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Dorpmüller stand fast 20 Jahre an der Spitze der deutschen Reichsbahn, die seinerzeit das größe Verkehrsunternehmen der Welt war. In dieser Zeit (1926 bis 1945) führte er Eisenbahn und Eisenbahner durch schwierige Zeiten, die in der Überforderung der Ressourcen der Reichsbahn im Zweiten Weltkrieg gipfelten und endeten. Der „gelernte“ Eisenbahner Dorpmüller, heute nicht umumstritten, galt den meisten der bei der Reichsbahn Tätigen als guter Sachwalter ihrer Belange, so dass sich für ihn auch die Bezeichnung, „Hindenburg der Eisenbahn“ einbürgerte.
Julius Heinrich Dorpmüller wurde am 24.7.1869 in Elberfeld (heute Stadt Wuppertal) als Sohn des Eisenbahningenieurs Heinrich Dorpmüller (1841–1918) und seiner Frau Anna Maria geborene Raulff (1839–1890) geboren, der Vater war protestantisch, die Mutter katholisch, Dorpmüller wurde protestantisch getauft. Er besuchte die Schule in Gladbach (heute Stadt Mönchengladbach) und das Kaiser-Karl-Gymnasium in Aachen. Von 1889 bis 1893 studierte er Eisenbahn- und Straßenbau an der Technischen Hochschule Aachen. In Aachen trat er dem 1871 gegründeten Corps Delta im Weinheimer Senioren Convent (WSC) bei, Corpsbrüder waren unter anderem sein Amtsvorgänger als Reichsverkehrsminister, Paul Freiherr von Eltz-Rübenach, und mehrere spätere Eisenbahndirektionspräsidenten. Die Erste Hauptprüfung legte der zeitlebens unverheiratete Dorpmüller am 25.11.1893 mit der Note „Gut“ ab; als Regierungsbauführer leistete er seinen Vorbereitungsdienst bei zahlreichen Inspektionen und Ämtern der Eisenbahndirektion Köln. Vom 1.10.1894 bis 30.9.1895 diente er als Einjährig-Freiwilliger beim 5. Westfälischen Infanterie-Regiment Nr. 53. Nach seiner Abschlussprüfung 1898 wurde er als Regierungsbaumeister von der Eisenbahndirektion Saarbrücken übernommen und 1904 „planmäßig angestellt“.
Bereits 1907 ließ er sich aus dem Staatseisenbahndienst beurlauben und trat in die Dienste der Schantungbahn in China, deren technisches Büro er leitete. Im April 1908 wechselte er als Chefingenieur für den deutschen Teil der kaiserlich-chinesischen Staatseisenbahn Tsientsin-Pukow bei Nanking. Nachdem er den ihm übertragenen etwa 700 Kilometer langen Nordabschnitt fertiggestellt hatte, übernahm er die Betriebsleitung der ganzen Strecke (1912). Infolge der Kriegserklärung Chinas an die Mittelmächte am 14.3.1917 verlor er im August 1917 seine Stellung. Der drohenden Internierung entzog er sich durch die Flucht und schlug sich, als Missionar verkleidet, auf abenteuerliche Weise über die Mandschurei, Sibirien und Südrußland nach Deutschland durch.
In Berlin meldete er sich wieder zum Dienst bei der Eisenbahn. Dorpmüller wurde am 25.5.1918 zur Militär-Generaldirektion der Eisenbahnen einberufen und als Leutnant einem Stützpunkt in Kospoli zur besonderen Verwendung zugeteilt, im Herbst 1918 war er in Tiflis eingesetzt. Nach Kriegsende trat er, im Juli 1918 zum Regierungs- und Baurat befördert, im Januar 1919 als bautechnischer Streckendezernent zur Eisenbahndirektion Stettin. Ende 1919 wechselte er als Oberbaurat an die Eisenbahndirektion Essen, wo er die Leitung des Oberbaudezernats übernahm. Im März 1921 zog er in Erwägung, als Berater von Krupp beim Bau einer Eisenbahnbrücke in China mitzuarbeiten, der Auftrag kam jedoch nicht zustande. Stattdessen ernannte Reichsverkehrsminister Wilhelm Groener (1867–1939) ihn am 23.5.1922 zum Präsidenten der für bei Deutschland verbliebenen Strecken (insgesamt 935 Kilometer) der früheren preußischen Eisenbahndirektion Kattowitz neu gebildeten Eisenbahndirektion (ab 6.7.1922 Reichsbahndirektion) Oppeln. In dieser Stellung ging es unter anderem um eine gute Zusammenarbeit mit den neuen polnischen Staatsbahnen PKP, die unverzichtbar war, da zahlreiche der durch die Grenzziehung durchtrennten Strecken nur in gemeinschaftlicher Arbeit funktionsfähig bleiben konnten. Am 19.8.1924 wurde Dorpmüller beauftragt, die Geschäfte des Präsidenten der Reichsbahndirektion Essen zu führen, zu deren Präsident er mit Wirkung vom 1.10.1924 ernannt wurde. In dieser Stellung - der Bezirk war ihm aus früherer Tätigkeit bereits vertraut - sollte er den infolge der französisch-belgischen Ruhrbesetzung stark beschädigten Bahnbetrieb im Industrierevier wieder auf Vordermann bringen. Aber auch in dieser Stellung blieb er nur neun Monate.
