Zu den Kapiteln
Das Problem, den Wehrdienst aus religiösen Gründen zurückzuweisen, hat im Verlauf des Zweiten Weltkriegs Wehrmachtssoldaten aller Dienstgrade nicht wenig beschäftigt. Eine Auseinandersetzung mit den Grenzen von Gehorsam und Verpflichtung zur Treue war dabei in keiner Weise nur den Generalstäblern wie etwa den Verschwörern des 20.7.1944 vorbehalten. Nicht zuletzt der seit September 1939 mit Polen und seit Juni 1941 begonnene Krieg gegen die Sowjetunion veranlasste zahlreichen Soldaten unterschiedlicher Rangstufen, über die Rechtmäßigkeit des Angriffs sowie die Loyalität gegenüber der politischen und militärischen Führung zu reflektieren. Der NS-Ideologie zufolge gab es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, auch nicht aus Gründen des Glaubens. Wer Adolf Hitler (1889-1945) die Gefolgschaft durch Kriegsdienstverweigerung oder Fahnenflucht aufkündigte, musste spätestens seit dem Inkrafttreten eines Kriegssonderstrafrechts mit der Todesstrafe rechnen.
Die Mitglieder der „Zeugen Jehovas“ zeigten sich in dieser Frage völlig kompromisslos. Unter den Christen aller Konfessionen gab es ebenso Zustimmung wie Ablehnung. Ein Pazifismus, der keine verteidigungswürdigen Werte mehr kennt, ist abzulehnen, nicht aber eine Verweigerung auf der Basis der Heiligen Schrift und des Lehramtes. Aufgrund methodischer Feldforschung kommen in den letzten Jahren immer mehr Personen ans Tageslicht, die in unterschiedlicher Brechung den Dienst an der Waffe im NS-Staat aus Gewissensgründen abgelehnt und ihre Überzeugung mit dem Leben bezahlt haben. Die wichtigsten Opfer aus den beiden großen christlichen Konfessionen, welche durch ein Gericht zum Tode verurteilt worden sind, sind im deutschen Martyrologium „Zeugen für Christus“ biographisch vorgestellt.
Dank neuerer Forschungen konnte ein markanter religiöser Pazifist erarbeitet werden: Joseph Savelsberg. Er kam als Sohn der Eheleute Rudolf Savelsberg und Maria, geborene Emmerich, am 28.6.1913 in Aachen-Burtscheid zur Welt. Nach der Volksschulzeit nahm er Kontakt zu den Salvatorianern auf, einer im Jahre 1881 in Rom gegründeten „Apostolischen Lehrgesellschaft“, deren zentraler Gedanke „heilen beziehungsweise Heilung“ ist, verbunden mit Aktivitäten auf dem Gebiet der katholischen Presse und der Mission. Im Jahre 1933 erhielt Bruder Johannes, wie er gerufen wurde, im Eifelkloster Steinfeld das Ordensgewand und begann das Noviziat. Sein Charakter wurde als schweigsam und unbekümmert, zugleich als fleißig, „treu wie Gold“ und religiös engagiert bezeichnet. Nach dem Ablegen der ersten Ordensprofess am 31.5.1934 teilten ihm die Verantwortlichen verschiedene Aufgaben in den ordenseigenen Niederlassungen Welkenraedt bei Eupen (Belgien) und Klausheide bei Paderborn zu, bevor er sich von September bis Dezember 1938 einer Schulung als Infanterist in Detmold im Rahmen der Soldatenausbildung unterzog.
Nach einer Lagerunterbrechung erneuerte Bruder Johannes seine Ordensgelübde am 17.12.1938. Mitte 1939 erfolgte seine Einberufung zum Militärdienst im Zuge der Heeresmobilmachung. Entlang der Westgrenze Deutschlands nahmen deutsche Einheiten Stellung, um die Grenzen zu verteidigen. Bruder Johannes stand im August 1939 mit seiner Einheit im Wehrkreis VI (Münster in Westfalen) und wurde im folgenden Monat im niederrheinischen Moyland bei Kleve, etwa 15 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt, einquartiert.
