Heinrich von Sybel

Historiker und Politiker (1817-1895)

Philip Rosin (Bonn)

Heinrich Sybel, Porträtfoto von Franz Hanfstaengel, ca. 1857. (public domain)

Als Ge­schichts­pro­fes­sor an den Uni­ver­si­tä­ten Mar­burg, Mün­chen un­d Bonn so­wie als Lei­ter der Preu­ßi­schen Staats­ar­chi­ve Ber­lin und als Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tor war Hein­rich von Sy­bel ei­ner der ein­fluss­reichs­ten deut­schen His­to­ri­ker im 19. Jahr­hun­dert. Po­li­tisch ver­trat er na­tio­nal­li­be­ra­le Po­si­tio­nen und ver­focht of­fen­siv das Ziel ei­ner deut­schen Na­tio­nal­staats­grün­dung un­ter preu­ßi­scher Füh­rung.

Hein­rich von Sy­bel wur­de am 2.12.1817 in Düs­sel­dorf ge­bo­ren. Sein Va­ter war der im Jah­re 1831 no­bi­li­tier­te Ju­rist und Ge­hei­me Re­gie­rungs­rat Hein­rich Fer­di­nand Phil­ipp (von) Sy­bel (1781-1870), sei­ne Mut­ter Char­lot­ta Ama­lie ge­bo­re­ne Brü­gel­mann (1798-1846) ent­stamm­te ei­ner El­ber­fel­der Un­ter­neh­mer­fa­mi­lie. Der jun­ge Hein­rich wuchs in ei­nem wohl­ha­ben­den und bil­dungs­bür­ger­lich ge­präg­ten pro­tes­tan­ti­schen El­tern­haus auf. Nach dem Ab­itur 1834 be­gann er ein Ge­schichts­stu­di­um an der Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät Ber­lin, wo Leo­pold von Ran­ke (1795-1886) sein aka­de­mi­scher Leh­rer wur­de, bei dem er 1838 mit ei­ner auf La­tein ver­fass­ten Ar­beit über die Ge­schich­te der Go­ten pro­mo­viert wur­de. An­schlie­ßend wech­sel­te Sy­bel an die Rhei­ni­sche Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät Bonn und ha­bi­li­tier­te sich 1840 über die Ge­schich­te des ers­ten Kreuz­zugs. Die in Ran­kes quel­len­kri­ti­scher Me­tho­de ge­ar­bei­te­te Un­ter­su­chung (pu­bli­ziert 1841) fand in­ner­halb der „Zunf­t“ ei­ne po­si­ti­ve Auf­nah­me, 1844 er­hielt von Sy­bel in Bonn ei­ne au­ßer­plan­mä­ßi­ge Pro­fes­sur.

Be­kannt­heit über Fach­krei­se hin­aus er­lang­te Sy­bel 1844 durch die ge­mein­sam mit dem Ori­en­ta­lis­ten Jo­han­nes Gil­de­meis­ter (1812-1890) pu­bli­zier­te Streit­schrift „Der Hei­li­ge Rock zu Trier und die zwan­zig an­dern hei­li­gen un­ge­näh­ten Rö­cke“, die im ka­tho­li­schen Rhein­land zu schar­fen Re­ak­tio­nen führ­te. Die in Trier ver­wahr­ten mut­ma­ß­li­chen Be­stand­tei­le der Ge­wän­der Je­su Chris­ti sind ei­ne wich­ti­ge Re­li­quie, die den Gläu­bi­gen nur in grö­ße­ren zeit­li­chen Ab­stän­den ge­zeigt wird, ei­ne die­ser Wall­fahr­ten fand 1844 statt. Sy­bel und Gil­de­meis­ter kri­ti­sier­ten und ver­spot­te­ten aus pro­tes­tan­ti­scher Per­spek­ti­ve den ka­tho­li­schen Re­li­qui­en­kult und stell­ten dar­über hin­aus die Echt­heit des „Hei­li­gen Rocks“ of­fen in Fra­ge.

