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Johann Gustav Gildemeister war ein namhafter Orientalist des 19. Jahrhunderts, der durch seine Schrift über den Heiligen Rock zu Trier und die damit verbundene Wallfahrt des Jahres 1844 auch überregional große Bekanntheit erlangte.
Johann Gustav Gildemeister wurde am 20.7.1812 auf Gut Klein-Siemen (heute Kröpelin) im Herzogtum Mecklenburg geboren. Er entstammt einer bekannten und wohlhabenden Bremer Kaufmannsfamilie, aus der eine Reihe von Ratsherren und Bürgermeistern hervorgegangen ist. Der Vater Johann Gildemeister (1784–1844) war zunächst als Kaufmann tätig, bewirtschaftete dann einige Jahre das Gut in Klein-Siemen und arbeitete später als Redakteur der „Bremer Zeitung“. Die Mutter Marianne (1786–1856) war die älteste Tochter des bekannten Bremer Arztes Arnold Wienholt (1749–1804). Der jüngere Bruder Martin Wilhelm Eduard (1814–1893), genannt Edu, führte die kaufmännische Tradition der Familie fort. Die Famile war evangelisch-reformiert.
In Bremen, wo er den weitaus größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte, besuchte Gildemeister das Gymnasium und erhielt von Pastor Friedrich Adolf Krummacher (1767–1845) seinen ersten Unterricht in Hebräisch. Im Herbst 1832 begann er mit dem Studium der evangelischen Theologie und orientalischen Philologie in Göttingen. Einer seiner Lehrer war der Theologe und Orientalist Georg Heinrich Ewald (1803-1875), einer der Göttinger Sieben.
Stadt und Universität Bonn erlebte Gildemeister im Laufe seines Lebens aus drei verschiedenen Perspektiven, zunächst als Student, ab Herbst 1839 als Privatdozent und ab Herbst 1859 als Professor für Orientalische Sprachen und Literatur.
Als der Protestant Gildemeister zum Sommersemester 1834 von Göttingen aus ins katholische Bonn wechselte, war der Eindruck, den seine neue Heimat auf ihn machte, zunächst wenig positiv. Im ersten Brief an die Eltern vom 25.4.1834 bemerkt er, dass Bonn „[H]insichtlich der Bequemlichkeit, die hier geboten wird, […] weit hinter Göttingen zurück“ stehe. Und über seine „Kneipe“, wie er sein möbliertes Zimmer auf studentische Art nannte, klagte er, dass diese “ziemlich weit vom Universitätsgebäude“ gelegen sei. Letzteres kann mit Sicherheit als Übertreibung gelten, da die Josephstrasse, wo er wie viele andere Studenten vor und nach ihm sein Quartier nahm, heute wie damals nur wenige Minuten Fußweg vom Universitätshauptgebäude entfernt liegt.
Der negative erste Eindruck hielt nicht lange an. Bereits im folgenden Brief nur wenige Tage später bezeichnete Gildemeister Bonn als Paradies. Die Bekanntschaft mit der reizvollen Umgebung wie auch die mit einer „Clique von Bremern und Lübeckern“, dazu die erste Begegnung mit dem von Gildemeister sehr geschätzten Maitrank, einer Mischung aus Wein, Waldmeister, Zucker und Orangen, waren sicherlich nicht unschuldig an dieser Meinungsänderung.