Fast zeitgleich mit der Ernennung Dorpmüllers zum Direktionspräsidenten in Essen war die Organisationsform der Reichsbahn grundlegend geändert worden, nachdem sie aufgrund des Londoner Abkommen vom 16.8.1924 (Dawes-Plan) vollständig aus der Reichsverwaltung ausgegliedert worden war und fortan den Namen Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft führte. Bei den Verhandlungen über die Umsetzung der neuen Organisationsform war Dorpmüller beteiligt. Als deutsche Gesellschaft war sie dem deutschen Recht unterworfen, aber sie entsprach keiner der im Handelsgesetzbuch vorgesehenen Gesellschaftsformen; sie wurde nicht in das Handelsregister eingetragen und war auch keine Aktiengesellschaft, denn es gab keine Gesellschafter. Die gesamten Stammaktien gehörten dem Deutschen Reich. Die Gesellschaft verfügte über kein Sachvermögen; das ganze bewegliche und unbewegliche Vermögen, das sie bewirtschaftete – Grundeigentum, Gebäude, Bahnstrecken, Fahrzeuge – gehörte nicht ihr, sondern dem Deutschen Reich. Sie besaß nur das Betriebsrecht an den Anlagewerten, bis die Reparationslasten abgetragen sein würden (im Gesetz war dafür der 31.12.1964 vorgesehen!). Organe der Gesellschaft waren der Verwaltungsrat als Aufsichts- und Kontrollorgan (in dem bis 1930 auch Vertreter der Reparationsgläubigerstaaten saßen) und der Vorstand, der aus dem Generaldirektor und die „Direktoren der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft“, die vom Verwaltungsrat zu bestellen waren. Die komplizierte Rechtstellung der DRG charakterisierte das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 19.3.1926 wie folgt: „Die Stellen der DRG sind mittelbare Reichsbehörden, die Reichsbahnbeamten mittelbare Reichsbeamte im staatsrechtlichen und strafrechtlichen Sinn.“
Erster Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft wurde Ende September 1924 der frühere preußische Minister für öffentliche Arbeiten und spätere Reichsverkehrsminister Rudolf Oeser (1858–1926). Zur Entlastung Oesers, der auch gesundheitlich angeschlagen war, beschloss der Verwaltungsrat in seiner 7. Sitzung vom 6.- 8.6.1925 die Berufung eines „Ständigen Stellvertreters des Generaldirektors“ und schlug Dorpmüller für diese Stellung vor. Die Reichsregierung stimmte in ihrer Sitzung am 25.6.1925 diesem Vorschlag zwar grundsätzlich zu, allerdings mit der Maßgabe, wie Reichskanzler Hans Luther es formulierte, „daß der zu bestellende Vizegeneraldirektor nicht nur nicht darauf rechnen könne, später einmal zum Generaldirektor der Reichsbahn bestellt zu werden, sondern daß gleich festgestellt werde, daß der Vizegeneraldirektor für den Posten des Generaldirektors überhaupt nicht in Betracht komme.“ Dorpmüller wurde hierauf durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1947–1934, Amtszeit 1925-1934) ernannt und trat seine Stelle am 3.7.1925 an, in dieser Eigenschaft hatte er den schwer kranken Generaldirektor Rudolf Oeser vermehrt zu vertreten. Bereits ein knappes Jahr später stellte sich die Frage der Nachfolge Oesers, der am 3.6.1926 gestorben war. Der (zufällig) vom 2.- 4. Juni in Berlin zu seiner 12. Sitzung versammelte Verwaltungsrat beschloss die Ernennung Dorpmüllers zum neuen Generaldirektor. Die Reichsregierung fühlte sich übergangen und weigerte sich am 4. Juni, der Ernennung zuzustimmen, obwohl die Wahl zum neuen Generaldirektor von der fachlichen Eignung her unstrittig war. Es folgte eine unerquickliche und langwierige Auseinandersetzung zwischen Reichsregierung und Verwaltungsrat, die im Oktober in einer „Vereinbarung zwischen der Reichsregierung und dem Verwaltungsrat der Reichsbahn-Gesellschaft über die Ernennung des Generaldirektors der Gesellschaft und die Teilnahme des Reichsverkehrsministers an den Sitzungen des Verwaltungsrats“ mündete. Hiernach vollzog Reichspräsident von Hindenburg die Ernennung des neuen Generaldirektors Dorpmüller am 19. Oktober. In dieser Stellung wurde er bis 1935 dann dreimal ohne weiteres wiedergewählt und im Amt bestätigt. In den fast zwei Jahrzehnten seines Wirkens hat Dorpmüller die Deutsche Reichsbahn zu einem einheitlichen Unternehmen ausgestaltet und ihre Geschicke in Friedens- und Kriegszeiten souverän gelenkt, daneben übernahm er 1933 die Leitung des Unternehmens „Reichsautobahnen“. Am 2.2.1937 wurde er, mit der Wiedereingliederung der Reichsbahn in die Staatsverwaltung, zum Reichsverkehrsminister ernannt und blieb in dieser Stellung zugleich Generaldirektor der nunmehrigen Deutschen Reichsbahn.