Die­se Pu­bli­ka­ti­on zeigt be­reits die Me­tho­de Sy­bels, das wis­sen­schaft­li­che Quel­len­stu­di­um mit ak­tu­el­len po­li­ti­schen Zie­len zu ver­bin­den. An­ders als sein Leh­rer Ran­ke, der die his­to­ri­sche For­schung als ei­ne ei­gen­stän­di­ge Sphä­re sah, die es rein aus Grün­den des Er­kennt­nis­ge­winns ob­jek­tiv zu be­trach­ten gel­te, ver­stand sich von Sy­bel als po­li­ti­scher His­to­ri­ker, der ei­nen „be­wu­ß­ten Sub­jek­ti­vis­mus“ (Ru­dolf Schief­fer) ver­trat. Im Jahr 1845 wur­de er auf ei­ne or­dent­li­che Pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät Mar­burg be­ru­fen und wand­te sich nun, was da­mals eher un­ge­wöhn­lich war, der neu­es­ten Ge­schich­te zu. Zwi­schen An­fang der 1850er Jah­re und dem En­de der 1870er Jah­re leg­te Sy­bel ei­ne viel be­ach­te­te fünf­bän­di­ge „Ge­schich­te der Re­vo­lu­ti­ons­zeit 1789-1795“ vor, in der er die zu­neh­men­de Ra­di­ka­li­sie­rung und den um sich grei­fen­den Ra­di­ka­lis­mus der 1790er Jah­re gei­ßel­te. Die re­vo­lu­tio­nä­ren Er­eig­nis­se des Jah­res 1848 sorg­ten er­neut für ei­nen star­ken Ak­tua­li­täts­be­zug. Wie vie­le sei­ner Pro­fes­so­ren­kol­le­gen stell­te auch Sy­bel die Wis­sen­schaft zwi­schen­zeit­lich hint­an und en­ga­gier­te sich po­li­tisch als Mit­glied des Frank­fur­ter Vor­par­la­ments, der hes­si­schen Stän­de­ver­samm­lung so­wie 1850 des kurz­le­bi­gen Er­fur­ter Uni­ons­par­la­ments. Ähn­lich wie Fried­rich Chris­toph Dah­l­mann ver­trat er aus na­tio­nal­li­be­ra­ler Per­spek­ti­ve eher ge­mä­ßig­te Po­si­tio­nen. Bei­de Sphä­ren, Po­li­tik und Wis­sen­schaft, las­sen sich bei Sy­bel nicht tren­nen. Er selbst äu­ßer­te über sich ein­mal, er sei „zu 4/7 Pro­fes­sor und zu 3/7 Po­li­ti­ker“, und der His­to­ri­ker Erich Marcks be­fand rück­bli­ckend: „Der His­to­ri­ker und der Po­li­ti­ker durch­dran­gen sich in ihm gan­z“.

1856 wech­sel­te Sy­bel an die Uni­ver­si­tät Mün­chen. Der baye­ri­sche Kö­nig Ma­xi­mi­li­an II. (1811-1864, Re­gent­schaft 1848-1864) wur­de sein För­de­rer. Im Jahr dar­auf grün­de­te Sy­bel an der Uni­ver­si­tät das „His­to­ri­sche Se­mi­n­ar“ und stell­te die Münch­ner Ge­schichts­wis­sen­schaft da­mit auf ei­ne neue in­sti­tu­tio­nel­le Grund­la­ge. Mit der „His­to­ri­schen Zeit­schrif­t“, de­ren ers­te Aus­ga­be 1859 er­schien und als de­ren Her­aus­ge­ber Sy­bel bis zu sei­nem Tod fun­gier­te, schuf er das bis heu­te füh­ren­de Pu­bli­ka­ti­ons­or­gan der deut­schen Ge­schichts­wis­sen­schaft. Dar­über hin­aus war er 1858 Mit­be­grün­der der His­to­ri­schen Kom­mis­si­on bei der Baye­ri­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und am­tier­te als de­ren ers­ter Se­kre­tär.

