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Irmgard Keun war in den 1930er Jahren die meistgelesene deutsche Schriftstellerin. Dennoch wurde ihre literarische Bedeutung erst spät erkannt. Die Meinungen über ihre Werke gingen weit auseinander. In der NS-Zeit unterstellte man ihr eine reine Milieudarstellung armer Leute mit antideutscher Tendenz, später sprach die Kritik abschätzig von Unterhaltungsromanen für Frauen, während sie für die feministische Literaturbewegung eine Vorreiterrolle gewann. Nach 1945 geriet sie in Vergessenheit und erlebte erst in den 1970er Jahren eine Renaissance, ihre Bücher wurden wieder aufgelegt und erneut zu Bestsellern.
Das Geburtsdatum von Irmgard Keun war lange umstritten, da sie sich selbst fünf Jahre jünger gemacht hatte. Ab 1975, nachdem sie wieder entdeckt worden war, gab sie vermehrt Interviews, in denen sie geschickt ihre Biographie variierte. Heute steht fest, dass sie am 6.2.1905 in Charlottenburg (heute Berlin) als Tochter des Kaufmanns Eduard Keun und seiner Frau Elsa Charlotte, geborene Häse, geboren wurde. 1913 zog sie mit ihren Eltern und ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder nach Köln. Auf einem Lyzeum in Köln-Lindenthal absolvierte sie die mittlere Reife und besuchte danach eine Handelsschule. Von 1925 bis 1927 nahm sie Schauspielunterricht. Daraufhin hatte sie zwar einige Engagements, doch blieb der Erfolg aus. Deshalb brach sie zwei Jahre später ihre Schauspielkarriere ab und begann, von Alfred Döblin (1878-1957) angeregt, zu schreiben. Ihr erster Roman „Gilgi – eine von uns" erschien 1931 und machte sie auf Anhieb sehr bekannt.
Auch Kurt Tucholsky (1890-1935) war begeistert von der jungen Schriftstellerin und ihrem Erstlingswerk. Der zweite, 1932 entstandene Roman „Das kunstseidene Mädchen" war ebenfalls sehr erfolgreich. Zwar wurden Plagiatsvorwürfe laut, sie habe bei Robert Neumanns Roman „Karriere", der 1931 erschienen war, abgeschrieben; doch dieser stellte 1966 klar, er habe nie dergleichen behauptet.
Irmgard Keun schrieb ironisch, gesellschaftskritisch und scharfsinnig über Frauen, die selbständig werden wollten. Sie war eine wichtige Vertreterin der „Neuen Sachlichkeit", zeigte authentisch die Arbeitswelt der Frauen in der Weimarer Republik.
Von 1932 bis 1937 war Irmgard Keun mit Johannes Tralow (1882-1968) verheiratet. Gegen den Rat ihrer Eltern und Freunde hatte sie den viel älteren Regisseur und Schriftsteller geheiratet. Bereits nach wenigen Monaten wurde sie von ihm betrogen, weshalb sie wieder zu ihren Eltern zog. Sie lernte den Arzt Arnold Strauss (1902-1965) kennen, der sie heiraten wollte, doch war sie auf dem Papier noch ehelich an Johannes Tralow gebunden. Da Arnold Strauss Jude war, emigrierte er 1933 nach Holland. Beide wechselten viele Briefe, in denen es oft darum ging, dass sie in Geldnot steckte. 1935 emigrierte Arnold Strauss in die USA, wo Irmgard Keun ihn einmal besuchte.
Ihr schriftstellerischer Erfolg wurde unterbrochen, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Ihr Antrag, in den Reichsverband deutscher Schriftsteller aufgenommen zu werden, wurde abgelehnt und ihr Buch „Das kunstseidene Mädchen" auf die „schwarze Liste" gesetzt, beschlagnahmt und vernichtet, ebenso ihr Roman „Gilgi – eine von uns". Daraufhin durfte sie weder schreiben noch veröffentlichen. Als sie 1935 die Regierung wegen der Beschlagnahme ihrer Bücher im Verlag und des damit verbundenen Verdienstausfalls verklagte, wurde sie von der Gestapo verhört und ihre Klage wurde abgewiesen. 1936 wurde ihr Antrag, in die Reichsschriftumskammer aufgenommen zu werden, endgültig abgelehnt. Daraufhin emigrierte Irmgard Keun ohne ihren Ehemann Johannes Tralow nach Belgien und später nach Holland. Im Exil schrieb und veröffentlichte sie ihre Romane "Das Mädchen, mit dem die anderen Kinder nicht verkehren durften", "D-Zug dritter Klasse", „Kind aller Länder" und „Nach Mitternacht". Die im Exil entstandenen Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Mit dem Roman „Nach Mitternacht", in dem sie sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte, feierte sie einen weiteren literarischen Erfolg. Zu ihrem damaligen Freundeskreis gehörten Egon Erwin Kisch (1885-1948), Herman Kesten (1900-1996), Ernst Toller (1893-1939), Stefan Zweig (1881-1942) und Heinrich Mann (1871-1950). Von 1935 bis 1938 hatte sie mit Joseph Roth (1894-1939) eine Affäre.
