Zu den Kapiteln
Heinrich Egher von Kalkar gehört zu den bedeutendsten kartäusischen Schriftstellern des 14. Jahrhunderts. Als Absolvent der Pariser Universität verfasste er einführende Kompendien zu mehreren wissenschaftlichen Disziplinen; in seinen Briefen erwies er sich als einfühlsamer Seelsorger. Sein in zahlreichen Abschriften überliefertes Hauptwerk behandelt Ursprung und Ausbreitung der Kartäuser. Daneben leitete er über Jahrzehnte hinweg verschiedene nieder- und oberrheinische Ordenshäuser; auch als Visitator hatte er wesentlichen Anteil an Festigung und Ausgestaltung der kartäusischen Lebensform.
Heinrich Egher (Eger) wurde 1328 in Kalkar geboren; er entstammte einer der führenden Familien der Stadt. Er besuchte zunächst die heimische Lateinschule, vertiefte seine Bildung in Köln und studierte seit den frühen 1350er Jahren an der Pariser Sorbonne. Dort erwarb er 1355 den Grad eines Baccalaureus artium, 1356 den des Magisters. Auch im Fach Theologie brachte er es bis zum Bakkalaureat. Welch hohes Ansehen er im Kreise der Lernenden und Lehrenden genoss, zeigt, dass man ihn 1359 zum Prokurator der „englischen“ Universitätsnation wählte, der auch die deutschen Studenten angehörten. Zwei Kanonikerpfründen sicherten ihm ein standesgemäßes Auskommen, die eine an St. Georg zu Köln, die andere an St. Suitbert zu Kaiserswerth (heute Stadt Düsseldorf).
Aus unbekannten Gründen gab er 1365 seinem Leben eine neue Richtung: Er verzichtete auf die ihm offenstehende Karriere als Weltgeistlicher und trat in das Kölner Kartäuserkloster St. Barbara ein. Nach einjährigem Noviziat legte er dort die Mönchsgelübde ab, und schon 1368 wurde er Prior der Kartause Monnikhuizen (bei Arnheim), der er fünf Jahre lang vorstand. Geert Groote (1340-1384), der Vordenker der „Devotio moderna“, einer spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung, zog sich 1374 zu innerer Einkehr ins Kloster Monnikhuizen zurück. Vielleicht ist die zeitliche Nähe kein bloßer Zufall, auch wenn die ältere Forschung sicher zu weit ging, wenn sie einen direkten Einfluss Heinrich Eghers auf Grootes Leben und Denken unterstellte.
Jedenfalls scheint sich Heinrich in den Augen der Ordensoberen als Prior von Monnikhuizen bewährt zu haben, denn 1373 berief man ihn zum Rektor der neugegründeten Kartause in Roermond. Seit circa 1375 fungierte er zudem als Visitator der Ordensprovinz „Alemannia inferior“. Der Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas (1378) wurde für ihn zur Zerreißprobe: Anfänglich scheint er sich zur avignonesischen Obödienz bekannt zu haben, denn 1381 wurde er von den Anhängern des „römischen“ Papstes Urban VI. (Pontifikat 1378-1389) als Visitator abgesetzt. Schon ein Jahr später erhielt er das Amt zurück – offenbar hatte er sich inzwischen der urbanistischen Partei angeschlossen. Regelmäßig nahm Heinrich Egher an den kartäusischen Generalkapiteln teil; fünfmal wurde er dabei in das Diffinitorium, den leitenden Ausschuss, berufen. Dreimal wurde ihm die besondere Ehre zuteil, das Generalkapitel mit einer Predigt zu eröffnen.
Nach vierjährigem Rektorat in Roermond kehrte er 1377 als Prior in sein Kölner Professkloster zurück. 1384 übernahm er die Leitung der Straßburger Kartause. Im dortigen Konvent scheint er auf anhaltenden Widerstand gestoßen zu sein. 1396 wurde ihm auf seine dringende Bitte hin die Entpflichtung („misericordia“) gewährt; seine letzten Lebensjahre verbrachte er als einfacher Mönch in St. Barbara zu Köln, wo er am 20.12.1408 an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb.
Neben seiner anstrengenden Tätigkeit in Ordensdiensten hat Heinrich Egher ein schriftstellerisches Oeuvre von beachtlichem Umfang vorgelegt. Der didaktische Anspruch, der die Mehrzahl seiner Werke prägt, spiegelt den reichen Erfahrungsschatz des früheren Universitätslehrers. Sein um 1370 verfasster „Libellus de continentiis et distinctione scientiarum“ ist eine kurze Einführung in das System der mittelalterlichen Wissenschaften und gibt grundlegende Literaturhinweise zu den einzelnen Disziplinen. Adressiert ist er an einen Koblenzer Kartäuser namens Petrus, der sich mit dem Gedanken trug, ein Studium aufzunehmen. Ähnlich pragmatisch konzipiert ist das „Cantuagium“ (um 1380), ein knappes Kompendium der Musiktheorie, dessen letztes Kapitel Ratschläge zur Komposition gregorianischer Choralgesänge enthält. Das „Loquagium“ (ebenfalls um 1380) soll als Leitfaden auf dem Gebiet der Rhetorik dienen.