In Bonn ebenso wie zuvor in Göttingen widmete sich Gildemeister mit Eifer seinen Studien. Mit dem Universalgelehrten August Wilhelm von Schlegel, bei dem er Sanskrit studierte, pflegte er von Anfang an ein freundschaftliches, wenn auch nicht immer unkompliziertes Verhältnis. Gildemeister bezeichnete ihn als seinen „wahrhaften Freund und Gönner“ und widmete ihm seine Dissertation. Auch mit dem Indologen Christian Lassen (1800–1876) unterhielt er über viele Jahre auf beruflicher wie privater Ebene eine freundlich-kollegiale Verbindung. Schwieriger gestaltete sich zunächst die Beziehung zu dem Arabisten Georg Wilhelm Freytag (1788–1861), einem Schüler von Silvestre de Sacy (1758–1838) in Paris. Dieser stand Gildemeister als ehemaligem Schüler Ewalds in Göttingen kritisch bis ablehnend gegenüber und empfahl ihm „als Antidotum gegen das Ewaldische Gift de Sacy’s arabische Grammatik“. Parallel zu den orientalischen betrieb Gildemeister auch seine theologischen Studien fort und befolgte damit den Rat des Historikers Karl Dietrich Hüllmann, der ihm nahegelegt hatte „neben der philos. Promotion ja nicht die theologische Licentiatenpromotion zu versäumen“.
Im Jahr 1836 beendete Gildemeister sein Studium, die Promotion erfolgte Ende 1838. Von November 1838 bis September 1839 unternahm er eine Reise nach Leiden und Paris zur Arbeit in den dortigen Bibliotheken. In dieser Zeit machte er die Bekanntschaft einer Reihe namhafter Gelehrter, darunter die Orientalisten William McGuckin de Slane (1801–1878), Étienne Marc Quatremère (1782–1857) und Joseph Toussaint Reinaud (1795–1867), der Sanskritist Eugène Burnouf (1801–1852) und der klassische Philologe Karl Benedikt Hase (1780–1864), mit denen er zum Teil noch Jahre später in Kontakt stand.
Nach Gildemeisters Rückkehr im Herbst 1839 erfolgten die Habilitation und der Beginn seiner Tätigkeit als Privatdozent in Bonn. Eine bedeutende Wende in seinem Leben markiert das Jahr 1844, das mit seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor in Bonn begann. Im selben Jahr schrieb er – zusammen mit dem Historiker Heinrich von Sybel – sein wohl bekanntestes Werk, „Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern heiligen ungenähten Röcke: eine historische Untersuchung“ (Düsseldorf 1844). In dieser Abhandlung über die Ausstellung des Heiligen Rocks in Trier und die damit verbundene Wallfahrt, die nach einer Pause von 34 Jahren erstmals wieder stattfand, weist Gildemeister auf die für ihn typische akribische und zugleich schonungslos-offene Weise die Unechtheit der Trierer Reliquie nach. Diese Publikation rief starke katholische Gegenreaktionen hervor. Zugleich erhielt sie Beifall, von protestantischer wie von katholischer Seite.
Im Jahr darauf erhielt Gildemeister einen Ruf als Ordinarius für Theologie und Orientalische Sprachen an die Universität Marburg. Angeblich war es die Rock-Schrift, durch die der Kurprinz von Hessen Friedrich Wilhelm (1802–1875) auf die beiden Verfasser aufmerksam wurde und deren Berufung an die Universität veranlasste, ein Umstand, den Gildemeister als „ein neues Wunder des heiligen Rockes“ bezeichnete. Nachdem die Hürden der Wohnungssuche überwunden waren, wechselten Gildemeister und Sybel zum Wintersemester 1845/1846 in die Universitätsstadt an der Lahn. Gildemeister blieb rund 14 Jahre in Marburg, wo er sich neben seiner Lehrtätigkeit intensiv dem Auf- und Ausbau der dortigen Bibliothek widmete. In die Marburger Zeit fallen seine Eheschließung mit der Kusine Anna Martha Johanna (1831–1909), genannt Hanne, im Jahr 1852 und die Geburt von vier der insgesamt sieben Kinder.
Im Herbst des Jahres 1859 trat Gildemeister die Nachfolge von Gustav Freytag – seinem ehemaligen Lehrer – auf dem Lehrstuhl für Orientalische Sprachen und Literatur in Bonn an, wo er bis 1889 lehrte. Er erwarb ein mehrstöckiges Haus „hinter dem Hofgarten Nr. 132 ¼ D“, heute Dyroffstraße 5, das er mit seiner Familie bezog.
