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Über das weit gespannte Widerstandsnetz der Brotfabrik Germania in Duisburg-Hamborn wurde der Moerser Schmied und Schlosser Hermann Runge zu einem der führenden Köpfe des SPD-Widerstands an Rhein und Ruhr. 1935 zusammen mit mehreren hundert Gesinnungsgenossen verhaftet und 1936 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt, entging er im April 1945 nur durch seine Flucht von einem Außenkommando den brutalen Exekutionen von Häftlingen des Zuchthauses Lüttringhausen (heute Stadt Remscheid) durch die Gestapo in der Wenzelnberg-Schlucht bei Langenfeld. Als einer der Vertreter Nordrhein-Westfalens wurde er im Parlamentarischen Rat von 1948/1949 zu einem der "Väter" des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
Geboren am 28.10.1902 im niederschlesischen Konradsthal, Kreis Waldenburg, wo der Vater, Paul Runge, 1909 als Bergmann tödlich verunglückt war, kam Hermann Runge zusammen mit seiner Mutter Martha Runge und seinem älteren Bruder Fritz 1913 nach Moers in die Zechensiedlung Meerbeck-Hochstraß. Nach der Lehre von 1917 bis 1920 und Zeiten der Arbeitslosigkeit arbeitete er bis 1931 als Schlosser und Schmied auf dem dortigen Rheinpreußen-Schacht IV. Der SPD trat er 1920 bei, von 1922 bis 1932 war er Kreisvorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) – bei gleichzeitiger ehrenamtlicher Arbeit im Deutschen Metallarbeiter-Verband. Zwischen 1929 bis 1933 vertrat er seine Partei im Gemeinderat von Repelen-Baerl (dem späteren Rheinkamp – heute Stadt Moers -, zu dem auch die Rheinpreußen-Siedlung Meerbeck gehörte) und im Moerser Kreistag. 1929 heiratete er die in Moers-Utfort geborene Wilhelmine Holtappels (1907-1979), die ebenfalls in der SAJ aktiv war. 1931 wurde er Parteisekretär der SPD in Moers.
Am Niederrhein erlebte Hermann Runge die Ruhrkämpfe und die Zeit der französisch-belgischen Besetzung. Das Reichbanner Schwarz-Rot-Gold war seit 1924 im industrialisierten südlichen Kreis Moers gut organisiert. Geführt von Hermann Runge in den schwierigen Jahren vor 1933, verteidigte es die Veranstaltungen der SPD und der Zentrumspartei – etwa, als der ehemalige Reichsfinanzminister und SPD-Politiker Rudolf Hilferding (1877-1941, Reichsfinanzminister 1923. 1928/1929) 1932 zu Vorträgen kam und der Moerser NSDAP-Kreisleiter das Auftreten dieses "Juden" verhindern wollte.
Im Gefolge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und des Reichstagsbrandes (27./28.2.1933) wurden im Januar/Februar 1933 im Kreis Moers Hunderte Kommunisten verhaftet, darunter Johann Esser aus Rheinhausen (heute Stadt Duisburg). Hermann Runge, der sogleich den Widerstand der SPD organisierte, verlor mit dem Verbot der Parteien seine Arbeit als Parteisekretär und kam auch in seinem alten Beruf nicht wieder unter. 1934 fand er eine Anstellung bei der Großbäckerei "Germania" im benachbarten Duisburg-Hamborn, deren Inhaber August Kordahs (1905-1987) ebenfalls bekennender Sozialdemokrat war.
Die Verkaufsfahrten für verschiedene Brotprodukte gaben einer Reihe dort beschäftigter Widerständler Gelegenheit, an alte Verbindungen in die Arbeiterbezirke anzuknüpfen, illegale Schriften zu verteilen und unauffällig Gespräche zu führen. Die Moerser Kollegen Bernhard Jung (geboren 1901) und Walter Leese (1901-1974) sorgten für die Verbindungen nach Homberg, Rheinhausen, Meerbeck, Kamp-Lintfort, Rheurdt und Dinslaken.
Hermann Runge hat es wie folgt geschildert (in „Der rote Großvater erzählt“): "Ich war in Moers der Verbindungsmann. Meine Kontakte gingen bis Bonn und Aachen und bis nach Lüdenscheid und Bielefeld, den ganzen Niederrhein eingeschlossen. Wir hatten überall sogenannte Fünfergruppen gebildet. Verheiratete Genossen, die Kinder hatten, wurden für diese Funktionen nicht genommen. Das Material, das ich besorgt hatte, wurde von den Kurieren der verschiedenen Orte an einer bestimmten Stelle in Moers abgeholt. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Kurier aus Mönchengladbach holte das Material ab. Er verteilte es an vier weitere Leute, die ich aus Sicherheitsgründen aber schon nicht mehr kannte. Die gaben es dann wieder weiter. Manchmal schoben wir auch Flugblätter unter die Haustüren und legten sie in die Telefonzellen."
Die Informationen stammten vom Grenzsekretariat der SPD in Holland, der Exil-SPD in Brüssel oder dem Exilvorstand in Prag (SOPADE). Die Flugblätter waren oft äußerlich getarnt – etwa die "Sozialistische Aktion" als "Die Kunst des Selbstrasierens" – und kamen oft über die Rheinschiffer in Ruhrort (heute Stadt Duisburg) und Neuss. Während der kommunistische Widerstand in der Region in zahlreiche unabhängig voneinander operierende Gruppen verteilt war, erstreckte sich die SPD-Widerstandsorganisation der "Brotfahrer" – als einziges Netz – von Aachen und der niederländischen Grenze im Westen bis nach Solingen östlich des Rheins.
