Zu den Kapiteln
Der von seinen Freunden „Boss“ gerufene dritte von vier Söhnen des Bergmanns Friedrich Rahn (1895-1975) und seiner Ehefrau Anna (geb. Hofer, 1897-1975) wurde am 16.8.1929 in Essen geboren und starb in seiner Heimatstadt am 14.8.2003. Der rechte Außenstürmer von Rot-Weiß Essen war einer der bekanntesten Spieler jener deutschen Nationalmannschaft, der „Helden von Bern“, die am 4.7.1954 im Wankdorf-Stadion Fußballweltmeister wurde. In diesem Endspiel erzielte Rahn nach einer 2:0-Führung der favorisierten ungarischen Mannschaft die Tore zum Ausgleich und zum 3:2-Sieg in der 84. Minute. Dieser Treffer, eines der berühmtesten Tore der deutschen Fußballgeschichte, wurde durch die Radioreportage des Rundfunkreporters Herbert Zimmermann legendär: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen - Rahn schießt – Toooor! Toooor! Toooor! Toooor!“ Diese Szene ist jedem deutschen Fußballinteressierten bestens bekannt. Rahn selbst hat sie in seiner Stammkneipe in Essen-Frohnhausen und wohl auch andernorts bei einem „Pilsken“ immer wieder erzählt.
In den Jahren seiner Kindheit während des Zweiten Weltkrieges wurde Helmut Rahn mehrfach aus dem zerbombten Ruhrgebiet aufs Land verschickt. Einer seiner Brüder fiel während des Krieges. 1942 machte sich Rahns Vater mit einem kleinen Transportgeschäft für Kohlen selbstständig. Nach Kriegsende arbeitete Rahn kurze Zeit im Bergbau und machte eine Lehre als Autoelektriker, die er jedoch abbrach. Dann arbeitete er als Beifahrer, später als Chauffeur bei dem Unternehmen Didier-Kogag-Hinselmann AG, das Koks- und Gasöfen herstellte und von Georg (Schorsch) Melches (1893-1963) als Direktor geleitet wurde. In dem Unternehmen arbeiteten mehrere Spieler von Rot-Weiß-Essen. Im September 1953 heiratete Rahn die Verkäuferin Gertrud (Gerti), geborene Ermeling (1931-2012), mit der er zwei Söhne hatte, Uwe und Klaus-Peter, die beide Diplom-Ingenieure wurden.
Seine Fußballkarriere begann Rahn im Alter von neun Jahren beim SV Altenessen 1912, wechselte 1946 zum SC Oelde 09 und ging 1950 für eine Saison zu den Sportfreunden Katernberg, die damals in der Oberliga West, der höchsten Spielklasse, spielten. Der Verein war mit der Zeche Zollverein eng verbunden. 1951 schließlich wechselte er zu Rot-Weiß Essen, dem größten Essener Fußballverein. An diesem Wechsel gegen Zahlung einer Ablösesumme von 7.000 DM war Georg Melches, Gründungsmitglied und führende Persönlichkeit bei Rot-Weiß Essen, maßgeblich beteiligt. Mit Rot-Weiß Essen gewann Rahn 1953 den DFB-Pokal und 1955 die Fußballmeisterschaft im Endspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern, bei dem sein Freund Fritz Walter (1920-2002) spielte. 1959/1960 trug er für eine Saison das Trikot des 1. FC Köln wechselte dann zum niederländischen Verein SC Enschede und ging nach der Gründung der Bundesliga zum Meidericher SV (heute MSV Duisburg), mit dem er in der ersten Bundesligasaison 1963/1964 überraschend Vizemeister wurde. Rahn wurde bereits am vierten Spieltag als erster Bundesligaspieler wegen einer Tätlichkeit vom Platz gestellt. In der Spielzeit 1964/1965 hatte er erhebliche Probleme mit seiner Achillessehne, kam nur noch bei einem Spiel zum Einsatz und beendete 1965 seine Karriere nach einer Operation an der Achillessehne. Zwischen 1951 und 1965 erzielte er in 318 Meisterschaftsspielen 145 Tore.
Seine Laufbahn in der Nationalmannschaft begann im November 1951 mit einem Spiel gegen die Türkei, seinen ersten Treffer erzielte er gegen Luxemburg im heimischen Stadion an der Hafenstraße, das 1964 in Georg-Melches-Stadion umbenannt und 2012 abgerissen wurde, beim 4:1-Sieg am 23.12.1951. Insgesamt absolvierte Rahn 40 A-Länderspiele für die bundesdeutsche Mannschaft und erzielte dabei 21 Tore, zehn davon bei den beiden Weltmeisterschaften 1954 und 1958; ein B-Länderspiel.
