Hermann Runge

NS-Widerstandskämpfer und einer der "Väter" des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (1902 -1975)

Bernhard Schmidt (Moers)

Hermann Runge, Porträtfoto. (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung)

Über das weit ge­spann­te Wi­der­stands­netz der Brot­fa­brik Ger­ma­nia in Duis­burg-Ham­born wur­de der Mo­er­ser Schmied und Schlos­ser Her­mann Run­ge zu ei­nem der füh­ren­den Köp­fe des SPD-Wi­der­stands an Rhein und Ruhr. 1935 zu­sam­men mit meh­re­ren hun­dert Ge­sin­nungs­ge­nos­sen ver­haf­tet und 1936 zu neun Jah­ren Zucht­haus ver­ur­teilt, ent­ging er im April 1945 nur durch sei­ne Flucht von ei­nem Au­ßen­kom­man­do den bru­ta­len Exe­ku­tio­nen von Häft­lin­gen des Zucht­hau­ses Lüttring­hau­sen (heu­te Stadt Rem­scheid) durch die Ge­sta­po in der Wen­zeln­berg-Schlucht bei Lan­gen­feld. Als ei­ner der Ver­tre­ter Nord­rhein-West­fa­lens wur­de er im Par­la­men­ta­ri­schen Rat von 1948/1949 zu ei­nem der "Vä­ter" des Grund­ge­set­zes der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land.

Ge­bo­ren am 28.10.1902 im nie­der­schle­si­schen Kon­rads­thal, Kreis Wal­den­burg, wo der Va­ter, Paul Run­ge, 1909 als Berg­mann töd­lich ver­un­glückt war, kam Her­mann Run­ge zu­sam­men mit sei­ner Mut­ter Mar­tha Run­ge und sei­nem äl­te­ren Bru­der Fritz 1913 nach Mo­ers in die Ze­chen­sied­lung Meer­beck-Hoch­straß. Nach der Leh­re von 1917 bis 1920 und Zei­ten der Ar­beits­lo­sig­keit ar­bei­te­te er bis 1931 als Schlos­ser und Schmied auf dem dor­ti­gen Rhein­preu­ßen-Schacht IV. Der SPD trat er 1920 bei, von 1922 bis 1932 war er Kreis­vor­sit­zen­der der So­zia­lis­ti­schen Ar­bei­ter­ju­gend (SAJ) – bei gleich­zei­ti­ger eh­ren­amt­li­cher Ar­beit im Deut­schen Me­tall­ar­bei­ter-Ver­band. Zwi­schen 1929 bis 1933 ver­trat er sei­ne Par­tei im Ge­mein­de­rat von Re­pe­len-Ba­erl (dem spä­te­ren Rhein­kamp – heu­te Stadt Mo­ers -, zu dem auch die Rhein­preu­ßen-Sied­lung Meer­beck ge­hör­te) und im Mo­er­ser Kreis­tag. 1929 hei­ra­te­te er die in Mo­ers-Ut­fort ge­bo­re­ne Wil­hel­mi­ne Hol­tap­pels (1907-1979), die eben­falls in der SAJ ak­tiv war. 1931 wur­de er Par­tei­se­kre­tär der SPD in Mo­ers.

Am Nie­der­rhein er­leb­te Her­mann Run­ge die Ruhr­kämp­fe und die Zeit der fran­zö­sisch-bel­gi­schen Be­set­zung. Das Reich­ban­ner Schwarz-Rot-Gold war seit 1924 im in­dus­tria­li­sier­ten süd­li­chen Kreis Mo­ers gut or­ga­ni­siert. Ge­führt von Her­mann Run­ge in den schwie­ri­gen Jah­ren vor 1933, ver­tei­dig­te es die Ver­an­stal­tun­gen der SPD und der Zen­trums­par­tei – et­wa, als der ehe­ma­li­ge Reichs­fi­nanz­mi­nis­ter und SPD-Po­li­ti­ker Ru­dolf Hil­fer­ding (1877-1941, Reichs­fi­nanz­mi­nis­ter 1923. 1928/1929) 1932 zu Vor­trä­gen kam und der Mo­er­ser NS­DAP-Kreis­lei­ter das Auf­tre­ten die­ses "Ju­den" ver­hin­dern woll­te.

