnen einstellen. In Weiterarbeit an den Sektionen I und II des Gesamtplans gelang ihm noch der Abschluss einer „Evangelienharmonie" (1592) und als Essenz der Text „Über die Erschaffung und Beschaffenheit der Welt." Nach weiteren Schlaganfällen starb Gerhard Mercator am 2.12.1594 in Duisburg.
Die Leitung des Familienunternehmen übernahm nach dem plötzlichen Tod Arnolds (1587) der heimgerufene Rumold Mercator. Eingearbeitet waren bereits auch die drei Söhne Arnolds: Johannes Mercator (um 1562-nach 1595), Gerhard II. Mercator (um 1563-1627) und Michael Mercator (um 1570-1614). Ihnen gelangen noch die Edition einer Wandkarte des Heiligen Römischen Reiches (1590) und einer weiteren neuen Lieferung des Hauptwerkes unter dem Titel „Atlantis pars altera" mit 29 Karten der Kontinente, Skandinaviens, Osteuropas und der Britischen Inseln (1595). Ebenfalls 1595 brachten sie eine Gesamtausgabe mit allem bis dahin Erschienenen auf den Markt mit folgender Gliederung:
> Auf den Haupttitel „Atlas sive cosmographicae meditationes de fabrica mundi et fabricati figura" folgen Widmungen, verschiedene Elogen, die Mercator-Biographie seines Freundes Walter Ghim, Mercators eigenes Vorwort und schließlich sein 30seitiger Text „De mundi creatione ac fabrica liber."
> Ein zweiter Teil mit eigenen Titel „Atlantis pars altera" enthält die 107 Karten.
Im Hause Mercator stand der Begriff „Atlas" also für umfassende „Betrachtungen über die Erschaffung der Welt und die Gestalt des Geschaffenen", in deren Rahmen die Karten nur einen „anderen Teil" ausmachte.
Es zeigte sich, dass das Unternehmen Mercator doch im Wesentlichen vom Genie des Firmengründers gelebt hat. Die noch fehlenden Regionalkarten etwa zu Spanien und Amerika sind nie erschienen. Bereits vor dem Tod Rumolds 1599 gingen er und seine Neffen getrennte Wege. 1602 gelang nochmals eine Duisburger Neuauflage der Sammelausgabe von 1595. 1604 aber verkaufte Gerhard II Mercator namens der Familie den gesamten Plattenbestand an den Amsterdamer Verleger Cornelis Claesz (um 1546-1609). Zusammen mit dem Kupferstecher Jodocus Hondius (1563-1612) brachte Claesz ab 1606 zahlreiche weitere Auflagen des Mercator-Atlas auf den Markt und festigte damit die Stellung Amsterdams als neues Zentrum des Kartenmachens. Diese Ausgaben verzichten auf den Zwischentitel „Atlantis pars altera" und später auch auf die Vortexte. Erst damit wurde „Atlas" zu einem Begriff für eine buchförmige Sammlung nur von Landkarten.
Quellen und Werkausgaben
van Durme, Maurice (Hg.), Correspondance Mercatorienne, Antwerpen 1959.
Gerard Mercator. Europae descriptio emendata. Faksimile mit Einführung von Arthur Dürst: Die Europa-Karte von Gerard Mercator 1572, Murten 1998.
Krücken, Wilhelm (Hg.), Gerhard Mercator. Atlas oder Kosmographische Gedanken über die Erschaffung der Welt und ihre kartographische Gestalt, Duisburg 1994.
Krücken, Wilhelm / Milz, Joseph (Hg.), Gerhard Mercator. Weltkarte ad usum navigantium, Duisburg 1569, Duisburg 1994.
de Smet, Antoine (Hg.), Les sphères terrestre et céleste de Gérard Mercator 1541 et 1551, Brüssel 1968.
Literatur
Averdunk, Heinrich, Gerhard Mercator und die Geographen unter seinen Nachkommen, Gotha 1914, Neudruck Amsterdam 1969.
Duisburger Mercator-Studien, Bochum 1993ff.
Gerhard Mercator. Europa und die Welt, Duisburg 1994.
Gerard Mercator en de geografie in de Zuidlijke Nederlanden (16de eeuw), Antwerpen 1994.
Kahl, Christian, "Mercator, Gerhard", in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 28 (2007), Sp. 1105-1128.
van der Krogt, Peter, Koeman’s Atlantes Neerlandici. New and completey revised, illustrated edition, Band 1, ‘t Goy-Houten 1998.
Roden, Günter von (Redaktion), Gerhard Mercator 1512-1594. Zum 450. Geburtstag, Duisburg 1962.
Schneider, Ute/Brakensiek, Stefan (Hg.), Gerhard Mercator. Wissenschaft und Wissenstransfer, Darmstadt 2015.
Watelet, Marcel (Hg.), Gérard Mercator cosmographe. Le temps et l’espace, Antwerpen 1994.
Watelet, Marcel (Hg.), The Mercator Atlas of Europe, Pleasant Hill 1998.
Online
Harvard Map Collection-The Mercator Globes(Englischsprachige Information zu den Globen Mercators auf der Website der Harvard College Library). [Online]
Lindgren, Uta, "Mercator, Gerhard", in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 112-115. [Online]
Mercator-Atlanten in der UB Duisburg-Essen, Campus Duisburg (Information auf der Homepage der Universitätsbibliothek Duisburg-Essen). [Online]
Stadtmuseum Duisburg (Hg.), Gerardus Mercator 1512-1594(Word-Datei auf der Homepage des Stadtmuseums Duisburg). [Online]
The Mercator Atlas of Europe (Digitale Vorlage der Europakarte Mercators von 1572 mit Erläuterungen in englischer Sprache auf der Website der British Library). [Online]
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Meurer, Peter H., Gerhard Mercator, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gerhard-mercator/DE-2086/lido/57c94d4f0123a4.67069187 (abgerufen am 08.12.2024)