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Jürgen Rühle war Journalist und Kulturredakteur, Experte für den osteuropäischen Kommunismus, Verlagslektor bei Kiepenheuer und Witsch in Köln und Fernsehredakteur beim Westdeutschen Rundfunk.
Jürgen Rühle wurde am 5.11.1924 in Berlin als Sohn des evangelischen Bankbeamten und ehemaligen Offiziers Theodor Rühle geboren. Von 1931 bis 1935 besuchte er die Grundschule in seiner Heimatstadt und im Anschluss daran die Menzel-Oberschule in Berlin-Moabit. Nach dem Abitur im Jahre 1942 wurde Rühle zur Wehrmacht eingezogen und 1944 zum Leutnant befördert. Im Mai 1945 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Nach Rühles Angaben wurde sein Vater im Frühjahr 1945 von den Nationalsozialisten des Hochverrats angeklagt, weil er sich als Volkssturmkommandant geweigert hatte, den Norden Berlins gegen die vorrückende Sowjetarmee zu verteidigen.
Von 1945 bis 1949 befand sich Jürgen Rühle in einem sowjetischen Arbeitslager in Scheljabinsk im Ural. Hier wirkte er als Dozent der Antifa-Schule und unterrichtete zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Nach seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft kehrte Rühle nach Berlin zurück und immatrikulierte sich an der Humboldt-Universität in Ostberlin. Hier studierte er Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Seine akademischen Lehrer waren unter anderem Hans Mayer (1907-2001), Richard Hamann (1879-1961), Victor Klemperer (1881-1960), Wolfgang Harich (1923-1995) und Alfred Kantorowicz (1899-1979).
Parallel dazu begann er ein Volontariat bei der „Berliner Zeitung“. Am 1.4.1950 wurde er Redakteur und kommissarischer Leiter des Kulturressorts, ab Herbst 1952 arbeitete er zudem regelmäßig als Theaterkritiker für die Wochenzeitung „Sonntag“.
Als Theaterkritiker und Feuilletonredakteur verfügte Rühle über ausgezeichnete Kontakte zur Schriftstellerszene Ostberlins und Intellektuellen wie Johannes R. Becher (1891-1958), Bert Brecht (1898-1956), Arnold Zweig (1887-1968), Ernst Bloch (1885-1977) oder Georg Lukacz (1885-1971). In die SED trat Rühle nicht ein. Als Protagonist des „Neuen Kurses“ in der DDR-Kulturpolitik und Teilnehmer am Aufstand des 17. Juni 1953 wurde er vom Ministerium für Staatssicherheit bespitzelt. Als Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurden, floh Rühle im Frühjahr 1955 in den Westen. Die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus sollte sich als roter Faden durch sein Lebenswerk ziehen, angefangen mit den frühen Monographien „Das gefesselte Theater“ (1957) und „Literatur und Revolution“ (1960), die seinerzeit zu den Standardwerken gehörten.
Rühle ließ sich in Köln nieder und arbeitete in den folgenden Jahren als Freiberufler für zahlreiche Printmedien wie „Die Welt“, die „Neue Zürcher Zeitung“, den „Spiegel“, die „Problems of Communism“ in Washington und nicht zuletzt auch für die BBC in London. Am 1.11.1956 trat Rühle als hauptamtlicher Lektor in den Verlag Kiepenheuer und Witsch in Köln ein. Als Lektor betreute er unter anderem den Autor Manès Sperber (1905-1984) oder verantwortete deutsche Erstausgaben von russischen Autoren, so zum Beispiel im Jahre 1958 den Roman „Wir“ des sowjetischen Dissidenten Jewgeni Samjatin (1884-1937). Darüber hinaus war Rühle Redakteur der Zeitschrift „SBZ-Archiv“ und gehörte 1961 zu den Mitbegründern von „amnesty international“ Deutschland.