In diesen Monaten meldeten sich bei Bruder Johannes wachsende Bedenken gegen die sittliche Erlaubtheit von Angriffskriegen. Ihn ließ die Frage nicht los, warum die NSDAP die Parole vom „Volk ohne Raum“ durch seine Propagandamaschine ideologisch verbreiten ließ. Von diesen Vorbehalten überzeugt, entzog sich der Infanterist mehrmals seiner Einheit und unternahm Fluchtversuche über den Reichswald in Richtung Niederlande. Wie erhalten gebliebene Militärdokumente belegen, wurde er am 3.12.1939 an der deutsch-niederländischen Grenze aufgegriffen und zur Rede gestellt. Wie der zuständige Wehrmachtspfarrer Weber den Eltern mit Schreiben vom 7.12.1939 zu verstehen gab, hatte Bruder Johannes den „Entschluss gefasst, die Truppe zu verlassen, zu desertieren und zu versuchen, auf niederländischem Gebiet überzutreten. Und das hat er getan, obschon ihm bekannt war, wie furchtbar schwer im Kriege die Strafen sind, mit denen Fahnenflucht bestraft wird. Er hat am Sonntag [3. Dezember] seinen Truppenteil verlassen und wurde am selben (sic!) Tage abends in der Nähe der Grenze festgenommen. Der Tatbestand der Fahnenflucht kann nicht bezweifelt werden und ist außerdem durch sein eigenes Geständnis erwiesen. Ich konnte es dabei leider Ihrem Sohn nicht ersparen, ihn auf die verhängnisvollen Folgen seiner unseligen Tat hinzuweisen und ihn zu bitten, sich darauf vorzubereiten. Am Dienstag, den 5. Dezember. tagte nach Beendigung der Vernehmung das Kriegsgericht, das leider auf Todesstrafe erkennen musste. Ich habe der Sitzung des Kriegsgerichtes beigewohnt und kann nur sagen, es wurde mit größtem Ernst und größter Gewissenhaftigkeit verfahren und die Urteilsfindung hat allen Beteiligten schwere Stunden bereitet. Ich selbst habe am Montagabend, nachdem die Vernehmungsakten abgeschlossen waren, und ich dieselben eingesehen hatte, über 3 Stunden mit dem Kriegsgerichtsrat, der das Kriegsgericht leitete, konferiert. Irgendwelche ausreichende mildernde Umstände, die geeignet gewesen wären, auf eine andere als Todesstrafe zu erkennen, ließen sich leider nicht finden“.
Es spricht für die Lauterkeit des jungen Salvatorianerbruders, die ihm im Verfahren nahe gelegte Behauptung nicht übernommen zu haben: Er habe sich im Reichswald verlaufen. Auf diese vorgeschobenen Ausflüchte ging er nicht ein, wollte er doch an diesem Krieg nicht mitschuldig sein. Daher sprach ihm das Kriegsgericht die bürgerlichen und politischen Rechte ab und nach Kriegsgesetz wurde er zum Tode verurteilt; das Urteil wurde durch den Oberbefehlshaber der 6. Armee bestätigt. Wie der damals 14-jährige Zeitzeuge Bernhard Jacobs berichtete, kamen die Soldaten und so auch Bruder Johannes häufig in die elterliche Gaststätte „Zur Dorfschmiede“ im nahe gelegenen Till (heute Gemeinde Bedburg-Hau). Er hatte, als die Rede auf den Krieg kam, aus dem Munde des Salvatorianers, dessen Ordenszugehörigkeit in dieser Runde unbekannt war, des Öfteren gehört: „Auf Menschen schießen kann ich nicht.“ Deutsche Mitbrüder wussten darüber hinaus, Bruder Johannes habe es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können, gegen das katholische Polen zu Felde zu ziehen. Dem Vernehmen nach sollen die Mitglieder des Kriegsgerichts von den Antworten des Angeklagten stark beeindruckt gewesen sein und noch mehr von seinem Tod, sodass sie sich aus Gewissensbissen gründlich betrunken haben sollen.