Im sich zu­spit­zen­den deutsch-deut­schen Dua­lis­mus ten­dier­ten Po­li­tik und Ge­sell­schaft im ka­tho­li­schen Bay­ern über­wie­gend zu Wien, der pro­tes­tan­ti­sche Preu­ßen-Freund Sy­bel hin­ge­gen er­griff ein­deu­tig Par­tei für Ber­lin. In die­ser Si­tua­ti­on lie­fer­te sich Sy­bel ei­ne hef­ti­ge Kon­tro­ver­se mit sei­nem Inns­bru­cker His­to­ri­ker­kol­le­gen Ju­li­us von Fi­cker (1826-1902), die so­wohl ei­ne fach­li­che als auch ei­ne po­li­ti­sche Di­men­si­on be­saß. In der so­ge­nann­ten Sy­bel-Fi­cker-Kon­tro­ver­se ging es vor­der­grün­dig um die mit­tel­al­ter­li­che Ita­li­en­po­li­tik seit Ot­to dem Gro­ßen (912-973, 936-973 rö­misch-deut­scher Kö­nig, ab 962 Kai­ser). Mit­te der 1850er Jah­re er­schien der ers­te von fünf Bän­den zur „Ge­schich­te der deut­schen Kai­ser­zeit“ des Kö­nigs­ber­ger His­to­ri­kers Wil­helm von Gie­se­brecht (1814-1889). Die­ser in­ter­pre­tier­te die seit dem Früh­mit­tel­al­ter prak­ti­zier­te Hin­wen­dung nach Ita­li­en und die Er­lan­gung der Kai­ser­kro­ne als Er­folgs­ge­schich­te so­wie als Vor­aus­set­zung der macht­po­li­ti­schen Vor­rang­stel­lung der rö­misch-deut­schen Herr­scher in Mit­tel­eu­ro­pa, er kam zu dem Schluss. „So lie­gen im zehn­ten Jahr­hun­dert die An­fän­ge un­se­res deut­schen Volks­le­bens, wie je­ner gro­ßen eu­ro­päi­schen Ent­wick­lung, in der wir noch heu­ti­gen Ta­ges ste­hen.“ 

In ei­ner auch als Pu­bli­ka­ti­on er­schie­ne­nen An­spra­che („Über die neue­ren Dar­stel­lun­gen der deut­schen Kai­ser­zeit“) an­läss­lich des Ge­burts­tags des baye­ri­schen Kö­nigs äu­ßer­te sich Sy­bel am 28.11.1859 kri­tisch zu Gie­se­brechts Werk. Er stell­te mit Blick auf das mit­tel­al­ter­li­che Kai­ser­tum die Fra­ge, „ob die Po­li­tik die­ser Fürs­ten die rich­ti­ge, ob sie den Be­dürf­nis­sen und dem Ge­dei­hen der Na­ti­on die ent­spre­chen­de war, ob je­ne ge­wal­ti­gen Herr­scher selbst nicht ein ganz an­de­res Ziel als die Pfle­ge der deut­schen Na­ti­on im Au­ge ge­habt ha­ben.“ Er kam er zu ei­ner von Gie­se­brecht fun­da­men­tal ver­schie­de­nen Be­wer­tung der mit­tel­al­ter­li­chen Ita­li­en­po­li­tik. Die Hin­wen­dung nach Sü­den sei schäd­lich ge­we­sen und ha­be den Macht­er­halt und den Macht­aus­bau im ei­ge­nen Land und im Os­ten be­hin­dert. Die mit­tel­al­ter­li­chen Herr­scher hät­ten sich in die ita­lie­ni­schen Kon­flik­te hin­ein­zie­hen las­sen, statt ent­spre­chend den na­tio­na­len deut­schen In­ter­es­sen zu han­deln. So lau­te­te et­wa der Vor­wurf an Ot­to den Gro­ßen, dass die­ser „ei­ne theo­kra­tisch ge­färb­te Welt­mon­ar­chie ei­nem na­tio­na­len Kö­nig­tum vor­zog.“ Das uni­ver­sa­le Han­deln war in die­sem Sin­ne an­ti­t­he­tisch zu Gie­se­brecht ge­ra­de der Grund für den zu­neh­men­den Macht­ver­lust des Hei­li­gen Rö­mi­schen Rei­ches Deut­scher Na­ti­on über die nach­fol­gen­den Jahr­hun­der­te hin­weg. „Die Kräf­te der Na­ti­on“, so Sy­bel poin­tiert, sei­en „für ei­nen stets lo­cken­den und stets täu­schen­den Macht­schim­mer im Sü­den der Al­pen ver­geu­de­t“ wor­den.