 

Im Ge­fol­ge der Macht­über­nah­me durch die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten und des Reichs­tags­bran­des (27./28.2.1933) wur­den im Ja­nu­ar/Fe­bru­ar 1933 im Kreis Mo­ers Hun­der­te Kom­mu­nis­ten ver­haf­tet, dar­un­ter Jo­hann Es­ser aus Rhein­hau­sen (heu­te Stadt Duis­burg). Her­mann Run­ge, der so­gleich den Wi­der­stand der SPD or­ga­ni­sier­te, ver­lor mit dem Ver­bot der Par­tei­en sei­ne Ar­beit als Par­tei­se­kre­tär und kam auch in sei­nem al­ten Be­ruf nicht wie­der un­ter. 1934 fand er ei­ne An­stel­lung bei der Groß­bä­cke­rei "Ger­ma­nia" im be­nach­bar­ten Duis­burg-Ham­born, de­ren In­ha­ber Au­gust Kor­dahs (1905-1987) eben­falls be­ken­nen­der So­zi­al­de­mo­krat war. 

Die Ver­kaufs­fahr­ten für ver­schie­de­ne Brot­pro­duk­te ga­ben ei­ner Rei­he dort be­schäf­tig­ter Wi­der­ständ­ler Ge­le­gen­heit, an al­te Ver­bin­dun­gen in die Ar­bei­ter­be­zir­ke an­zu­knüp­fen, il­le­ga­le Schrif­ten zu ver­tei­len und un­auf­fäl­lig Ge­sprä­che zu füh­ren. Die Mo­er­ser Kol­le­gen Bern­hard Jung (ge­bo­ren 1901) und Wal­ter Lee­se (1901-1974) sorg­ten für die Ver­bin­dun­gen nach Hom­berg, Rhein­hau­sen, Meer­beck, Kamp-Lint­fort, Rheurdt und Dins­la­ken.

Her­mann Run­ge hat es wie folgt ge­schil­dert (in „Der ro­te Gro­ßva­ter er­zähl­t“): "Ich war in Mo­ers der Ver­bin­dungs­mann. Mei­ne Kon­tak­te gin­gen bis Bonn un­d Aa­chen und bis nach Lü­den­scheid und Bie­le­feld, den gan­zen Nie­der­rhein ein­ge­schlos­sen. Wir hat­ten über­all so­ge­nann­te Fün­fer­grup­pen ge­bil­det. Ver­hei­ra­te­te Ge­nos­sen, die Kin­der hat­ten, wur­den für die­se Funk­tio­nen nicht ge­nom­men. Das Ma­te­ri­al, das ich be­sorgt hat­te, wur­de von den Ku­rie­ren der ver­schie­de­nen Or­te an ei­ner be­stimm­ten Stel­le in Mo­ers ab­ge­holt. Um ein Bei­spiel zu nen­nen: Ein Ku­rier aus Mön­chen­glad­bach hol­te das Ma­te­ri­al ab. Er ver­teil­te es an vier wei­te­re Leu­te, die ich aus Si­cher­heits­grün­den aber schon nicht mehr kann­te. Die ga­ben es dann wie­der wei­ter. Manch­mal scho­ben wir auch Flug­blät­ter un­ter die Haus­tü­ren und leg­ten sie in die Te­le­fon­zel­len."

Die In­for­ma­tio­nen stamm­ten vom Grenz­se­kre­ta­ri­at der SPD in Hol­land, der Exil-SPD in Brüs­sel oder dem Exil­vor­stand in Prag (SOP­A­DE). Die Flug­blät­ter wa­ren oft äu­ßer­lich ge­tarnt – et­wa die "So­zia­lis­ti­sche Ak­ti­on" als "Die Kunst des Selb­st­ra­sie­rens" – und ka­men oft über die Rhein­schif­fer in Ruhr­ort (heu­te Stadt Duis­burg) und Neuss. Wäh­rend der kom­mu­nis­ti­sche Wi­der­stand in der Re­gi­on in zahl­rei­che un­ab­hän­gig von­ein­an­der ope­rie­ren­de Grup­pen ver­teilt war, er­streck­te sich die SPD-Wi­der­stands­or­ga­ni­sa­ti­on der "Brot­fah­rer" – als ein­zi­ges Netz – von Aa­chen und der nie­der­län­di­schen Gren­ze im Wes­ten bis nach So­lin­gen öst­lich des Rheins.