Wie zuvor in Marburg war er auch in Bonn bibliothekarisch tätig. Ihm ist der Katalog der orientalischen Handschriften der Universitätsbibliothek zu verdanken, den er zwischen 1864 und 1876 erstellt hat. Bei der Neubesetzung des Postens des Oberbibliothekars an der Universitätsbibliothek im Jahr 1866 galt er zunächst als aussichtsreicher Kandidat, doch wurde an seiner Stelle Jakob Bernays (1824–1881) ernannt. Die Interessen und Aktivitäten Gildemeisters beschränkten sich aber nicht auf die Universität. In Bonn ebenso wie in Marburg war Gildemeister Mitglied mehrerer gesellschaftlich-gelehrter Vereinigungen. Seit seiner Zeit als Student gehörte er der „Bonner Lesegesellschaft“ an, kurz „Lese“ genannt, die 1787 gegründet worden war, aber erst seit 1829 Studenten in ihre Kreise aufnahm. Nach seiner Rückkehr aus Paris im Herbst 1839 wurde er außerdem in eines der damals überall entstehenden Professoren-Kränzchen aufgenommen, das so genannte „Lungenzimmer“, das indes nur wenige Jahre bestand. Außer Gildemeister gehörten diesem der Indologe Christian Lassen, der Romanist Friedrich Diez (1794–1876), der Philosoph Bruno Bauer (1809–1882), der Jurist Eduard Böcking (1802–1870) und der Musikwissenschaftler Heinrich Carl Breidenstein an, allesamt Junggesellen und (mit Ausnahme von Gildemeister) erklärte Nichtraucher, die sich dort allabendlich zum gemeinsamen Abendessen trafen. Dem 1846 gegründeten „Akademischen Lesezimmer“ trat Gildemeister nach der Rückkehr aus Marburg bei. Im Bonner Paritätsstreit des Jahres 1862, dem Konflikt um die Gleichstellung von Protestanten und Katholiken an der Universität Bonn, gehörte er zu dessen Vorstand und griff vermittelnd ein. Eine weitere Bonner Gelehrten-Vereinigung, an deren Gründung Gildemeister beteiligt war und die sich für rund 20 Jahre großer Beliebtheit erfreute, war der so genannte „Schwanen-Orden“ (auch „Schwanen-Gesellschaft“), benannt nach der Gaststätte „Schwan“, wo sie sich jeden Samstag versammelte. Abschließend muss noch Gildemeisters Beteiligung an der Gründung des Bonner Lebensmittelvereins im Jahr 1875 erwähnt werden, einer relativ unbekannten Bonner Institution, als deren Vorsitzender er von 1877 bis 1889 fungierte. In allen diesen Bereichen zeichnete er sich durch große Genauigkeit und Sinn fürs Praktische aus.
Politisch gehörte Gildemeister dem liberalen Lager an und engagierte sich während der Wahlen der 1860er Jahre in diesem Sinne. Seine regierungskritische Haltung und sein Abscheu vor allem, was er als herrscherliche Willkür empfand, waren allgemein bekannt. Daher ist nicht erstaunlich, wenn er im Juli 1870 schreibt: „Aber was sind das noch immer für Zustände, daß der Ehrgeiz u die Privatinteressen einiger gekrönter Schädel die Völker um Dinge, die sie gar nichts angehn, in unabsehbare Verwirrung zu stürzen ohne Weiteres im Stande ist.“
Gildemeister war ein begeisterter Fußgänger, der sich auch von fehlenden Wegen oder schlechtem Wetter nicht abschrecken ließ. Wie schon zuvor in Göttingen und Marburg verbrachte er auch in Bonn einen großen Teil seiner Freizeit mit Wanderungen in die nähere und weitere Umgebung. Zu seinen bevorzugten Ausflugszielen gehörten der Drachenfels, das Siebengebirge, der Laacher See und das Ahrtal. Spontane Ausflüge wie die Nachtwanderung ins Siebengebirge des Jahres 1834 wichen jedoch später beschaulicheren Unternehmungen mit der Familie per Schiff, Bahn oder Esel.