Als Re­ak­ti­on auf Sy­bels schar­fe Kri­tik sprang Fi­cker Gie­se­brecht zur Sei­te und pu­bli­zier­te 1861 sei­ne Vor­le­sun­gen über „Das Deut­sche Kai­ser­reich in sei­nen uni­ver­sa­len und na­tio­na­len Be­zie­hun­gen“. Er ver­tei­dig­te die mit­tel­al­ter­li­che Ita­li­en­po­li­tik auch un­ter Ver­weis auf die Be­deu­tung des Chris­ten­tums und die Not­wen­dig­keit, der ge­ein­ten geist­li­chen Macht auch ei­ne ge­ein­te welt­li­che ge­gen­über­zu­stel­len. Dar­über hin­aus wies er zu­recht dar­auf hin, dass ein deut­scher Na­tio­nal­staat zur da­ma­li­gen Zeit noch gar nicht be­stand und ein na­tio­na­les Be­wusst­sein noch nicht aus­ge­prägt war: „Ver­ge­bens su­chen wir bei den Schrift­stel­lern je­ner Zeit nach ei­ner An­deu­tung, daß na­tio­na­le Ten­den­zen sich gel­tend ge­macht hät­ten.“ Ex­pli­zi­ter als Sy­bel in sei­ner Aka­de­mie­re­de ging Fi­cker auf den po­li­ti­schen Ge­gen­warts­be­zug ein und warn­te vor den ne­ga­ti­ven Fol­gen ei­nes ös­ter­rei­chi­schen Macht­ver­falls für Ge­samt­deutsch­land.

Sy­bel nahm den Feh­de­hand­schuh auf und un­ter­mau­er­te sei­ne Po­si­ti­on 1862 in der Pu­bli­ka­ti­on „Die Deut­sche Na­ti­on und das Kai­ser­reich“. Erich Marcks ur­teil­te in die­sem Zu­sam­men­hang tref­fend: „Sein Buch war ei­ne Waf­fe“. Zur po­li­tisch-ak­tu­el­len Di­men­si­on der Kon­tro­ver­se führ­te Sy­bel dar­in aus: „[W]eil mir al­le Ver­gan­gen­heit die kai­ser­li­che Po­li­tik als das Grab un­se­rer Na­tio­nal­wohl­fahrt ge­zeigt hat, zie­he ich das ‚klei­ne Deutsch­land‘ von fünf­und­drei­ßig Mil­lio­nen dem gro­ßen ‚Deutsch-Un­garn-Sla­wen­lan­de‘ von sieb­zig [Mil­lio­nen] vor.“ Der Zeit­geist der 1860er Jah­re be­flü­gel­te Sy­bels Po­si­ti­on. Der Ruf nach Grün­dung ei­nes deut­schen Na­tio­nal­staats, der mit dem Schei­tern der 1848er Re­vo­lu­ti­on zu­nächst wie­der ad ac­ta ge­legt wor­den war, er­leb­te mit dem ita­lie­nisch-ös­ter­rei­chi­schen Krieg 1859 und der Ent­ste­hung Ita­li­ens ei­ne Re­nais­sance. In­fol­ge der Ei­ni­gungs­krie­ge zwi­schen 1864 und 1871 setz­te sich schlie­ß­lich die „klein­deut­sche“ Lö­sung ei­nes deut­schen Na­tio­nal­staats un­ter preu­ßi­scher Füh­rung und un­ter Aus­schluss Ös­ter­reichs durch. Ent­spre­chen selbst­si­cher und op­ti­mis­tisch hat­te Sy­bel be­reits sei­ne Pu­bli­ka­ti­on von 1862 en­den las­sen: „Wer die Ge­schich­te für sich hat, ist der Zu­kunft si­cher“. 

Auf­grund der po­li­tisch-his­to­ri­schen Kon­tro­ver­sen war Sy­bels Po­si­ti­on in Mün­chen er­schüt­tert; da­her nahm er 1861 – als Nach­fol­ger Fried­rich Chris­toph Dah­l­manns – ei­nen Ruf an die Uni­ver­si­tät Bonn an. Zur Vor­aus­set­zung für den Wech­sel hat­te es Sy­bel in den Be­ru­fungs­ver­hand­lun­gen ge­macht, dass – wie zu­vor be­reits in Mün­chen – an der Bon­ner Uni­ver­si­tät ein His­to­ri­sches Se­mi­nar ein­ge­rich­tet wer­den wür­de; sei­nem Schrei­ben zur An­nah­me des Rufs vom 1.7.1861 leg­te er gleich ei­nen Sta­tu­ten­ent­wurf für das zu grün­den­de Se­mi­nar „mit der Bit­te um mi­nis­te­ri­el­le Ge­neh­mi­gun­g“ bei.