Als 1940 die deutsche Wehrmacht in Holland einmarschierte, kehrte Irmgard Keun heimlich nach Köln zurück. Da zu dieser Zeit viele Künstler Selbstmord begingen, kam es zu der Falschmeldung, auch Irmgard Keun sei tot. Deshalb konnte sie unbemerkt nach Deutschland einreisen und lebte versteckt bis zum Ende des Krieges in Köln.
In der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Sie schrieb 1947 zwar kleinere Artikel in Zeitungen und publizierte verschiedene Glossen, doch die Kleinkunst lag ihr nicht. 1950 erschien das Buch „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen", das allerdings kaum verkauft wurde. 1951 wurde ihre uneheliche Tochter Martina geboren; den Namen des Vaters hielt sie sogar vor ihrer Tochter geheim. Irmgard Keun geriet zunehmend in Vergessenheit und wurde von Medikamenten und Alkohol abhängig. 1966 wurde sie entmündigt und in die Psychiatrie in Bonn eingewiesen. Erst nach sechs Jahren durfte sie die Klinik wieder verlassen und lebte dann zurückgezogen in Köln.
Nachdem 1977 in der Illustrierten „Stern" ein Porträt über sie erschienen war, kam unerwartet der Erfolg zurück. Ihre Bücher wurden wieder aufgelegt und verkauften sich erneut gut. Sie hielt Lesungen ab und gab viele Interviews. 1981 erschien ein autobiographisches Gespräch mit Klaus Antes in der „Süddeutschen Zeitung". Besonders die Frauenbewegung interessierte sich für ihre Werke. 1981 erhielt sie den Marieluise-Fleißer Preis, ihre einzige Literaturauszeichnung. Ihre Autobiographie mit dem Arbeitstitel „Kein Anschluß unter dieser Nummer", aus der sie gegenüber vielen Gesprächspartnern am Telefon zitiert hatte, hat höchst wahrscheinlich nie existiert, da in ihrem Nachlass nichts dergleichen zu finden war. Druckreif aus einem imaginären Buch „vorzulesen" - das zeigt einmal mehr ihre hervorragenden literarischen Qualitäten.
Am 5.5.1982 starb Irmgard Keun an Lungenkrebs und wurde auf dem Friedhof Melaten in Köln beerdigt. Im Figurenprogramm des Kölner Rathausturms ist sie durch eine Sandsteinplastik verewigt. In Berlin-Charlottenburg gibt es für sie in der Meinekestraße 6 eine Gedenktafel. Im Jahr 2020 wurde an Keuns ehemaligem Bonner Wohnhaus (Breite Straße 115) eine Gedenktafel enthüllt.
Werke
Das Werk, hg. im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Wüstenrot-Stiftung v. Heinrich Detering u. Beate Kennedy, 3 Bände, Göttingen 2017.
Literatur (Auswahl)
Arend, Stefanie / Martin, Ariane (Hg.), Irmgard Keun 1905/2005. Deutungen und Dokumente, Bielefeld 2005.
Bender, Stephanie, Lebensentwürfe im Romanwerk Irmgard Keuns, Taunusstein 2000.
Beutel, Heike / Hadin, Anna Barbara (Hg.), Irmgard Keun, Reinbeck 2001.
Häntzschel, Hiltrud, Irmgard Keun, Reinbek 2001.
Irmgard Keun, in: Köhler-Lutterbeck, Ursula / Siedentopf, Monika, Frauen im Rheinland, Köln 2001, S. 226-232.
Marchlewitz, Ingrid, Irmgard Keun. Leben und Werk, Würzburg 1999.
Schüller, Liane, Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik: Marieluise Fleißner, Irmgard Keun und Gabriele Tergit, Bielefeld 2005.
Weidermann, Volker, Das Buch der verbrannten Bücher, Köln 2008.
Online
Auffenberg, Frank, Von einer die auszog, das Glück zu suchen und die Forschung zu verwirren, in: Kritische Ausgabe-Zeitschirft für Germanistik und Literatur 1/2000, S. 41-43(PDF-Datei auf der Website der Kritischen Ausgabe). [Online]
Horsley, Joey, Irmgard Keun (Information auf der Website FemBio.org des FemBio Frauen-Biographieforschung e.V.). [Online]
Irmgard Keun (Information auf der Website exil-archiv.de der Else-Lasker-Schüler-Stiftung). [Online]
Petrowski, Miriam / Zimmermann, Daniel, Irmgard Keun(Online-Dokumentation des Projektseminars "Literatur und Verfolgung ab 1933" des Germanistischen Seminars der Universität Düsseldorf 2003). [Online]
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Krementz, Heidi, Irmgard Keun, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/irmgard-keun/DE-2086/lido/57c9342ed5ba25.78775690 (abgerufen am 14.11.2024)