In der Orientalistik ist Gildemeister bekannt als Verfasser einer bedeutenden Anzahl von Studien, welche die bemerkenswerte Breite seines Wissens belegen. Er gehörte zu den ersten Mitgliedern der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und war aktiv in dem 1877 gegründeten Deutschen Palästinaverein (DPV), für deren publizistische Organe ZDMG (Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft) und ZDPV (Zeitschrift des Deutschen Palästinavereins) er regelmäßig schrieb. Außerhalb der Fachkreise ist er bekannt für seine Beteiligung an verschiedenen wissenschaftlichen Fehden, darunter die um den „Heiligen Rock zu Trier“ und der „Bremer Kirchenstreit“ der Jahre 1840 bis 1842, wie auch der Disput um die Echtheit der so genannten „Macarius-Fragmente“, den er 1866 in Bonn mit dem katholischen Theologe Heinrich Joseph Floß (1819–1881) ausfocht. Dabei ging es ihm aber niemals um persönliche Eitelkeiten, sondern immer um „die Erforschung der Wahrheit im Grossen und Kleinen“, wie sein Schüler Otto Hartwig (1830-1903) es formulierte.
In Bonn feierte Gildemeister sein 100. Semester als Dozent, in Bonn starb er am 11.6.1890, in Bonn wurde er begraben. Seine Verbundenheit mit der – anfangs so ablehnend betrachteten – Stadt am Rhein zeigt sich in vielen Dingen. Daher ist es nur verständlich, dass die Familie den von ihr über Jahrzehnte sorgfältig gehüteten Brief-Nachlass dem Universitätsarchiv Bonn vermacht hat.
Werke (Auswahl)
Scriptorum Arabum de srebus Indicis loci et opuscula inedita,. Bonn 1838.
Die falsche Sanscritphilologie an dem Beispiel des Herrn Dr. Hoefer in Berlin aufgezeigt, Bonn 1840.
Kalidasae Megadhuta et Çringaratilaka, Bonn 1841.
Bibliothecae sanskritae specimen, Bonn 1848.
Das Gutachten der theologischen Facultät zu Marburg über die hessische Bekenntnisfrage und seine Bestreiter, Frankfurt a.M. 1859.
De evangeliis in Arabicum e Simplice Syriaca translates, Bonn 1865.
Der Schulchan Aruch und was daran hängt. Ein gerichtlich gefordertes Gutachten, Bonn 1884.
Literatur
Gildemeister, Alfred M.H., Die Familie Gildemeister. Auszug aus der Familiengeschichte 1675–1875, in: 150 Jahre Bremer Clubleben. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Bremens. Bremen 1933, S. 245–299.
Hartwig Otto Hartwig / Müller, August Müller, Johannes Gustav Gildemeister zum Gedächtnisse, in: Centralblatt für Bibliothekswesen 7 (1890), S. 503–509.
Kirfel, Willibald, Johannes Gustav Gildemeister, 1812–1890, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn, Band 8:. Bd. 8 Sprachwissenschaften, Bonn 1968, S. 305–309.
Hoffmann-Ruf, Michaela (Hrsg.), »Es war einfach nothwendig, so und nicht anders zu schreiben«. Der Orientalist Johann Gustav Gildemeister (1812-1890) und seine Zeit, Göttingen 2014.
Schmidt, Paul, Erinnerungen an Johan Gustav Gildemeister, in: Bonner Geschichtsblätter 29 (1977), S. 142–162 .
Waldecker, Christoph, „Natürlich hat man Ursache, die näheren Untersuchung zu scheuen“. Johann Gustav Gildemeister und die Ausstellung des Heiligen Rockes zu Trier 1844, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 48 (1996), S. 391–406.
Online
Treibs, Wilhelm, „Gildemeister“, in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 392. [Online]
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Hoffmann-Ruf, Michaela, Johann Gustav Gildemeister, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/johann-gustav-gildemeister/DE-2086/lido/57c6c88372e901.68642688 (abgerufen am 24.01.2025)