Im Aka­de­mi­schen Jahr 1867/1868 üb­te er das Amt des Rek­tors der Rhei­ni­schen Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät aus. In die­se Zeit fiel auch das Fünf­zig-Jahr-Ju­bi­lä­um der rhei­ni­schen Al­ma Ma­ter, das im Au­gust 1868 mit ei­nem gro­ßen Fest be­gan­gen wur­de, an dem als Eh­ren­gäs­te auch das preu­ßi­sche Kö­nigs­paar und der Kron­prinz teil­nah­men. Sy­bel hielt ei­ne feu­ri­ge Fest­an­spra­che, in wel­cher er die Grün­dung der Bon­ner Uni­ver­si­tät nicht nur als Fol­ge ei­nes Sie­ges des Deutsch­tums über das na­po­leo­ni­sche Frank­reich fei­er­te, son­dern auch als Sieg der wis­sen­schaft­lich auf­ge­klär­ten Kräf­te (er­go der Pro­tes­tan­ten) ge­gen die fröm­meln­den, rück­stän­di­gen Tei­le des Vol­kes (sprich: die Ka­tho­li­ken), die der Mei­nung ge­we­sen sei­en, „die Welt müs­se wie­der zu­rück­keh­ren in das gläu­bi­ge, poe­ti­sche ge­nüg­sam glück­se­li­ge Mit­tel­al­ter; dann wer­de from­mes Deutsch­tum aus den al­ten Wur­zeln sich neu be­grün­den“. Der da­ma­li­ge Pri­vat­do­zent und spä­te­re Zen­trums­po­li­ti­ker und Reichs­kanz­ler Ge­org von Hert­ling (1843-1919, Reichs­kanz­ler 1.11.1917-29.9.1918) schrieb spä­ter in sei­nen Le­bens­er­in­ne­run­gen von „ei­ne[r] scheu­ß­lich vor­ge­tra­ge­ne[n], ten­den­zi­ös ab­ge­fa­ß­te[n] Re­de“.

In ei­nem Es­say „Über die Eman­ci­pa­ti­on der Frau­en“ wand­te sich Sy­bel 1870 zu­dem ge­gen ei­ne Auf­wer­tung des weib­li­chen Be­völ­ke­rungs­teils in Ge­sell­schaft und Wis­sen­schaft. Von der jün­ge­ren For­schung po­si­ti­ver be­ur­teilt wird hin­ge­gen Sy­bels so­zia­les Be­wusst­sein, das die Prä­gung durch das rhei­ni­sche Bür­ger­tum ver­rät, und ei­ne staat­li­che So­zi­al­po­li­tik ge­gen­über den Ar­bei­tern ge­ne­rell be­für­wor­te­te. Al­ler­dings spiel­ten Ele­men­te von In­klu­si­on und Ex­klu­si­on ei­ne Rol­le. So zeig­te Sy­bel nur we­nig Ver­ständ­nis für Min­der­hei­ten­grup­pen wie den po­li­ti­schen Ka­tho­li­zis­mus oder die ge­werk­schaft­lich or­ga­ni­sier­te Ar­bei­ter­schaft, die sich der In­te­gra­ti­on in die Ge­mein­schaft – im en­ge­ren Sin­ne der Na­ti­on – wie Sy­bel es sah be­wusst ent­zo­gen.

Noch stär­ker als an­de­re Na­tio­nal­li­be­ra­le sei­ner Zeit wan­del­te sich Sy­bel zwi­schen dem preu­ßi­schen Ver­fas­sungs­kon­flikt 1862 und der Reichs­grün­dung 1871 von ei­nem Bis­marck-Kri­ti­ker zu des­sem Be­wun­de­rer. Nach­dem das Deut­sche Kai­ser­reich am 18.1.1871 in Ver­sailles pro­kla­miert wor­den war und am 27. Ja­nu­ar schlie­ß­lich die Mel­dung von der fran­zö­si­schen Ka­pi­tu­la­ti­on ein­traf, schrieb Sy­bel die be­kann­ten Wor­te an sei­nen His­to­ri­ker­kol­le­gen Her­mann Baum­gar­ten (1825-1893): „Wo­durch hat man die Gna­de Got­tes ver­dient, so gro­ße und mäch­ti­ge Din­ge er­le­ben zu dür­fen? Was zwan­zig Jah­re der In­halt al­les Wün­schens und al­les Stre­bens ge­we­sen, das ist nun in so un­end­lich herr­li­cher Wei­se er­füllt!“