Die Exekution durch Erschießen wurde am Mittag des 6.12.1939 auf dem so genannten Katzenbuckel in Moyland vollzogen, anschließend folgte die Beerdigung im Beisein des Militärpfarrers auf dem römisch-katholischen Friedhof neben der Pfarrkirche St. Vincentius in Till. Am folgenden 13. Dezember feierten die Salvatorianer ein feierliches Requiem in der Kapelle des Salvator-Kollegs Klausheide. Im Oktober 1948 erfolgte die Exhumierung und Umbettung durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf den Ehrenfriedhof in Donsbrüggen (heute Stadt Kleve). Auf den Gedenkplatten des auf dem Friedhof befindlichen Gedächtnisraumes findet sich der Eintrag „Jos. Savelsberg“.
Der Salvatorianer war nicht unvorbereitet in den Tod gegangen, sollten doch die prophetischen Worte des greisen Simeon, die er bei der täglichen Komplet gebetet hatte, in seinem kurzen Leben bald in Erfüllung gehen: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ (Lk 2,29-32).
Wehrmachtspfarrer Weber tröstete die Eltern des Erschossenen mit folgenden Worten: „Wir müssen das Menschenleben von der Ewigkeit her betrachten. Die letzte Aufgabe des Menschen ist es, sein ewiges Ziel, eine glückliche Ewigkeit bei Christus zu erreichen, und dieses Ziel hat Josef, soweit wir Menschen und soweit ich als Priester urteilen darf, bestimmt erreicht. Wir Christen wissen, dass Tod und Grab nicht das Letzte im Menschenleben sind, sondern dass dann das ewige Leben folgt“.
Der Deutsche Bundestag hat im Jahre 1998 alle Unrechtsurteile der NS-Zeit durch ein Gesetz aufgehoben, das vier Jahre später auf Deserteure ausgeweitet wurde. Jedes Jahr findet ein Treffen in Donsbrüggen zum Gedenken an die Gewaltopfer der NS-Zeit statt, bei dem Vertreter des Vereins „Nachbarn ohne Grenzen“, der Synagoge von Nimwegen und des Befreiungsmuseums Groesbeck (Niederlande) Mitglieder sind. Dabei wird auch immer Salvatorianerbruder Johannes Savelsberg ausdrücklich gewürdigt.
Quellen
Archiv des Salvator-Kollegs Berlin.
Archiv des Katholischen Pfarramtes St. Johann-Baptist, Aachen-Burtscheid.
Literatur
Ausländer, Fietje (Hg.), Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990.
Bischops, Klaus, 200 Jahre St. Johann Baptist, Aachen 2007.
Brümmer-Pauly, Kristina, Desertion im Recht des Nationalsozialismus, Berlin 2006.
Gedenken an desertierten Salvatorianer-Novizen, in: Rheinische Post (Grenzland Post) vom 11.5.2001.
Kiebele, Anton, Die Salvatorianer in Geschichte und Gegenwart, Rom 1981.
Koch, Magnus, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg - Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn u.a. 2008.
Majer, Diemut, Aspekte der Militärjustiz im nationalsozialistischen Staat, in: Ius Commune 20 (1993), S. 248-264.
Moll, Helmut, Art. Br. Johannes (Joseph) Savelsberg, in: Moll, Helmut (Hg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, 5., erweitere und aktualisierte Auflage, Band 2, Paderborn [u.a.] 2010, S. 1399-1403.
Moris, Johan, Bruder Johannes Savelsberg SDS (1913-1939), in: Inter Nos 35 (1999), S. 203-209.
Seidler, Franz W., Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939-1945. Rechtsprechung und Strafvollzug, München/Berlin 1991.
Wette, Wolfram, Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge – Opfer- Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels, Essen 1995.
Wette, Wolfram /Vogel, Detlef (Hg.), Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat, Berlin 2008.
Zahn, Gordon C., German Catholics and Hitler’s Wars. A Study in social control, New York 1962.
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Moll, Helmut, Johannes Savelsberg, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/johannes-savelsberg/DE-2086/lido/57c942d783d9e4.63465368 (abgerufen am 21.09.2023)