Den An­stoß für die Ent­tar­nung der Grup­pe gab Ot­to Suhr (1899-1946), NS­DAP-Orts­grup­pen­lei­ter und Po­li­zei­de­zer­nent der Stadt Mo­ers, der die Te­le­fo­ne über­wa­chen ließ. Im Mai und Ju­ni 1935 wur­den an Rhein und Ruhr meh­re­re hun­dert So­zi­al­de­mo­kra­ten ver­haf­tet. Da­bei wur­den der Rhein­hau­se­ner Al­fred Hitz (1908-1935) und die Mo­er­ser Rein­hold Bütt­ner (1879-1935), Gus­tav Gro­ß­mann (1886-1935) und Alex Nö­then (1885-1935) be­reits in der Vor­un­ter­su­chung er­mor­det – "Selbst­mord" ent­spre­chend gän­gi­ger Ge­sta­po-Ver­si­on. Her­mann Run­ge wur­de wie­der­holt miss­han­delt, auch auf der be­rüch­tig­ten "Stein­wa­che" in Dort­mund. Zu­sam­men mit 18 "Rä­dels­füh­rern" wur­de er im De­zem­ber 1936, we­ni­ge Mo­na­te nach der Olym­pia­de in Ber­lin, durch ei­ne Kam­mer des Volks­ge­richts­hofs, die ei­gens zu ei­nem Son­der­ver­fah­ren nach Düs­sel­dorf an­reis­te, zu neun Jah­ren Zucht­haus ver­ur­teilt.

Zu­vor wur­den in Duis­burg 167 "Brot­fah­rer" in drei Ver­fah­ren des Ober­lan­des­ge­richts Hamm ver­ur­teilt, dar­un­ter 70 aus dem Kreis Mo­ers. Die Stra­fen schwank­ten zwi­schen drei Jah­ren und fünf Mo­na­ten Zucht­haus für den Haupt­an­ge­klag­ten Wal­ter Lee­se (1901-1974) – nach 1945 ers­ter Vor­sit­zen­der der neu­en Ein­heits­ge­werk­schaft DGB im Kreis Mo­ers – und acht Mo­na­ten für den be­reits 68-jäh­ri­gen Mo­er­ser Pe­ter Zim­mer (1868-1957)  – im Ok­to­ber 1946 ers­ter Al­ters­prä­si­dent des NRW-Land­tags. Mit ver­ur­teilt wur­den auch Jo­hann Steegmann (1904-1956) und Wal­ter Ul­rich (1900-1967), die ers­ten Nach­kriegs­bür­ger­meis­ter von Re­pe­len-Ba­erl. Die höchs­te Stra­fe bei den ver­ur­teil­ten Lint­for­tern traf den spä­te­ren lang­jäh­ri­gen Nach­kriegs- und Eh­ren­bür­ger­meis­ter Ro­bert Schmel­zing (1889-1963).

Ernst Gnoß (1900-1949) aus So­lin­gen er­hielt vier Jah­re Zucht­haus. Er wur­de 1946 der ers­te ge­wähl­te Prä­si­dent des nord­rhein-west­fä­li­schen Land­tags und trug als Wie­der­auf­bau­mi­nis­ter (1948-1949) da­zu bei, "den Kar­ren wie­der aus dem Dreck zu zie­hen" und in Deutsch­land De­mo­kra­tie wie­der glaub­wür­dig zu ma­chen. Fritz Run­ge (1900-1990) in Es­sen. Her­manns Bru­der, er­hielt ei­ne Stra­fe von vier Jah­ren und drei Mo­na­ten; nach dem Krieg war er 1950-1966 Po­li­zei­prä­si­dent von Es­sen.