1874 kehr­te Sy­bel ins Preu­ßi­sche Ab­ge­ord­ne­ten­haus zu­rück (bis 1880), dem er be­reits zwi­schen 1862 und 1864 an­ge­hört hat­te. Hier un­ter­stütz­te er ak­tiv die Kul­tur­kampf­po­li­tik Bis­marcks ge­gen die ka­tho­li­sche Kir­che; der Ab­bruch die­ses Ver­suchs En­de der 1870er Jah­re war ein Grund gro­ßer Ent­täu­schung für ihn, doch mit Blick auf das Ver­dienst der staat­li­chen Ein­heit leb­te die Be­wun­de­rung für den Reichs­kanz­ler fort. 1875 be­reits hat­te Sy­bel Bonn ver­las­sen, um in Ber­lin die Di­rek­ti­on der Preu­ßi­schen Staats­ar­chi­ve zu über­neh­men. In die­ser Funk­ti­on brach­te er un­ter an­de­rem die Pu­bli­ka­ti­on der „Po­li­ti­schen Cor­re­spon­denz Fried­richs des Gro­ßen“ (ab 1879) auf den Weg. Spä­ter wid­me­te er sich sei­nem Al­ters­werk, der sie­ben­bän­di­gen, of­fi­ziö­sen „Die Be­grün­dung des Deut­schen Rei­ches durch Wil­helm I.“ (1889-1894). Ent­ge­gen dem Ti­tel ist der ei­gent­li­che „Hel­d“ der Reichs­kanz­ler, der ihm zu­dem ei­ne Son­der­ge­neh­mi­gung zur Nut­zung des Ak­ten­ma­te­ri­als er­teil­te. Die­se Ge­neh­mi­gung wur­de Sy­bel ei­ni­ge Mo­na­te nach der Ent­las­sung Ot­to von Bis­marcks (1815-1898 Reichs­kanz­ler 1871-1890) und des­sen Ent­zwei­ung mit Wil­helm II. (Re­gent­schaft 1888-1918) ent­zo­gen, so dass er sich für die letz­ten bei­den Bän­de über­wie­gend auf Zei­tungs­ar­ti­kel, Me­moi­ren und Zeit­zeu­gen­be­rich­te stütz­ten muss­te. Die preu­ßisch-deut­sche Auf­stiegs­ge­schich­te ließ er mit dem Be­ginn des deut­schen-fran­zö­si­schen Kriegs 1870/1871 und den pa­the­ti­schen Wor­ten en­den: „[D]as Volk hat­te im pa­trio­ti­schem Zor­ne zum Schwer­te ge­grif­fen, um die seit Jahr­hun­der­ten er­dul­de­te frem­de Ein­mi­schung in deut­sche An­ge­le­gen­hei­ten von Grund aus zu Nich­te zu ma­chen und die Un­ab­hän­gig­keit und Ein­heit des Va­ter­lan­des hof­fent­lich für al­le Zei­ten zu si­chern. Frank­reich ging für ei­ne al­te Eh­ren­stel­lung, Deutsch­land für sein jun­ges Da­sein in den Kampf.“ Sy­bels letz­tes Werk wur­de be­reits bei sei­nem Er­schei­nen kon­tro­vers dis­ku­tiert. Selbst wohl­wol­len­de Kri­ti­ker sa­hen ei­ne zu gro­ße Nä­he zum Un­ter­su­chungs­ge­gen­stand, ins­be­son­de­re zur Per­sön­lich­keit Bis­marcks. So ur­teil­te et­wa der His­to­ri­ker Marcks kri­tisch: „Sein [Sy­bels] Bis­marck ist – wie soll man sa­gen? – zu ver­stän­dig, zu kor­rekt, zu farb­los und zu harm­los, zu zahm. Der Lö­we kommt nicht zum Aus­druck, oder doch nur zu ei­nem er­heb­lich ver­bla­ß­ten.“ 