Den Anstoß für die Enttarnung der Gruppe gab Otto Suhr (1899-1946), NSDAP-Ortsgruppenleiter und Polizeidezernent der Stadt Moers, der die Telefone überwachen ließ. Im Mai und Juni 1935 wurden an Rhein und Ruhr mehrere hundert Sozialdemokraten verhaftet. Dabei wurden der Rheinhausener Alfred Hitz (1908-1935) und die Moerser Reinhold Büttner (1879-1935), Gustav Großmann (1886-1935) und Alex Nöthen (1885-1935) bereits in der Voruntersuchung ermordet – "Selbstmord" entsprechend gängiger Gestapo-Version. Hermann Runge wurde wiederholt misshandelt, auch auf der berüchtigten "Steinwache" in Dortmund. Zusammen mit 18 "Rädelsführern" wurde er im Dezember 1936, wenige Monate nach der Olympiade in Berlin, durch eine Kammer des Volksgerichtshofs, die eigens zu einem Sonderverfahren nach Düsseldorf anreiste, zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.
Zuvor wurden in Duisburg 167 "Brotfahrer" in drei Verfahren des Oberlandesgerichts Hamm verurteilt, darunter 70 aus dem Kreis Moers. Die Strafen schwankten zwischen drei Jahren und fünf Monaten Zuchthaus für den Hauptangeklagten Walter Leese (1901-1974) – nach 1945 erster Vorsitzender der neuen Einheitsgewerkschaft DGB im Kreis Moers – und acht Monaten für den bereits 68-jährigen Moerser Peter Zimmer (1868-1957) – im Oktober 1946 erster Alterspräsident des NRW-Landtags. Mit verurteilt wurden auch Johann Steegmann (1904-1956) und Walter Ulrich (1900-1967), die ersten Nachkriegsbürgermeister von Repelen-Baerl. Die höchste Strafe bei den verurteilten Lintfortern traf den späteren langjährigen Nachkriegs- und Ehrenbürgermeister Robert Schmelzing (1889-1963).
Ernst Gnoß (1900-1949) aus Solingen erhielt vier Jahre Zuchthaus. Er wurde 1946 der erste gewählte Präsident des nordrhein-westfälischen Landtags und trug als Wiederaufbauminister (1948-1949) dazu bei, "den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen" und in Deutschland Demokratie wieder glaubwürdig zu machen. Fritz Runge (1900-1990) in Essen. Hermanns Bruder, erhielt eine Strafe von vier Jahren und drei Monaten; nach dem Krieg war er 1950-1966 Polizeipräsident von Essen.
Sogleich nach der Befreiung, schon im Juni 1945, bemühte sich Hermann Runge um den Wiederaufbau der Partei und deren kommunalpolitische Vertretungen im Kreis Moers. Ende 1946 wurde er zum Mitglied des neu konstituierten Landtags von Nordrhein-Westfalen ernannt, im Regierungsbezirk Düsseldorf übernahm er das Amt des SPD-Parteisekretärs. Als Vertreter Nordrhein-Westfalens im Parlamentarischen Rat wirkte Runge 1948/1949 als Sekretär des "Ausschusses für Organisation des Bundes", den der 1933 von den Nationalsozialisten entmachtete Düsseldorfer Oberbürgermeister Robert Lehr leitete. Dabei war die Rolle des Widerständlers Hermann Runge sicher weniger herausragend als etwas jene von Erich Ollenhauer (1901-1963), Kurt Schumacher (1895-1952), Carlo Schmid (1896-1979), Rudolf Katz (1895-1961), Georg August Zinn (1901-1976) oder Konrad Adenauer aber er steht dort für das "anständige Deutschland" – für jenen bedeutenden Teil der Arbeiterbewegung, der sich Hitler verweigert hatte.
Hermann Runge starb am 3.5.1975 in Düsseldorf.
Eine erste größere Würdigung erfuhren Hermann und Wilhelmine Runge 1980/1983 im Rahmen der bundesweiten Ausstellung "Widerstand 1933-1945" der Friedrich-Ebert-Stiftung. Runges Widerstand und jener der niederrheinischen Sozialdemokraten wird ausführlich im Raum 4 der "Gedenkstätte deutscher Widerstand" im Berliner Bendlerblock dargestellt, wo auch eine der von den Besuchern zu ziehenden Schubladen eine Abschrift des umfangreichen Volksgerichtshof-Urteils gegen ihn freigibt.
Seine Heimatstadt Moers, die ihn über viele Jahrzehnte vergessen hatte, ehrte Hermann Runge 1996 mit der Benennung ihrer dritten Gesamtschule.
Quellen
Nachlass Hermannn Runge im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg.
Literatur
Bludau, Kuno, Gestapo geheim! Widerstand und Verfolgung in Duisburg, Bonn- Bad Godesberg 1973.
Eßer, Aletta, Hermann und Wilhelmine Runge – Die Moerser SPD im Kampf gegen die Nazis, in: Der rote Großvater erzählt, hg. v. Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, Frankfurt: 1974, S. 175-191.
Hermann und Wilhelmine R. – zwei Einzelschicksale unter dem Nationalsozialismus, in: Widerstand 1933-1945 – Sozialdemokraten und Gewerkschafter gegen Hitler, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2. Auflage, Bonn 1983, S. 121-153.
Schmidt, Bernhard/Burger, Fritz, Tatort Moers. Widerstand und Nationalsozialismus im südlichen Altkreis Moers, 3. Auflage, Moers 2005.
Schmidt, Bernhard, Vom mutigen Widerstand gegen die NS-Diktatur zur Erarbeitung der deutschen Verfassung: der Moerser Demokrat Hermann Runge, in: Jahrbuch Kreis Wesel 2010, S. 55-66.
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Schmidt, Bernhard, Hermann Runge, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-runge/DE-2086/lido/57cd23e7446d15.13931610 (abgerufen am 07.12.2024)