Den Höhepunkt seiner Laufbahn, die Weltmeisterschaft in der Schweiz 1954, hätte Rahn beinahe verpasst, denn im Frühsommer jenes Jahres befand er sich mit seinem Verein Rot-Weiß Essen auf einer ausgedehnten Südamerikatournee. Dort brillierten er und einige Mitspieler bei Spielen in Argentinien und Uruguay derart, dass Franz „Penny“ Islacker (1926-1970) und ihm von Seiten des Racing Club Buenos Aires ein hoch dotierter Vertrag angeboten wurde, dessen Annahme die beiden Spieler unter Hinweis darauf, sie müssten sich erst mit ihren Frauen beraten, jedoch hinausschoben. Während der Gastspielreise erreichte ihn in Bolivien die Einladung des Bundestrainers, Josef „Sepp“ Herberger (1897-1977) zur Teilnahme an der Weltmeisterschaft in der Schweiz. Rahn brach die Reise ab und reiste zum Vorbereitungslehrgang in die Sportschule München-Grünwald.
Während des ersten WM-Spiels gegen die Türkei gehörte er nicht zur Stammelf, wobei darauf hinzuweisen ist, dass damals keine Auswechslungen möglich waren. Rahn bestritt stattdessen sein erstes Spiel in der Schweiz bei der 3:8-Niederlage gegen Ungarn, bei der er einen Treffer erzielte. Auch im Entscheidungsspiel gegen die Türkei, das mit 7:2 gewonnen wurde, kam er nicht zum Einsatz, sondern gehörte erst seit dem Viertelfinale gegen Jugoslawien, in dem er kurz vor Schluss das 2:0 erzielte, zur Stammformation. Der schon erwähnte Siegtreffer im Finale, ein „Tor für die Ewigkeit“, das Rechtsaußen Rahn im „Spiel seines Lebens“ mit seinem schwächeren linken Fuß erzielte, machte ihn nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa bekannt. Er nahm auch an der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden teil, bei der die Bundesrepublik Deutschland den vierten Platz belegte. Rahn wurde in allen sechs Spielen eingesetzt, erzielte sechs Tore und wurde damit zweiter in der Torschützenliste. Seine Karriere in der Nationalmannschaft endete im April 1960 beim Spiel gegen Portugal, in dem ihm nochmals ein Tor gelang.
Rahn war ein eher eigensinniger, körperlich starker Stürmer, kein Mannschaftsspieler. Er versuchte häufiger, ein Spiel in Alleingängen zu entscheiden und verzichtete auf den Pass zum Mitspieler. Während er technisch eher zum Durchschnitt gehörte, war er schnell, suchte stets den direkten Weg zum Tor, hatte eine gute Schusstechnik mit einem harten und präzisen Schuss und war beidfüßig gleich stark. Er verkörperte den klassischen Außenstürmer englischer Prägung, so dass es nicht verwundert, dass ihm mehrere britische Zeitungen einen längeren Nachruf widmeten. Der englische Publizist, Journalist und Schriftsteller Brian Glanville (geboren 1931) nannte ihn in seinem Nachruf im Guardian am 15.8.2003 „the kind of muscular bulldozing rightwinger once famous in British football but now seldom found anywhere.“ Damit schätzte er Rahn denn doch ein wenig falsch ein, denn wie ein “Bulldozer” spielte Rahn, der durchaus über technische Fähigkeiten verfügte, nicht.
Rahn galt auch außerhalb des Fußballplatzes als liebenswerter und witziger Draufgänger, der gerne Geschichten erzählte. Fritz Walter, der Mannschaftskapitän der bundesdeutschen Elf, eher sensibel und in sich gekehrt, der mit Rahn stets das Zimmer teilte und den „der Boss“ Friedrich zu nennen pflegte, nannte ihn „einen kraftstrotzenden und selbstbewussten Boss mit einem unerschöpflichen Vorrat an Blödsinn und Übermut.“
1957, zwei Jahre nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft, geriet Rahn mit dem Gesetz in Konflikt, als er volltrunken in eine Baugrube fuhr und die Polizisten handgreiflich attackierte, was ihm eine kurze Gefängnis- sowie eine Geldstrafe einbrachte. 1961 wurde er erneut wegen Trunkenheit am Steuer zu einer Gefängnisstrafe von vier Wochen ohne Bewährung verurteilt.
Nach seiner Karriere als Fußballer betrieb Rahn zunächst lange Jahre gemeinsam mit seinem Bruder Hans (geboren 1937) einen Gebrauchtwarenhandel, später arbeitete er als Repräsentant und Verkaufsleiter einer Entsorgungs- und Recyclingfirma. In der Öffentlichkeit trat er schon zu seinen aktiven Zeiten immer seltener auf. Seine Geschichten, vor allem die Geschichte jenes Momentes, in dem er sein “Tor für die Ewigkeit“ erzielte, erzählte er lange Jahre am liebsten in seiner Stammkneipe bei einem „Pilsken“ in der knappen Diktion des Ruhrgebiets, bevor er der beständigen Wiederholungen überdrüssig wurde. Seit den 1970er Jahren zog Rahn sich nunmehr vollständig aus der Öffentlichkeit und vom Fußball zurück und besuchte auch die Treffen der Weltmeisterelf nicht mehr. Er kümmerte sich vor allem um seine Familie, arbeitete in seinem Kleingarten, machte lange Wanderungen mit seiner Frau und engagierte sich sozial und karitativ in der Kirchengemeinde. Rahn selbst äußerte dazu: „Ich hatte Erfolg, ich habe die Welt kennen gelernt, hatte Spaß an meinem Sport, vermisse nichts, möchte nicht tauschen.“
Er starb zwei Tage vor seinem 74. Geburtstag nach langer, schwerer Krankheit und wurde auf dem Margarethenfriedhof in Essen-Holsterhausen beigesetzt.