Nach Kriegsende 1945 hatten die alliierten Besatzer den 76-jährigen, schwer kranken Dorpmüller noch für die Reorganisation des deutschen Eisenbahnwesens ins Auge gefasst. Ehe er diese Aufgabe übernehmen konnte, starb er am 5.7.1945 in Malente-Gremsmühlen, wo er auch bestattet wurde; sein Grab wurde bis 1992 im Auftrag der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn gepflegt. Der Entnazifizierungs-Hauptausschuss für Lübeck stufte am 18.10.1949 Dorpmüller posthum in die Kategorie V (Entlastete) ein.
An der Spitze des größten Verkehrsunternehmens der Welt, das die Deutsche Reichsbahn tatsächlich war, musste Dorpmüller zahlreiche Herausforderungen bewältigen: Etwa die Vereinheitlichung des noch aus der Länderbahnzeit stammenden Fuhrparks (Stichwort Einheitslokomotiven) sowie die Rationalisierung, die Elektrifizierung des Streckennetzes, die „Gleichschaltung“ der Reichsbahn 1933, die Einbindung der Reichsbahn in den Bau der Reichsautobahnen sowie das Verhältnis von Eisenbahn und dem vom NS-Regime favorisierten Straßenverkehr, die erneute Verstaatlichung der Reichsbahn 1937, die Einbeziehung der 1938 und 1939 annektierten Gebiete (Österreich, Sudetenland, Danzig-Westpreußen, Warthegau) in den regulären Betrieb der Reichsbahn. An ihre Grenzen stieß die Reichsbahn während des Krieges, angesichts zunehmender Transportanforderungen seitens der Wehrmacht, als die kriegswirtschaftlichen Gegebenheiten den Bau etwa dringend benötigter Lokomotiven zunächst hemmte, bis nach der „Transportkrise“ des Winters 1942 unter massivem Druck Hitlers 15.000 Kriegslokomotiven in Auftrag gegeben werden konnten. Hinzu kam die Überdehnung des Betriebsgebiets, das sich zeitweise bis in die unendlichen Weiten der besetzten Gebiete Russlands erstreckte und die besonderen Anforderungen, die die extremen Witterungsverhältnisse im Osten stellten. Kurios, dass angesichts dieser Gegebenheiten noch Ressourcen verblieben, eine utopische Breitspurbahn zu planen, die helfen sollte, nach dem Krieg den Osten zu erschließen.
Ein dunkles Kapitel der Geschichte der Reichsbahn ist ihre Verstrickung in die Ermordung der europäischen Juden, die deren planmäßigen Transport in die Vernichtungslager ermöglichte, auch die explizit antisemitischen Maßnahmen des Reichsverkehrsministeriums und der Reichsbahn ab 1933. Durch den Bombenkrieg verschlechterten sich die Verhältnisse der Reichsbahn rapide, durch Zerstörung von Betriebsanlagen und Fahrzeugen.
Quellen
Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik: Die Kabinette Luther I und II (1925/26), bearb. von Karl-Heinz Minuth, Boppard 1977.
Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik: Die Kabinette Marx III und IV (1926-1928), bearb. von Günther Abramowski, Boppard 1988.
Literatur
Bock, Hans/Garrecht, Franz, Julius Dorpmüller. Ein Leben für die Eisenbahn. Biographie – Erinnerungen – Zeittendenzen, Pürgen 1998. [stark apologetisch]
Gottwaldt, Alfred, Dorpmüllers Reichsbahn. Die Ära des Reichsverkehrsministers Dorpmüller 1920–1945, Freiburg 2009.
Gottwaldt, Alfred/Schulle, Diana, „Juden ist die Benutzung von Speisewagen untersagt“. Die antijüdische Politik des Reichsverkehrsministeriums zwischen 1933 und 1945. Forschungsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin 2007.
Mierzejewski, Alfred C., The Most Valuable Asset of the Reich. A History of the German National Railway. 2 Bände, Chapel Hill/London 1999–2000.
Reichsbahn-Handbuch 1927. Bearb. in der Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft, Berlin [1927].
Strössenreuther, Hugo (Hg.), Eisenbahnen und Eisenbahner. Dokumentarische Enzyklopädie, 4 Bände [1920 bis 1940], Frankfurt a.M. 1968–1972.
Verzeichnis der oberen Reichsbahnbeamten 30. Jahrgang 1934, Berlin 1934; 35. Jahrgang 1939, Leipzig 1939; 40./41. Jahrgang 1944/45, Dresden 1944.
Online
Massute, Erwin, „Dorpmüller, Julius Heinrich“, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 84-85. [Online]
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Lilla, Joachim, Julius Dorpmüller, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/julius-dorpmueller-/DE-2086/lido/57c69733c78f98.64989265 (abgerufen am 05.12.2024)