So­gleich nach der Be­frei­ung, schon im Ju­ni 1945, be­müh­te sich Her­mann Run­ge um den Wie­der­auf­bau der Par­tei und de­ren kom­mu­nal­po­li­ti­sche Ver­tre­tun­gen im Kreis Mo­ers. En­de 1946 wur­de er zum Mit­glied des neu kon­sti­tu­ier­ten Land­tags von Nord­rhein-West­fa­len er­nannt, im Re­gie­rungs­be­zirk Düs­sel­dorf über­nahm er das Amt des SPD-Par­tei­se­kre­tärs. Als Ver­tre­ter Nord­rhein-West­fa­lens im Par­la­men­ta­ri­schen Rat wirk­te Run­ge 1948/1949 als Se­kre­tär des "Aus­schus­ses für Or­ga­ni­sa­ti­on des Bun­des", den der 1933 von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ent­mach­te­te Düs­sel­dor­fer Ober­bür­ger­meis­ter Ro­bert Lehr lei­te­te. Da­bei war die Rol­le des Wi­der­ständ­lers Her­mann Run­ge si­cher we­ni­ger her­aus­ra­gend als et­was je­ne von Erich Ol­len­hau­er (1901-1963), Kurt Schu­ma­cher (1895-1952), Car­lo Schmid (1896-1979), Ru­dolf Katz (1895-1961), Ge­org Au­gust Zinn (1901-1976) oder Kon­rad Ade­nau­er a­ber er steht dort für das "an­stän­di­ge Deutsch­land" – für je­nen be­deu­ten­den Teil der Ar­bei­ter­be­we­gung, der sich Hit­ler ver­wei­gert hat­te.

Her­mann Run­ge starb am 3.5.1975 in Düs­sel­dorf.

Ei­ne ers­te grö­ße­re Wür­di­gung er­fuh­ren Her­mann und Wil­hel­mi­ne Run­ge 1980/1983 im Rah­men der bun­des­wei­ten Aus­stel­lung "Wi­der­stand 1933-1945" der Fried­rich-Ebert-Stif­tung. Run­ges Wi­der­stand und je­ner der nie­der­rhei­ni­schen So­zi­al­de­mo­kra­ten wird aus­führ­lich im Raum 4 der "Ge­denk­stät­te deut­scher Wi­der­stand" im Ber­li­ner Bend­ler­block dar­ge­stellt, wo auch ei­ne der von den Be­su­chern zu zie­hen­den Schub­la­den ei­ne Ab­schrift des um­fang­rei­chen Volks­ge­richts­hof-Ur­teils ge­gen ihn frei­gibt.

Sei­ne Hei­mat­stadt Mo­ers, die ihn über vie­le Jahr­zehn­te ver­ges­sen hat­te, ehr­te Her­mann Run­ge 1996 mit der Be­nen­nung ih­rer drit­ten Ge­samt­schu­le.

Quellen

Nach­lass Her­mannn Run­ge im Ar­chiv der so­zia­len De­mo­kra­tie der Fried­rich-Ebert-Stif­tung, Bonn-Bad Go­des­berg.

Literatur

Blu­dau, Ku­no, Ge­sta­po ge­heim! Wi­der­stand und Ver­fol­gung in Duis­burg, Bonn- Bad Go­des­berg 1973.
Eßer, Alet­ta, Her­mann und Wil­hel­mi­ne Run­ge – Die Mo­er­ser SPD im Kampf ge­gen die Na­zis, in: Der ro­te Gro­ßva­ter er­zählt, hg. v. Werk­kreis Li­te­ra­tur der Ar­beits­welt, Frank­furt: 1974, S. 175-191.
Her­mann und Wil­hel­mi­ne R. – zwei Ein­zel­schick­sa­le un­ter dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, in: Wi­der­stand 1933-1945 – So­zi­al­de­mo­kra­ten und Ge­werk­schaf­ter ge­gen Hit­ler, hg. von der Fried­rich-Ebert-Stif­tung, 2. Auf­la­ge, Bonn 1983, S. 121-153.
Schmidt, Bern­hard/Bur­ger, Fritz, Tat­ort Mo­ers. Wi­der­stand und Na­tio­nal­so­zia­lis­mus im süd­li­chen Alt­kreis Mo­ers, 3. Auf­la­ge, Mo­ers 2005.
Schmidt, Bern­hard, Vom mu­ti­gen Wi­der­stand ge­gen die NS-Dik­ta­tur zur Er­ar­bei­tung der deut­schen Ver­fas­sung: der Mo­er­ser De­mo­krat Her­mann Run­ge, in: Jahr­buch Kreis We­sel 2010, S. 55-66.

Ausdehnung des illegalen Vertriebsnetzes der Duisburger Brotfabrik 'Germania', einer Verteilerzentrale für sozialdemokratische Schriften. (DGB/IG Metall Duisburg)

 
Zitationshinweis

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Schmidt, Bernhard, Hermann Runge, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-runge/DE-2086/lido/57cd23e7446d15.13931610 (abgerufen am 25.04.2024)