Der Predigtkunst galt Heinrich Eghers besonderes Interesse, zumal er als Klostervorsteher an bestimmten Festtagen dazu verpflichtet war, ein geistliches Wort an seine Mitbrüder zu richten. 20 seiner „Sermones capitulares“ haben sich – mehr oder weniger vollständig – erhalten. Als Zeugnis kartäusischer Seelsorgepraxis ist vielleicht noch wertvoller sein „Modus faciendi sermones ad fratres conversos“. Hier befasst er sich mit Predigten für die kartäusischen Laienbrüder, über deren geistliche Betreuung ansonsten nur wenig bekannt ist. Auch auf dem Gebiet des Kirchenrechts hat er sich mit didaktischen Handreichungen hervorgetan. Das „Registrum super decretum per versus“ und das „Decretagium metricum“ (1396/1397) verzeichnen in Versform die Inhalte des „Decretum Gratiani“ (um 1140) und der Dekretalensammlung Papst Gregors IX. (Pontifikat 1227-1241; Liber Extra, 1234). Unverkennbar sind beide Schriften den Erfordernissen des Schulbetriebes geschuldet, denn die Versifizierung erleichtert das Auswendiglernen des spröden juristischen Lehrstoffs.
Heinrich Eghers wichtigste und einflussreichste Arbeit gilt der eigenen Ordenshistorie – einem Thema, das bei den Kartäusern sonst eher stiefmütterlich behandelt wurde. Der 1398 abgeschlossene „Ortus et decursus ordinis Cartusiensis“ (Ursprung und Ausbreitung des Kartäuserordens) enthält wertvolle Nachrichten zur Gründung einzelner Ordenshäuser, in zeitüblicher Weise angereichert und ausgeschmückt durch zahlreiche Wunderberichte. Doch neben dem historiographischen Ansatz verfolgt das Werk auch eine apologetische Absicht: Es will die strenge Lebensform der Kartäuser gegen Angriffe von außen verteidigen (zum Beispiel bezüglich des strengen Fleischverbots) und damit zugleich für die eremitische Lebensform werben. Nicht weniger als 19 Abschriften des „Ortus“ haben sich bis heute erhalten, darüber hinaus wissen wir von sieben verlorenen Exemplaren. Doch die erhoffte Außenwirkung blieb aus; die handschriftliche Verbreitung beschränkte sich weitgehend auf kartäusische Klosterbibliotheken.
Ein anschauliches Bild von Heinrich Eghers Persönlichkeit vermitteln seine Briefe, von denen 26 vollständig überliefert sind, einige weitere in Auszügen. Sie richten sich an kartäusische Ordensbrüder und dienen der seelsorglichen Unterweisung in konkreten Alltagssituationen. Die meisten Adressaten dürfte Heinrich auf seinen ausgedehnten Visitationsreisen kennen gelernt haben. Fast zwei Jahrzehnte lang bemühte er sich um den Mainzer Kartäuser Konrad von Winkel (gestorben 1390), der durch übertriebene Askese seine körperliche und geistige Gesundheit gefährdete und schließlich dem Wahnsinn verfiel. Resigniert vermerkte er nach Konrads Tod: „Ich habe ihn achtzehn Jahre belehrt, aber er hat nicht auf mich gehört.“ Auch andere Mitbrüder beriet er in Fragen der Ordensdisziplin und der monastischen Lebensweise, so etwa den späteren Straßburger Prior Johannes von Bacharach (gestorben 1427). In der Korrespondenz mit dem Koblenzer Kartäuser Petrus (gestorben 1382) entwickelte er dagegen Ansätze einer mystischen Theologie. Vor allem die Briefe an Petrus erfreuten sich bereits unter den Zeitgenossen großer Beliebtheit; ein unbekannter Kompilator stellte sie zu einem eigenen Traktat, dem „Libellus exhortationis ad Petrum“ (nach 1408), zusammen.
Trotz seiner fundierten scholastischen Bildung hat Heinrich stets darauf verzichtet, seine mystische Theologie in Form einer systematischen Abhandlung darzulegen. Gelegenheitsschriften machen den Großteil seines Oeuvres aus. Es scheint, dass er mit dem kartäusischen Mönchsgelübde bewusst allem wissenschaftlichen Ehrgeiz entsagte und seine Gelehrsamkeit ganz in den Dienst des Ordens stellte. Gerade diese bescheidene Zurückhaltung trug ihm die Bewunderung seiner Zeitgenossen ein und macht ihn zu einem der großen Kartäuser des 14. Jahrhunderts.
Werke
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Literatur
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Kwiatkowski, Iris, Heinrich Egher von Kalkar, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/heinrich-egher-von-kalkar-/DE-2086/lido/57c69e31505597.50516613 (abgerufen am 26.04.2024)