An Helmut Rahn erinnert nicht nur eine Plakette vor seiner Stammwirtschaft im Essener Ortsteil Frohnhausen, in dem auch die Sportanlage nach ihm benannt ist. Er steht auch im Mittelpunkt von Sönke Wortmanns (geboren 1959) Film „Das Wunder von Bern“, der 2003 ein großer Erfolg war. Wortmann hatte Rahn eine Mitwirkung an dem Film angeboten, die er jedoch ablehnte. 2004, ein Jahr nach Rahns Tod, wurde am Georg-Melches-Stadion in Essen eine lebensgroße Bronzestatue des Spielers von Inka Uzoma (geboren 1947) enthüllt. Nach dem Abriss des Stadions soll sie auf dem geplanten Helmut-Rahn-Platz vor dem neuen Essener Stadion aufgestellt werden. Auf den Seitenwänden und an den Brückendurchfahrten auf der A 40 (Ruhrschnellweg) in Essen-Frohnhausen zwischen der Wickenburg- und der Hobeisenbrücke erinnern seit 2009/2010 Satzfragmente der eingangs erwähnten Reportage von Herbert Zimmermann aus dem Jahr 1954 an Helmut Rahns größten Moment.
Helmut Rahn war einer der ersten großen Stars des deutschen Fußballs, mit dem sich die Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Showbusiness gerne zeigte und der für die Fußball spielende Jugend der 1950er und frühen 1960er Jahre eines der großen Vorbilder war. „Helmut Rahn und Fritz Walter waren unsere Helden. Wir wollten sein wie sie und spielen wie sie,“ sagte Günter Netzer (geboren 1944). Nicht nur aufgrund seines „Tores für die Ewigkeit“ wird Helmut Rahn eine der großen Legenden nicht nur des deutschen, sondern auch des Weltfußballs bleiben.
Literatur
Brinkbäumer, Klaus, Dem Chef sein Boß – Eine Fortsetzung. Nachwort, in: Rahn, Helmut, Mein Hobby: Tore schießen, Neuauflage München 2004, S. 205-239.
Justen, Hans-Josef/Loskill, Jörg, „Dann war die Schachtel frei“. Helmut Rahn – Sportfreunde Katernberg, in: Justen, Hans-Josef/Loskill, Jörg (Hg.), Anstoss. Fußball im Ruhrgebiet, Gummersbach 1985, S. 46-49.
Rahn, Helmut, Mein Hobby: Tore schießen, München 1959, Neuauflage München: 2004; auch als Hörbuch [als Ghostwriter fungierte der Journalist Harald Landefeld].
Rahn, Helmut, In den guten Schuhen wird nicht Fußball gespielt, in: Beckfeld, Hermann/Boschmann, Werner (Hg.), … der Boss spielt im Himmel weiter. Fußball-Geschichten aus dem Ruhrgebiet, 2. Auflage, Bottrop 2007, S. 9-15 (= Auszug aus „Helmut Rahn, Mein Hobby: Tore schießen).
Schrepper, Georg/Wick, Uwe, Helmut Rahn – Boss, Legende, Junge aus dem Revier, in: „… immer wieder RWE!“. Die Geschichte von Rot-Weiß Essen. Mit einem statistischen Anhang von Christian Geßler, Göttingen 2004, S. 96-100.
Online
A 40 - Ein Denkmal für Helmut Rahn. [Online]
Helmut Rahn, Die Helden von Bern, Theaterstück. [Online]
Helmut Rahn (West Germany 1929-2003), World Football Legends. [Online]
Muras, Udo. Helmut, erzähl mich dat dritte Tor! Der Mann, der 1954 Deutschland aus dem Nachkrieg schoss, ist tot: Helmut Rahn, in: Die Welt, 15.8.2003. [Online]
Schürmann, Helmut, Der Wundermann von Bern. Sie nannten ihn „Boss“: Bei der WM 1954 schoss er das Siegtor der Deutschen – der Fußballer Helmut Rahn ist tot, in: Der Tagesspiegel, 16.8.2003. [Online]
The Guardian: Brian Glanville, Helmut Rahn. West Germany’s star goalscorer in two World Cups, 15.8.2003. [Online]
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Dahlmann, Dittmar, Helmut Rahn, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/helmut-rahn/DE-2086/lido/57c95acd70d4e1.60234267 (abgerufen am 14.12.2024)