Hein­rich von Sy­bel ver­starb am 1.8.1895 in Mar­burg sei­ne Ehe­frau Ka­ro­li­ne (*1817) war be­reits 1884 ver­schie­den. Das Ehe­paar hat­te vier Söh­ne, von de­nen zwei be­reits als Kin­der star­ben. Fried­rich Lud­wig Karl von Sy­bel (1844-1927) wirk­te als Re­gie­rungs­rat in Ber­lin, Lud­wig von Sy­bel (1846-1929) war Phi­lo­lo­ge und Ar­chäo­lo­ge, er wur­de 1890 auf ein neu­ge­schaf­fe­nes Or­di­na­ri­at für Ar­chäo­lo­gie und Kunst­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Mar­burg be­ru­fen, an der er im aka­de­mi­schen Jahr 1906/07 zu­dem als Rek­tor am­tier­te.

Hein­rich von Sy­bel er­hielt für sein Wir­ken ei­ne Viel­zahl von Aus­zeich­nun­gen, dar­un­ter den Ma­xi­mi­li­ans­or­den (1857), den Or­den Pour le Mé­ri­te für Wis­sen­schaft und Küns­te (1874) so­wie den Ro­ten Ad­ler-Or­den in ver­schie­de­nen Klas­sen.

Als „Grand­sei­gneur der Wis­sen­schaft”, wie Fried­rich Meine­cke ihn in sei­nem Ne­kro­log in der His­to­ri­schen Zeit­schrift be­zeich­ne­te, hat Sy­bel die preu­ßisch-deut­sche Ge­schich­te im 19. Jahr­hun­dert als Teil der „Ge­ne­ra­ti­on von 1815“ (Erich Marcks) so­wohl wis­sen­schaft­lich als auch po­li­tisch mit­ge­stal­tet. Sein Grab be­fin­det sich auf dem Al­ten St.-Mat­thä­us-Kirch­hof in Ber­lin-Schö­ne­berg. Es wur­de lan­ge als Eh­ren­grab der Stadt Ber­lin ge­führt, bis der Se­nat 2013 die­se Ent­schei­dung auf­hob.

Die neue­re Sy­bel-For­schung un­ter­schei­det stark zwi­schen den blei­ben­den Ver­diens­ten des tüch­ti­gen und fä­hi­gen Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tors ei­ner­seits und dem in sei­nem Den­ken we­sent­lich auf da­ma­li­ge Ge­gen­warts­fra­gen be­schränk­ten His­to­ri­ker der „bor­rus­si­schen Schu­le“ und Po­li­ti­ker an­de­rer­seits.

Werke (Auswahl)

Ge­schich­te des ers­ten Kreuz­zugs, Düs­sel­dorf 1841.
Der Hei­li­ge Rock zu Trier und die und die zwan­zig an­de­ren hei­li­gen un­ge­näh­ten Rö­cke. Ei­ne His­to­ri­sche Un­ter­su­chung, Düs­sel­dorf 1844 (ge­mein­sam mit Jo­han­nes Gil­de­meis­ter). 
Ge­schich­te der Re­vo­lu­ti­ons­zeit von 1789-1795, 5 Bän­de, Düs­sel­dorf 1853-1879.
Die neue­ren Dar­stel­lun­gen der deut­schen Kai­ser­zeit, Mün­chen 1859. 
Die Deut­sche Na­ti­on und das Kai­ser­reich, Düs­sel­dorf 1862.
Die Grün­dung der Uni­ver­si­tät Bonn. Fest­re­de zum fünf­zig­jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um der Rhei­ni­schen Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät, Bonn 1868.
Über die Eman­ci­pa­ti­on der Frau­en, Bonn 1870. 
Vor­trä­ge und Auf­sät­ze, Ber­lin 1874.
Klei­ne His­to­ri­sche Schrif­ten, 3 Bän­de, Stutt­gart 1880.
Die Be­grün­dung des Deut­schen Rei­ches durch Wil­helm I. Vor­nehm­lich nach den preu­ßi­schen Staats­ak­ten, 7 Bän­de, Mün­chen/Leip­zig 1889-1894. Vor­trä­ge und Ab­hand­lun­gen, hg. von der Re­dak­ti­on der His­to­ri­schen Zeit­schrift, Mün­chen/Leip­zig 1897.

