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Zwischen den sich ab spätestens 1530 verfestigenden konfessionellen Fronten alt- und neugläubiger Fürsten und Gelehrter etablierte sich insbesondere am Hof der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg eine als via media, mittlerer Weg, bezeichnete Haltung, die bestimmte Positionen der neuen Lehre wie etwa den Laienkelch akzeptierte, ohne formal den Bund mit der römischen Kirche zu brechen. Ausgehend von der humanistischen Lehre, die nördlich der Alpen vor allen an niederländischen Universitäten und Schulen zahlreiche Sympathisanten fand, kennzeichnet die via media auch den Versuch des Erhalts einer größtmöglichen politischen Unabhängigkeit in einer ansonsten sich in konfessionell geprägte Lager aufteilenden Herrschaftsordnung. Johann von Vlatten war nicht nur ein führender Vertreter dieser via media; er verkörperte zudem auch einen für die sich im 16. Jahrhundert herausbildende Staatlichkeit moderner Prägung konstitutiven Beamtentypus, der sich in Stand und Bildung von seinen Vorgängergenerationen unterschied.
Die Familie von Vlatten hatte ihren Stammsitz bei Heimbach in der Eifel und geht auf das 9. Jahrhundert zurück; spätestens im 11. Jahrhundert bestand eine Verbindung zur Familie von Merode mit Stammsitz bei Langerwehe. Die verschiedenen Äste brachten immer wieder Vertreter hervor, die auf den höheren operativen Ebenen der Fürstentümer und sich herausbildenden Staatswesen der Neuzeit wichtige Aufgaben übernahmen und die in einigen niederländischen, belgischen und monegassischen Genealogien, insbesondere in Gestalt der Fürsten von Westerloo, bis heute fortbestehen. Diesen Aufstieg verdankte die Familie vor allem eine in ihrer ministerialen Herkunft liegende Loyalität zu den regierenden Fürsten.
Die Reichsministerialität – vom Ursprung her Unfreie, später auf Königsgut ansässige Freie – hatte sich im Mittelalter zu einer tragenden Säule der Beamtenschaft entwickelt. Die Ministerialenfamilien nahmen häufig zentrale Positionen in den Verwaltungen der Territorien ein. Ihre Bildung und ihre Umgangsformen waren häufig insgesamt besser als bei originär adligen Familien, die in der Regel nicht der Notwendigkeit, in höhere Dienste einzutreten, ausgesetzt waren.
Die Unterschiedlichkeit zur uradligen Familie zeigte sich schon am Bildungsgang Johanns von Vlatten, der um 1498 als zweiter Sohn Konrads von Vlatten und seiner Frau Anna von Aldenbrück (1543 gestorben) geboren wurde. Während Söhne aus adligem Hause sich in der Regel nur im Rahmen einer Kavalierstour und für kürzere Zeit dem philosophischen Grundstudium widmeten, ohne dabei einen Abschluss zu erwerben, absolvierte Johann von Vlatten sein Studium ab 1516 in Köln, später in Paris, Basel und Freiburg im Breisgau, das er mit dem Doktorat beider Rechte beendete; eine allfällige Parallele zum Adel ist jedoch der Umstand, dass Vlatten zur Finanzierung seines Studiums und standesgemäßen Lebens kirchliche Pfründen erhielt. So ist er bereits 1517 als Scholaster des Aachener Marienstiftes bekannt.
Die Kölner Universität war, als Vlatten sein Studium aufnahm, ein Bollwerk der spätmittelalterlichen Scholastik. Die in den Jahren 1515 bis 1517 publizierten Dunkelmännerbriefe persiflierten die überkommene Lehre und machten bis zum entschiedenen Eingreifen von Kurie und Rat Köln für kurze Zeit zu einem Zentrum des akademischen Diskurses zwischen alter und neuer Lehre, in den sich zeitweilig auch Erasmus von Rotterdam (1466/69-1536) einschaltete.
Schon früh suchte Vlatten den Kontakt zu dem niederländischen Gelehrten, mit dem er in regem brieflichen Austausch stand und dem er vorübergehend auch nach Basel folgte. Offenbar schätzte auch Erasmus den jungen Gelehrten und widmete ihm 1523 seine Edition von Ciceros „Gesprächen in Tusculum“. Der darin enthaltene fiktive Dialog zwischen Lehrer und Schüler scheint das Verhältnis des bereits auf dem Höhepunkt seines akademischen Ruhms stehenden Erasmus und Johann von Vlattens als gleichsam gelehrsamen und gelehrten Schülers durchaus treffend widerzuspiegeln.