Zum 1.1.1963 wechselte Rühle zum Westdeutschen Rundfunk, und zwar zum jungen Medium Fernsehen, das sich in den 1960er Jahren zum neuen Leitmedium entwickelte. In der Fernsehdirektion übernahm er innerhalb der Hauptabteilung Zeitgeschehen unter Chefredakteur Franz Wördemann (1923-1992) die Leitung der Redaktion „Diesseits und jenseits der Zonengrenze“. Rühles Redaktion – faktisch bis zur Einstellung von Klaus Liebe im November 1963 ein Ein-Mann-Betrieb – lieferte Beiträge zur gleichnamigen Sendereihe, die gemeinschaftlich von den Sendern NDR, SFB und dem WDR produziert wurde. Wie der Titel schon andeutete, ging es dabei in erster Linie um innerdeutsche Themen und die DDR-Berichterstattung, unter anderem in Zusammenarbeit mit freien Autoren wie Ralph Giordano (1923-2014). Die Produktion „Die Schriftsteller und die SED“ (15.5.1963) realisierte Rühle zusammen mit Co-Autor Hans-Ulrich Barth.
Als Nachfolgerin der im April 1965 eingestellten Gemeinschaftssendereihe „Diesseits und jenseits der Zonengrenze“ wurde die Sendereihe „Ost und West“ aus der Taufe gehoben, die nicht nur gesamtdeutsche Fragen thematisierte, sondern umfassender über „Probleme des Kommunismus und damit zusammenhängende Aspekte“informieren wollte. Jürgen Rühle und Klaus Liebe erweiterten nun das Spektrum an Themen, indem sie ihre Berichterstattung auf den ganzen Ostblock ausweiteten. Rühle setzte sich dabei dezidiert für die „Neue Ostpolitik“, die Anerkennung der Oder-Neisse-Linie und eine Verständigung mit Polen ein, die im Wesentlichen auch die Aufarbeitung der NS-Diktatur voraussetzte. Programmatisch lautete deshalb das Plädoyer der Produktion von Rühle und Liebe vom 6.3.1968, „Wem gehört der Osten?“, er gehöre den „Menschen, die ihn bewohnen, heute bewohnen“.
In einem nächsten Schritt öffnete sich die Ost-West-Redaktion Fragen des Weltkommunismus, der Beschäftigung mit China und schließlich auch mit Problemen der Dritten Welt, beginnend 1974 mit einem Feature über das Schwellenland Algerien. Exklusive Erstdrehgenehmigungen für westliche Kamerateams in Drittweltstaaten wie Jemen, Kuba oder Nordkorea verdankte der WDR dabei der Zusammenarbeit mit der aus Pakistan stammenden Autorin Roshan Dhunjibhoy (1931-2011). 35 zum Teil hochkarätige Preise sprechen für den Erfolg der redaktionellen Arbeit von Jürgen Rühle und Klaus Liebe - die bei ihrem Eintritt in den WDR nicht einmal einen Fernseher besessen hatten.
Ende der 1960er Jahre begann Rühle, den Ost-West-Konflikt in den Kontext länger dauernder historischer Prozesse zu stellen. Folgerichtig erweiterte die Redaktion jetzt ihr Themenspektrum hin zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Redaktion wechselte nun vom Programmbereich Politik in den Programmbereich Kultur und Wissenschaft. Der neue Ansatz schlug sich in Sendereihen wie „Spuren“ (Erstsendedatum 4.1.1973) oder „Gestern“ nieder, es war der Beginn des institutionalisierten Geschichtsfernsehens des WDR. Geleitet wurde Rühle vom Anspruch einer strikten Sachlichkeit der Berichterstattung ohne moralisierende Wertung der dargestellten Sujets. Das bewusste Offenlassung der Bewertung bedeutete für ihn einen demokratischen Prozess der freien Meinungsbildung der Zuschauer.
Im August 1985 verließ Jürgen Rühle die Redaktion aus Krankheitsgründen. Er starb am 29.6.1986 in Bonn.
Werke
Das gefesselte Theater, Köln 1957.
Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus, München 1963.
[zusammen mit] Gunter Holzweißig, 13. August 1961: die Mauer von Berlin, hg. von Ilse Spittmann, Köln 1981.
Literatur (Auswahl)
Bernard, Birgit „Wem gehört der Osten?“ Jürgen Rühle und die Ost-West-Redaktion Fernsehen des Westdeutschen Rundfunks 1963-1985, in: Rundfunk und Geschichte 37 (2011), Heft 3-4, S. 96-101.
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Bernard, Birgit, Jürgen Rühle, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/juergen-ruehle-/DE-2086/lido/60c083743a0962.40940710 (abgerufen am 07.12.2024)