Literatur (Auswahl)

Bre­chen­ma­cher, Tho­mas, Wie­viel Ge­gen­wart ver­trägt his­to­ri­sches Ur­tei­len? Die Kon­tro­ver­se von Hein­rich von Sy­bel und Ju­li­us Fi­cker über die Be­wer­tung der Kai­ser­po­li­tik des Mit­tel­al­ters (1859-1862), in: Muhlack, Ul­rich (Hg.), His­to­ri­sie­rung und ge­sell­schaft­li­cher Wan­del in Deutsch­land im 19. Jahr­hun­dert, Ber­lin 2003, S. 87-112.
Buss­mann, Wal­ter, Hein­rich von Sy­bel, in: Bon­ner Ge­lehr­te. Bei­trä­ge zur Ge­schich­te der Wis­sen­schaf­ten in Bonn: Ge­schichts­wis­sen­schaf­ten, Bonn 1968, S. 93-103. 
Dot­ter­weich, Vol­ker, Hein­rich von Sy­bel. Ge­schichts­wis­sen­schaft in po­li­ti­scher Ab­sicht (1817-1861), Göt­tin­gen 1978. 
Ha­fer­korn, Fol­kert, So­zia­le Vor­stel­lun­gen Hein­rich von Sy­bels, Stutt­gart 1976. 
Hü­bin­ger, Paul Egon, Das His­to­ri­sche Se­mi­nar der Rhei­ni­schen Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät zu Bonn. Vor­läu­fer, Grün­der, Ent­wick­ler. Ein Weg­stück deut­scher Uni­ver­si­täts­ge­schich­te, Bonn 1963. 
Kör­ner, Hans-Mi­cha­el, Hein­rich von Sy­bel (1817-1895), in: Weigand, Ka­tha­ri­na (Hg.), Münch­ner His­to­ri­ker zwi­schen Po­li­tik und Wis­sen­schaft. 150 Jah­re His­to­ri­sches Se­mi­nar der Lud­wig-Ma­xi­mi­li­ans Uni­ver­si­tät, Mün­chen 2010, S. 79-94..
Marcks, Erich, Hein­rich von Sy­bel, in: Marcks, Erich, Män­ner und Zei­ten. Auf­sät­ze und Re­den zur neue­ren Ge­schich­te, Band 1, Leip­zig 1911, S. 255-274.
Meine­cke, Fried­rich Hein­rich v. Sy­bel †, in: His­to­ri­sche Zeit­schrift 75 (1985), S. 290-295.
Schief­fer, Ru­dolf, „…in die Me­tho­de der his­to­ri­schen For­schung ein­zu­füh­ren“. Hein­rich von Sy­bel und die Grün­dung des Bon­ner His­to­ri­schen Se­mi­nars, in: In­sti­tut für Ge­schichts­wis­sen­schaft der Rhei­ni­schen Fried­rich-Wil­helms Uni­ver­si­tät (Hg.), 150 Jah­re His­to­ri­sches Se­mi­nar. Pro­fi­le der Bon­ner Ge­schichts­wis­sen­schaft. Er­trä­ge ei­ner Ring­vor­le­sung, Sieg­burg 2013, S. 17-29.
Sei­er, Hell­mut, Hein­rich von Sy­bel, in: Weh­ler, Hans-Ul­rich (Hg.), Deut­sche His­to­ri­ker, Band 2, Göt­tin­gen 1971, S. 24-38.
Sei­er, Hell­mut, Die Staats­idee Hein­rich von Sy­bels in den Wand­lun­gen der Reichs­grün­dungs­zeit 1862/71, Lü­beck/Ham­burg 1961. 
Var­ren­trapp, Con­rad, Bio­gra­phi­sche Ein­lei­tung, in: Vor­trä­ge und Ab­hand­lun­gen, hg. von der Re­dak­ti­on der His­to­ri­schen Zeit­schrift, Mün­chen/Leip­zig 1897, S. 1-156.

Online

Dot­ter­weich, Vol­ker, "Sy­bel, Hein­rich von" in: Neue Deut­sche Bio­gra­phie 25 (2013), S. 733-735. [on­line]

 
Zitationshinweis

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Rosin, Philip, Heinrich von Sybel, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/heinrich-von-sybel/DE-2086/lido/5dad9f91a60ec1.42162059 (abgerufen am 07.12.2024)