Gerade die erasmianische Lehre einer gemäßigten Haltung zur Reformation wird am Hof Herzog Johanns III. (1490-1539) auf großes Interesse gestoßen sein. Johann, der durch seine Heirat mit Maria von Jülich (1491-1543) erster Herrscher über die Vereinigten Herzogtümer von Jülich, Kleve, Berg, Mark und Ravensberg geworden war, legte mit seiner ausgleichenden Haltung und seinem Bemühen um eine via media den Grundstein für die liberale Konfessionspolitik des Herzogtums, die auch von seinem Sohn Wilhelm V. konsequent fortgeführt wurde. Inwiefern diese Haltung den Kontakt zu Vlatten nur begünstigte oder ob Vlattens Einfluss zur Herausbildung der Haltung erst beitrug, ist unklar. Jedenfalls stattete der Herzog Vlatten, den er 1524 zu seinem Geheimen Rat berufen hatte, mit mehreren gut dotierten Pfründen, darunter die Propstei der Stifte in Aachen, Xanten, Kranenburg und Kerpen aus, wo die Familie von Vlatten-Merode begütert war. Auf die Wahrung dieses sozialen Besitzstandes verwendete von Vlatten zeitlebens in zahllosen Auseinandersetzungen mit den Stiften viel Mühe.
Herzog Johann ließ Vlatten zunächst viel Freiraum zur Fortführung seiner Gelehrtentätigkeit. Von 1525 bis 1527 hielt sich Vlatten gemeinsam mit dem Juristen Caspar Schober (1504-1532) in Bologna auf. Zurück im Reich nahm er an einigen Reichsversammlungen und Religionsgesprächen teil und wurde 1530 zum herzoglichen Vizekanzler unter Johann Hogreve (um 1499-1554) ernannt.
Mehrheitlich erfolgreich arbeitete von Vlatten als Unterhändler Herzog Wilhelms bei den Reichstagen. So gelang ihm etwa die Ausarbeitung eines Waffenstillstandvertrages im dritten geldrischen Erbfolgestreit. Hier rangen Jülich-Kleve-Berg und das Kaiserhaus infolge eines bereits seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts schwelenden Streits um die Vorherrschaft im Herzogtum Geldern. Der Verhandlungserfolg Vlattens wurde jedoch durch die Weigerung Wilhelms, den Vertrag zu ratifizieren und stattdessen auf eine militärische Lösung zu setzen, zunichte gemacht - eine Entscheidung im Übrigen, die durch die vollständige Niederlage Jülich-Bergs im Jahr 1543 zum schlechtmöglichsten Ausgang in der Frage führte. Obwohl Wilhelm Vlattens Rat nicht gefolgt war, hielt der Herzog weiter an seinem wichtigsten Beamten fest, und auch Vlattens Engagement für die Belange des Herzogs verringerte sich nicht. Die Ernennung zum Kanzler nach Hogreves Tod am 17.2.1554 erscheint demnach nur folgerichtig.
Diese Loyalität scheint durchaus kennzeichnend für Vlattens Charakter gewesen zu sein. In einem Brief an Erasmus bezeichnete der Arzt und Gelehrte Simon Reichwein (1501-1559) Vlatten als „getreuen Achates“. Diese Kennzeichnung wird in mehrfacher Weise als richtig verstanden werden dürfen: Achates war in der römischen Mythologie der treue Gefährte des Helden Aeneas, in der römischen Kaiserzeit war die „Treue des Achates“ sprichwörtlich. Man kann Vlatten damit als guten Freund und aufrichtigen Gefolgsmann des jeweiligen „Helden“ sehen – im intellektuellen Sinn Erasmus von Rotterdam, dem Vlatten zeitlebens eng verbunden blieb, im politischen Sinn seinen Dienstherrn, den Herzögen von Jülich, denen er als „Prototyp des via-media-Politikers“ (Eckehard Stöve) in der Sache auf Augenhöhe begegnete, in der Form sich jedoch immer einzuordnen wusste.
Johann von Vlatten nutzte seine Gelehrsamkeit und seine guten Kontakte in die akademische Welt der Zeit, um in der seinem Stand beinahe vorgegebenen Weise aufzusteigen. Er respektierte die sozialen Hierarchien, auch, weil sie diesen Aufstieg gleichsam erst ermöglichten. Vlatten starb hochgeachtet am 11.6.1562 in Düsseldorf.
Literatur
Gail, Anton, Johann von Vlatten und der Einfluß des Erasmus von Rotterdam auf die Kirchenpolitik der vereinigten Herzogtümer, in: Düsseldorfer Jahrbuch 45 (1951), S. 1–109.
Schulte, Christian, Versuchte konfessionelle Neutralität im Reformationszeitalter. Die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg unter Johann III. und Wilhelm V. und das Fürstbistum Münster unter Wilhelm von Ketteler, Diss. Münster 1995.
Stöve, Eckhard, Via media. Humanistischer Traum oder kirchenpolitische Chance? Zur Religionspolitik der vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg im 16. Jahrhundert, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 39 (1990), S. 115–133.
Online
Harleß, [Woldemar], „Johann von Vlatten“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896), S. 87-89. [online]
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Bock, Martin, Johann von Vlatten, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/johann-von-vlatten-/DE-2086/lido/5e1dcf740ea866.80948758 (abgerufen am 07.10.2024)